Louis Spohr und die Bach-Renaissance 75 Am 1. April 1833 durfte Spohr schließlich an Prof. Wendt in Göttingen schreiben: „...Nächsten Freitag den 5ten dieses Nachmittags 3 1 / 2 Uhr wird endlich eine große, vollständige Aufführung der Bach’schen Passion in unserer Hofkirche stattfinden, und zwar ganz nach der Partitur mit doppeltem Orchester und vielfach besezten Flöten, Oboen usw. Der sehr gut eingeübte Chor wird auf jeder Seite aus wenigstens 70 Stimmen bestehen und da das Lokal sehr vortheilhaft ist, so hoffe ich auf eine grandiose Wirkung. Da Sie im vorigen Jahr die Absicht hatten, zu einer solchen Aufführung herüberzu kommen und da überdieß jezt Ferien sind, so darf ich mich wohl der Hoffnung hingeben, Sie hier zu sehen. — Zugleich bitte ich, die dortigen Musikfreunde (Hymli, Heinroth pp.) von unserer Aufführung gefälligst in Kenntniß zu setzen...“ 38 Über die Besetzung der Solopartien gibt das Repertorium Auskunft: „Soli: Frl. v. d. Malsburg, S. Pfeiffer, Baldewein, Richter, S. Hummel, Herren Schmelz, Föppel, Koch.“ Besprechungen dieser beiden Aufführungen sind weder in der Fachpresse noch in Lokalblättern erschienen. M. Hauptmann berichtete F. Hauser im nächsten Briefe: „...Unsere Aufführung der Passion war für die Umstände so übel nicht, und wenn man sie bald wieder geben könnte, würde sie recht gut gehen. Die Chöre gingen am besten, die Solosachen sind auch zu schwer für unsere Sänger, der Dilettanten noch zu geschwei- gen — ich wüßte außer Ihnen und Schelble doch auch keinen der so etwas gut vortragen könnte... Die Recitative des Evangelisten wurden nach Schelble’s Bearbeitung gesungen, die ich, wenn auch nicht in jeder Einzelheit, im Ganzen doch sehr billigen muß; wenn damit zugleich Mißbilligung der Bachschen ausgesprochen ist, so soll sie nicht dem individuellen Componisten S. Bach gelten...“ Spohr hielt - wie Briefe bezeugen - nichts von Bearbeitungen musikali scher Werke. Wenn er Schelbles „Retuschen“ auf Anraten Hauptmanns für Kassel akzeptierte, muß es gewichtige Gründe dafür gegeben haben. Heute best man ausschließlich Verdammungsurteile über die Bemühungen Mendelssohns, Schelbles u. a., die einzigartigen Kompositionen J. S. Bachs dem Publikum durch Bearbeitungen „gefälliger“ zu machen. Bei aller be rechtigten Kritik dürfen wir aber nicht außer acht lassen, daß die Bach- Renaissance ohne gewisse Zugeständnisse solcher Art gewiß noch stecken geblieben wäre. Weit davon entfernt, wie der vieles bekrittelnde M. Hauptmann lediglich in theoretischen Studien und Erörterungen Befriedung zu linden, bewies Spohr weiterhin durch praktische Arbeit sein Verantwortungsgefühl gegen über dem Erbe des Thomaskantors. Am 19. April 1836 berichtete er Wilhelm Speyer: 38 Johann Amadeus Wendt (1783-1836), Philosophieprof., musikal.-ästhetisch- kritischer Schriftsteller in Göttingen. Karl Gustav Himly (1772—1837), Prof., Augenarzt in Göttingen. Joh. Aug. Günther Heinroth (1780—1846), Komponist, Nachfolger Forkels als Universitätsmusikdirektor in Göttingen.