Der Picander-Jahrgang* Von Klaus Häfner (Karlsruhe) Nach dem von Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Friedrich Agricola verfaßten Nekrolog, der 1754 in Mizlers „Musikalischer Bibliothek“ erschien, 1 hat Johann Sebastian Bach fünf Kantatenjahrgänge komponiert. Setzt man un ter Berücksichtigung der Leipziger Verhältnisse einen Jahrgang mit etwa 60 Kantaten an, so ergeben sich für fünf Jahrgänge rund 300 Einzelwerke. Erhal ten sind aber nur etwa 200 Kirchenkantaten Bachs, von denen die Werke für besondere, außerhalb des Kirchenjahres liegende Anlässe wie Ratswahl, Trau ungen usw. noch abzuziehen sind. Der verbleibende Rest entspricht etwas mehr als drei Fünfteln des einstigen Bestandes. Fast zwei ganze Jahrgänge müssen also als verloren gelten. Den Forschungen Alfred Dürrs und Georg von Dadelsens ist die Erkenntnis zu danken, daß die Mehrzahl der erhaltenen Kantaten den ersten drei, gleich nach Bachs Amtsantritt in Leipzig aufgeführten Jahrgängen angehört, daß so mit vorwiegend der vierte und fünfte Jahrgang von Verlusten betroffen wor den sind. Die wenigen Kantaten, die nicht den drei ersten Jahrgängen zuzu ordnen sind, lassen keine verbindlichen Angaben über das Aussehen des fünf ten Jahrgangs zu, legen aber immerhin die Vermutung nahe, daß der vierte Jahrgang auf die Texte Christian Friedrich Henrici-Picanders von 1728 kom poniert war. Ausgehend von dem Ergebnis der Untersuchungen Dürrs und von Dadelsens und der damit gegebenen Neuorientierung der Bachforschung auf dem Ge biet des Kantatenschaffens trug William H. Scheide in seinem Aufsatz „Ist Mizlers Bericht über Bachs Kantaten korrekt?“ 2 die These vor, daß Bach mög licherweise nicht fünf, sondern vielleicht vier oder sogar nur drei vollständige Kantatenjahrgänge komponiert habe, die Angabe bei Mizler demnach nicht unbedingt zuverlässig zu sein brauche. Alfred Dürr verteidigte mit der Stu die „Wieviele Kantatenjahrgänge hat Bach komponiert? Eine Entgegnung'‘ 3 die Glaubwürdigkeit der Angaben des Nekrologs und wies auf die Tatsache hin, daß bei allen Werkgruppen des Bachschen Schaffens mehr oder weniger erhebliche Verluste eingetreten sind, für die es im speziellen Fall der Kirchen kantaten eine Teilspur in den Picandertexten gibt. In einer Replik „Nochmals Mizlers Kantatenbericht - Eine Erwiderung“ 4 prä zisierte Scheide seine These weiter. Zusammengefaßt könnte sie etwa lauten: * Meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Siegfried Hermelink, zum 60. Geburtstag. 1 Bd. IV, Teil 1, S. ijSff. Vgl. Dok III, S. 80ff. 2 In: Mf 14, 1961, S. 60-63 [Sch IJ- 3 Ebenda, S. 192-195 [Dürr: Entgegnung], 4 Ebenda, S. 423-427 [Sch II]. Bedauerlicherweise betrachtete die Schriftleitung der Zeitschrift die in Gang gekommene Diskussion mit Veröffentlichung dieses Beitrages als abgeschlossen.