12 Stephan Blaut und Hans-Joachim Schulze eine Komposition, die bis zu dem (nur vorläufigen?) Verschwinden ihrer maßgeblichen Quelle am Ende des Zweiten Weltkriegs zwar verschiedentlich Anlaß zu einsamen Entscheidungen gegeben hat, die bis dahin jedoch nie Gegenstand ernsthaften wissenschaftlichen Diskurses war. Das Erscheinen der Erstausgabe 3 im Juni 2008 und die Vergabe einer neuen Nummer im Bach-Werke-Verzeichnis markieren diesbezüglich das vorläufige Ende einer ebenso merkwürdigen wie überflüssigen Odyssee. Daß einem versprengten Incipit - BWV Anh. 71 für das Wolfgang Schmieder wohl infolge der 1943 erfolgten Zerstörung nahezu aller Unterlagen seines Werkeverzeichnisses weder 1950 noch 1990 eine Quelle zu benennen wußte, 4 unerwartet eine veritable Komposition von nennenswertem Umfang und Gewicht zugeordnet werden konnte, ist mancherlei begünstigenden Um ständen zu danken, wobei auch Kommissar Zufall die Hand im Spiel hatte. Als wichtige Station auf diesem Wege erwies sich eine Mitte März 2008 in Leipzig durchgeführte Versteigerung, bei der ein Konvolut unterschiedlicher handschriftlicher Materialien aus dem Besitz beziehungsweise Nachlaß des einstigen Leipziger Thomaskantors Wilhelm Rust (1822-1892) den Besitzer wechselte. Glücklicher Erwerber war die Universitäts- und Landesbibliothek Halle (Saale), die ihrem Profil entsprechend auf einen Zugewinn an regional historischem Schriftgut gehofft hatte, das insbesondere die Tätigkeit von Wilhelm Rusts Großvater, dem Dessauer Komponisten und Musikdirektor Friedrich Wilhelm Rust (1739-1796), weiter zu erhellen versprach. Der Auf merksamkeit der beiden späteren Herausgeber ist es zu verdanken, daß bei der Durchsicht des Ankaufs eine weit wichtigere Entdeckung gelang: Wilhelm Rusts Abschrift nach einer Königsberger Vorlage, die die Choralfantasie „Wo Gott der Herr nicht bei uns hält“ als Werk Johann Sebastian Bachs über liefert. Verhältnismäßig unproblematisch war zunächst die Rückverfolgung der verschollenen, jedoch dank der Abschrift Wilhelm Rusts nun wenigstens ihrem Inhalt nach greifbaren Königsberger Quelle bis 1845, dem Jahr, in dem die Sammlung des ehemals in Halle und später in Schulpforta bei Naumburg/S. als Organist und Musikdirektor tätig gewesenen Johann Nikolaus Julius Kötschau (1788-1845) versteigert wurde. 5 Kötschau ist der Forschung seit 3 J. S. Bach. Choralfantasie für Orgel über Wo Gott der Herr nicht bei uns hält BWV 1128, hrsg. von S. Blaut und M. Pacholke, mit einem Vorwort von H.-J. Schulze. Beeskow 2008 (ortus organum 1). 4 Vgl. BJ 1992, S. 135, mit Hinweis auf die Verzeichnung durch C. H. Bitter (1880). 5 Vgl. Verzeichniss der Musikalien und Bücher aus dem Nachlasse des verstorbenen Musikdirectors Herrn Joh. Nie. Jul. Kötschau, welche am 12. August 1845 und den darauf folgenden Tagen ... öffentlich versteigert werden sollen, Naumburg 1845 (Exemplar: SBB, Dk 228 Mus ). Erster Hinweis auf den Zusammenhang von BWV Anh. 71 und der Sammlung Kötschau bei R. Emans (et al.), Johann Sebastian Bach.