„Wo Gott der Herr nicht bei uns hält“ BWV 1128 21 11. Form und Aufbau der Choralfantasie BWV 1128 In Johann Sebastian Bachs Orgelmusik war die Gattung der Choralfantasie bislang nur durch „Christ lag in Todesbanden" BWV 718 vertreten. Daß Bach Musterbeispiele der norddeutschen Choralfantasie seit früher Jugend kannte, belegen die 2005 von Michael Maul und Peter Wollny in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu Weimar entdeckten Orgeltabulaturen. 20 Unter diesen befinden sich von Bach vermutlich 1698/99 und 1700 angefertigte Abschrif ten zweier bedeutender Choralfantasien: 1. „Nun freut euch, lieben Christen gmein” BuxWV 210 (die Abschrift ist nur fragmentarisch erhalten) von Diet rich Buxtehude (1637-1707) und 2. „An Wasserflüssen Babylon“ von Johann Adam Reincken (1643-1722). Das Wissen um diese Quellen wird nun be reichert durch die wiedergefundene anspruchsvolle Choralfantasie „Wo Gott der Herr nicht bei uns hält" BWV 1128. die nicht nur Bachs Kenntnis der norddeutschen Orgelmusik mehr als deutlich unter Beweis stellt, sondern zugleich als Beispiel seiner frühen kompositorischen Meisterschaft gelten darf. Wie in der norddeutschen Choralfantasie, so sind auch in BWV 1128 Form, Struktur und Ablauf durch die einzelnen Zeilen des Chorals festgelegt. 21 Sie erscheinen in der durch die Melodie vorgegebenen Reihenfolge nacheinander und in jeweils wechselnden Stimmen. 22 Kadenzen, die durch drei- oder vier malige Wiederholung klar hervortreten, gliedern die Fantasie in vier Teile (siehe Tabelle 2). Teil IV endet ohne Kadenz und ist übergangslos mit einer Coda (Teil V. „toccatischer Schluß") verzahnt. Die jeweils im Stil eines Bici- niums beginnenden Anfänge der Teile I, III und IV untermauern die in Tabelle 2 vorgeschlagene Gliederung. Im Gegensatz zu Teil II, III und IV, wo jeweils nur eine Zeile aus dem Ab gesang behandelt wird, sind in Teil I gleich alle vier Zeilen des Aufgesangs Gegenstand der kompositorischen Arbeit (siehe Tabelle 3). Der zu Beginn der Fantasie relativ leicht identifizierbare Melodieanfang (bedingt durch die Barform von „Wo Gott der Herr") leitete die Hörer zum sicheren Erkennen 20 Weimarer Orgeltabulatur. Die frühesten Notenhandschriften Johann Sebastian Bachs sowie Abschriften seines Schülers Johann Martin Schubart, Vorwort und Übertragung, hrsg. von M. Maul und P. Wollny (Faksimile-Reihe Bachscher Werke und Schriftstücke, Neue Folge, Bd. III; zugleich Documenta Musicologica, 2. Reihe, Bd. XXXIX), Kassel 2007. 21 Grundlage der folgenden Analyse ist die in Fußnote 3 genannte Erstausgabe der Fantasie. 22 Zur leichteren Identifizierung der im Text beschriebenen Stellen wurden die Stim men - unabhängig von ihrer tatsächlichen Lage - als Sopran, Alt, Tenor. Baß bezeichnet, auch wenn in BWV 1128 von einem klassischen vierstimmigen Satz nicht die Rede sein kann.