178 Andreas Glöckner III Weil nurgemeldter neuer Director, Telemann, allererst in der Michael-Meße an kommen würde, so frage sich, wer interim und besonders am Michaelis-Tage die Pauliner Music bestellen solle? Die Übergangslösung war rasch gefunden: Es soll interim dem ehemaligen Olganico Paulino, nunmehro aber Organisten bey der Nicolai-Kirche, Gemem, aufgetragen werden, gestallt derselbe solches gerne über nehmen würde. 65 Da man Telemann bereits als einen „excellenten Musicus“ kannte, war seine Wahl im Konzil kaum mehr als eine Formsache. Bis zu seiner Ankunft sollte der vormalige Pauliner-Organist Johann Gottlieb Gömer die Figuralauffüh rungen in der Paulinerkirche interimistisch leiten. Die Mitglieder des Konzils waren sich allerdings einig, daß an der Personalunion von Thomaskantor und Akademischem Musikdirektor künftig nicht mehr festzuhalten sei; außerdem müsse der neugewählte Direktor selbst entscheiden, mit welchen Musikern er fortan musiziere. Da es dem Thomaskantor weiterhin untersagt war, die Pauliner-Gottesdienste mit den Alumnen und Ratsmusikem zu bestellen, woll te das Konzil keinen neuen Konflikt heraufbeschwören und das ohnehin gespannte Verhältnis zur Stadt nicht noch zusätzlich belasten. Jedenfalls hatte Telemann fest zugesichert, zu Michaelis (29. September) 1722 seine neuen Ämter in Leipzig zu übernehmen. Vielleicht war am 25. August 1722 im Festgottesdienst der Nikolaikirche seine Kantate „Der Herr ist König“ zur Ratswahl aufgeführt worden. 66 Erst Anfang November 1722 sagte Telemann kurzfristig ab, wodurch sich die Wiederbesetzung des Thomaskantorats und der Stelle des Akademischen Musikdirektors in die Länge zog. Nachdem Ende März 1723 die Nachricht durchsickerte, daß auch der Darmstädter Kapellmeister Christoph Graupner das Thomaskantorat nicht übernehmen könne, sahen sich die Universitäts behörden zum Handeln veranlaßt: Am 3. April 1723 - wenige Wochen vor Bachs Wahl zum Thomaskantor - wurde der Nikolai-Organist Johann Gottlieb Gömer, der „in seiner Music gar geschickt sey, und sich biß anhero in der Pauliner Kirche, in welcher er die Musiqven frey willig ohne was davor zu 65 UAL. Rep. 11 XVII 127, fol. 58v-59r (auszugsweise wiedergegeben bei B. F. Rich ter, Joli. Seh. Bach und die Universität zu Leipzig, in: MfM 33, 1901, S. 101-110. hier S. 102; siehe auch BJ 1925, S. 3). und Rep. I I XV7 I I 30. fol. 18r— 19r. - Zu Telemanns Berufung nach Leipzig siehe auch E. Kroker, Bachs Berufung in das Kantorat der Thomasschule, in: Kroker, Aufsätze zur Stadtgeschichte Leipzigs, Leipzig 1929. S. 137-148, speziell S. 138-139. 66 Vgl. A. Glöckner, Eine verstümmelt überlieferte Telemann-Kantate im Aufführungs repertoire J. S. Bachs, BJ 1998, S. 83-92, insbesondere S. 89.