82 Herfried Homburg vatorium“ stellte sich Spohr bereitwillig als „Ehrendirigent“ zur Ver fügung 51 . Im Jahre 1851 dirigierte er noch einmal die Matthäus-Passion in Kassel. Das Werk, die langjährigen Mühen Spohrs und diese Aufführung erfuhren endlich eine öffentliche Würdigung. Von späteren Bachaufführungen kön nen wir auf Grund verschiedener Briefstellen nur Vermutungen hegen. Aus Briefen und zeitgenössischen Berichten wissen wir, daß Spohr in seinen letzten Lebensjahren jede Gelegenheit wahrnahm, um sich Kompo sitionen von J. S. Bach Vorsingen und -spielen zu lassen 52 . Selbst bei betont kritischer Betrachtung wird man aus den hier nach gewiesenen Fakten, den bis jetzt bekannten Daten und Zusammenhängen folgern müssen, daß Louis Spohr ein wesentlicher persönlicher Anteil am Werden der Bachbewegung im 19. Jahrhundert zukommt. Ihm ist es zu ver danken, daß C. F. Lueder seine ihm von J. N. Forkel vermittelten Bach- Kenntnisse nutzbringend weitergeben konnte. F. Hauser, M. Hauptmann u. a. empfingen von Lueder in Kassel ihre ersten wesentlichen Anregungen, sich mit dem Erbe J. S. Bachs zu beschäftigen. Louis Spohr griff diese Anregungen gleichfalls auf und setzte sie in die Praxis um. Er war es, der gleichzeitig neben Zelter, Schelble und Thibaut noch vor der Wieder aufführung der Matthäus-Passion in Berlin mit beachtenswerter Ziel strebigkeit Kompositionen des großen Thomaskantors aufführte, obwohl er dafür gegen die Ungunst der Kasseler Verhältnisse, gegen den Kur hessischen Hof und eine einflußreiche Opposition kämpfen mußte. Mit seiner Aufführungspraxis führte er der aufkeimenden Bachbewegung neue wertvolle Helfer zu. Der Einsatz Spohrs wird vollends offenbar, wenn man bedenkt, daß nach seiner letzten Aufführung der Matthäus-Passion zwei undzwanzig Jahre (!) vergingen, bevor sie in Kassel erneut erklang; hin gegen hatte Spohr das Werk in neunzehn Jahren fünfmal gegeben. Ihn be eindruckte seinem Wesen nach nicht nur die musikalische Substanz, son dern vor allem die schlichte, tiefe Religiosität der Bachwerke. Die Replik des jungen Nebelthau auf den Angriff Grosheims zeigt, daß Spohr und der mit ihm liierte Kreis die allumfassende, wirkliche Größe der Kunst Bachs nicht erfaßte, aber dies vermochte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keiner seiner Zeitgenossen; einige scheinen sie geahnt zu haben. Zu diesen müssen wir Louis Spohr zählen, denn er hat alles in seinen Kräften Stehende getan, um das künstlerische Erbe Johann Sebastian Bachs der Vergessen heit entreißen zu helfen. 51 Karl JohannChristian Kloß (1792-1853), Organist, Geiger, Pianist und Komponist. Friedrich Kühmstedt (1809—1858), Organist und Komponist in Eisenach, hatte 1846 Orgelkompositionen J. S. Bachs herausgegeben (mit S. W. Körner). Vgl. C. Freyse, Fünfzig Jahre Bachham, Eisenach 1958, S. 8 sowie die noch unveröffent lichten Briefe Kühmstedts an Spohr in der Kasseler Bibliothek. 52 Vgl. die Berichte Marianne Spohrs in der sog. Selbstbiographie, II, S. 243, 307, 322, 364 und 404.