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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 25.09.1888
- Erscheinungsdatum
- 1888-09-25
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-188809256
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18880925
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18880925
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1888
- Monat1888-09
- Tag1888-09-25
- Monat1888-09
- Jahr1888
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 25.09.1888
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Echt Beilage M Leipziger Tageblatt und Anzeigen 269. Dienstag den 25. September 1888. 82. Jahrgang. Der gute voclor. Erzählung von I. Isenbeck. NachdniL »erbeira. lFortsetzung.) Die Gräfin hatte bi- dahin ebne Unterbrechung erzählt; nun mutzte sie aber doch innehaltcn. um neue Kräfte zu sammeln. Willen sah sie mit einiger Besorgnitz an; wie um ihr Zeit zu einer Erholung zu geben, stand'er aus und ging in dem Zimmer aus und ab. Als er sich dann wieder niedcr- sctzte. sagte er: „E- wäre mehr als Selbstverleugnung, e- wäre rin Heroismus der Tugend gewesen, wenn' Sie hätten verzeihen und vergessen können. WaS die Frclu Brand anbelangt — ich will reinen Mensche» schlecht machen, aber bei der kann man doch sagen: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, und Art lätzt nicht von Art!" Nach einer weiteren Paus« fuhr er sort: „Wenn Sie der Frau Brand und ihrer Tante trohdem eine Zuwendung machen, so erhalten diese in der Thal mehr, als sie verdienen DaS Geld fällt ja aber doch einmal der Justrane zu!" „Die wieder ihrer Mutter ähnlich ist", warf di« Gräfin ein. „Ja. ja. Folge der Erziehung. Bcrerbung geistiger Anlagen, gewiß! Für die Sünden der Großmutter darf sie aber koch nicht verantwortlich gemacht werden. Wie war eS aber mit Ihrem Sohn, Frau Gräfin?" Frau v. Wolsscck seufzte tics aus und fuhr dann in ihrer Erzählung fort: „Ich habe Ihnen schon gesagt, wann und wie ich zur Er- kenntniß kam. Bon dem Tage an, da man mir den Gatten mit dem Tode ringend brachte, dabe ich nur ihm gelebt. Ich brach allen Verkehr ab. der Zustand Wolseeck'S gab mir in den Augen der Welt Grund genug dazu. Nur einem kleinen Kreise vertrauter Freunde war unser HauS noch offen. Die schönsten Stunden waren mir aber die, welche ich in un gestörtem Beisammensein, allein mit meinem Gatten verleben konnte. WaS ich srüker vermieden, das schien inir nun da- Köstlichste und BegchrcnSwertheste. Ich wachte mit der Eifersucht einer jungen Liebe darüber, daß keine Hand reichung, die ich thun konnte, dem Kraftlosen von Fremden geleistet wurde. WaS meines Mannes Diener, der alte Friedrich — Sie kennen ja die treue Seele — für seines Herrn Bequemlichkeit und Pflege aussührte, das schon erschien mir wie ein Eingriff in meine Reckte. Und mit welchem Ucbermnß von Liebe hat mir mein Gatte gelohnt, was ich nur in Erfüllung meiner Pflicht that, die mir so süß und leicht geworben! Unsere gegenseitige Liebe floß zusammen i:> der Liebe zu unserm Sohn, m dem ich daö verjüngte Ab bild seines VaterS sah. Dieser zeigte in feiner Liebe zu dem einzigen Sohne etwas wie von Verehrung, was Ihnen um so mehr paradox klingen mag. da er in der Erziehung strenge war. Ihm war aber der körperlich schöne und kräftige, geistig so reich beanlagte Knabe mehr als nur fein Sohn Er war ihm der Erbe seines edlen NamenS, daS frische Reis, durch das der alte fast entlaubte Stamm seine- Geschlecht- zu neuer Aiüthe kommen sollte. Alle Hoffnungen wurden auch in reichstem Maße erfüllt. Als mein Mann starb, da nahm er die Ucberzeugung mit sich, daß der nun Zwanzigjährige, der einzige WolfSeck, ritter lich und adlig denke, mit jeder Faser seine- Scinü die Pflichten seine- Standes stets für wichtiger ballen werde, als die Neckte, die derselbe giebt. Von meinem Wittwenscbmerz laste» Sie mich schweigen, wie eine Verklärung legt« sich über denselben daö Bewußtsein, daß ich «inS mit dem Gatten war über Grab und Tob hinaus. Alle». Brauch in der Familie WolfSeck gemäß war auch mein Sohn schon früh in das fürstliche Heer eingetretcn. Er schien zu den höchsten Ehrcnstellen. zu Allem, waS ein Menschenleben glücklich und beneidcnswertb machen kan», präde- stinirt. Wohl nie halte e- Jemand weniger nöthig als er, aus die Rechte, die Geburt und Stand geben, sich zu stütze». Durch seine Kenntnisse und Fähigkeiten allein konnte er Alles erreichen, wie er sich durch seine gcsellschasll,che» Talente, durch seinen Charakter und durch seine männliche Köiperschöne die Herzen Aller im Fluge eroberte. Die Pflichten seinem Stande, die Pflichten seinem Namen gegenüber waren ihm heilig. Er war ein echter Ritter ebne Furcht und Tadel. Sehen Sie sich das Bild im rothen Salon an. Toctor, das Ihr Freund Gronau gemalt hat. DaS ist mein Sohn, wie er leibt und lebt. Bis zum Närriscbwerdcn habe ich ihn geliebt, ich habe ihn vergöttert, ich lebte und zehrte von dem Auschauen meines Kindes. Aber Gott hat mich schwer genug dafür gestraft — alle Qualen der Hölle könne» nichts sein im Vergleich zu Dem, waS ich erduldet und gelitten habe. Mit eigner Hand trieb ich mein Kind in den Tod — sein letzter Seufzer war rin Fluch über die hartherzige Mutter!" Die Gräfin stöhnte ties aus. Ihre Brust rang nach Athem. Willen wollte ihr beispringen, sie vom Weitcrreden abbaltcn. Die alte Dame deutete aber mit einem schmerzlichen Lächeln aus seinen Stuhl und bat: „Lasten Sie mich doch, Doctor! Mir wird leichter werden, wenn ich Ihnen Alles gesägt habe. Ich bin bald zu Ende uzit meiner Geschichte. — Man sagt wohl, der Schleier der Zukunst sei weniger dicht sür die Mütter. Dann muß ich blind gewesen sein. Ich glaubte, das Glück meine- Sohnes zu befestigen und zu mehren, wenn ich eine'Frau sür ihn nur in den ersten Familien des Landes suchte. Hätte er selbst die Hand einer Prinzessin von Geblüt gefordert, ich würde ihn in seinem Vorhaben bestärkt haben. Können Sie mir uach- süblen, was ich fühlte, al« er, der Graf von WolfSeck. der Enkel des ReichSarasen von Dornburg, mir eines Tage- gestand, ratz sein Herz schon eine Wahl getroffen, als er. der noch nie ein Geheimniß vor seiner Mutier gehabt batte, mir offenbarte, daß er schon vor einem Jahr» daS Berlbbniß eine» Mädchens angenommen, ihm seine Hand verpfändet hatte. Und zu diesem Bündniß verlangte er meine Zustimmung, er forderte von mir, daß ich als meine Schwiegertochter eine armselige Näherin anerkennen sollte, eine Person, die sür Lohn von HauS zu Hau» arbeiten ging. Mein ganzer Stolz bäumte sich aus. Ich bat meinen Sohn, ich jbeschwor ihn bei dem Andenken an seinen Vater, von dem thörichten, wahn witzigen Gedanken abzulassen. Ich führte ihm seinen Groß- oheiu» und besten Mißheirath als abschreckendes Beispiel vor Augen. Kein Bitten, kein Flehen hals. Mein Sohn bebarrte bei seinem Entschluß. „Ein WolfSeck bricht nie sein Wort", sagte er. Da drohte ich ihm mit meinem Fluch, mit dem Fluch seine» VaterS, besten Ruhe im Grabe er störe, besten Namen er schände. „Gehe bi» nnd überzeuge Dick, sieh meine Braut nur einmal, und Du wirst sagen, daß sie Werth ist, eine Fürstenkrone zu tragen." Das war Alle», wa» er meinen Bitten, meinen Drohungen entgegeustellte. Von dem Tage an standen wir unS wie fremd gegenüber. Oft genug wollte mich die Kraft, Karl und kalt zu scheinen, verlassen. Ick fürchtete, daß der Schrei meinen Lippen wider Willen entfahren könnte: Nenue mir den Namen Deiner Geliebten — ich will sie Dir selbst al» Deine Braut zusühren, nur zieh mir Deine Liebe und damit mein Lebe« wieder! Nächte laug habe ich aus meinen Knieen gelegen und Gott um Ausdauer in dem schweren Kamps gebeten, den ich mit mir selbst und mit meinem Sohne kämpfte. Glaubte ich doch recht zu thun, wenn ich mich dieser unwürdigen Verbindung widersetzte — glaubte ich doch stets, wenn ich weich wurde, die Stimme meine« Gemahl« zu hören, di« mir lurief, daß Kdel verpflicht«! Aus seinen Antrag wurde mein Sohn bald darauf zu einem andern Regiment versetzt; selten nur besuchte er mich in der Residenz, wohin er nur dann kam, wenn ihn eine Einladung zu Hose ries. Ein Jahr später nahm er seinen Abschied und theilte mir als seinen unabänderlichen Entschluß mit, daß er mich ganz verlassen und in eine kleine Stadt am Rhein übcrsiedeln werk«, wenn ich noch immer meine Ein» willigung zu seiner Heiralh mit der Näherin versage. Die konnte und wollte ich jetzt weniger geben denn je. Ich fühlte nur noch einen unsäglichen Haß gegen daS nur unbekannte Weib, daS eS meine,» Sohne so angethan, daS ihn Mutter liebe und Mutterfluch, seine Stellung und Würde sür nicht- achten ließ. Den Abend vor seiner Abreise ging mein Sohn zu Hose, zum letzten Mal, wie er sagte. Mit seiner glänzen den Uniform, niit seinen Orden geschmückt, erschien er mir noch schöner durch den tiefen Ernst, der aus seinen Zügen lag — mein Hochmulh, »icin Stolz wurde dadurch nur ge nährt, ich glaubte, Gott selbst zu beleidigen, wenn ich die Hand dazu bieten würde, daß dieses Meisterwerk seiner Schöpfung mit einem ties unter ibi» stehenden Wesen sich verbinde. Am nächste» Tage konnte mein Sohn doch nicht abrcise», er klagte über Schwäche und Schmerze» i»> Kopse. Ich frohlockte im Stillen, sah Gottes Finger in der Erkrankung, die ich sür ungcjährlich kielt. Aber schon am Abend lag er im hitzigste» Fieber, ohne Besinnung; vie Aerzte befürchteten daS Schlimmste. In seinen wirren Phantasien sprach er von seiner Frau und ries sie mit den süßesten Namen, die mir daS Herz zerfleischten. Wenn seine Besinnung aus Momente wieverkehrle, so verlangte er von mir. daß ich seine Braut benachrichtige», sie holen lasten solle. Er nannte mir ihren Namen, ihren Wohnort. Aber ich ließ die Bitte imgehört verhallen, bis wieder neue Delirien seine» Geist umhüllten. Nack vrei Tagen war jede- Hoffen aus Genesung vabin, mein Sohn rang mit dem Tove. Bei dem letzte» Äufflackern sein LebenSlicblcS kam ihm noch ein mal das Bewnßifein zurück. Zu schwach schon, um »ocd laut zu sprccheu, winkle er mir, dicht an ihn heranzutretc». Seine seuchlkalte Hand umklammerte meinen Arm, ich beugte mich über ih», ui» sein letztes Lebewohl zu vernehmen. — „Fluch über Dick, Mutter!" — gellte eS in mein Obr — „Fluch über Dich, die Du mich sterben läßt, ohne daß ich sie noch einmal gesehen habe!" — Er wollte »och weiter sprechen, aber nur ein unverständliche- Röcheln Hörle ick. seine Hand löste sich von meinem Arm. Ich merkte nicht, daß ich zu einem Tobten sprach, ich wußte nickt, daß ich einen Todten anflehte, mir zu sagen, wo ich sie finden könne, nach der er sich lehnte. AtS er auf keine Frage mehr Antwort gab, als man mich von der Leiche gewaltsam entfernte, da brach ick nicht etwa ohnmächtig zusammen, ich weinte auch nicht — die Erleichterung meines Jammers durch Thränen war mir versagt. Aber immer, bei Tage und bei Nacht, schlafend und wachend, sah ich daS gebrochene Auge meines KinveS, hörte ick, wie die balbgeöfsneten. verzerrten Lippen ihr furchtbares „Fluch über Dich, Mutter!" riesen. Selbst beten konnte ich nickt mehr — auch der Himmel deuchte mir durch den Fluch verschlossen. Einem Mörder muß es eine Wohlthat sein, wenn er sein Haupt zur Sübne aus den Nichtblock legen kann. Er kann aus Erbarme» deS ewige» Richter» hoffe», wenn die irdische Straf- a» ihm vollzogen ist. Ueber mein Verbrechen konnte kein Gericht urtheilen, der Morv, den ich begangen, kann nur von Galt bestraft werden. Gemordet habe ich meinen Sohn — hätte ich seine Bitte erfüllt, so würde ihm mit der Stillung seiner Sehnsucht auch Ruhe und Genesung ge worden sein! Begreifen Sic daS Furchtbare, daS Dämonische im Menschen- lcrzen, Doctor, daß ick trotz meiner Neue doch nie versucht habe, an Der, die mein Sohn seine Braut nannte, wiever gut zu mache», was ich an ibm verschulvet? Ich habe ihr nie nachgesorscht, »nv wenn ich jetzt will, so wirb eS ohne Erfolg bleiben, da ich keinen Anhalt habe. Ich wollte mich selbst strafen! Neunzehn Jahre sind seit dem Tode meines Kinde« vergangen. So la»ae habe ich wie ei» Sträfling im Zuchihause gelebt. Nack Malfeld zog es mich, weil ich glaube, Laß mein Sohn hier in dieser Gegend sich seinen Wohnsitz erwählt hatte. — Ihnen, Doctor, und Ihrem Mündet banke ich es, baß ich nun einsehe, wie falsch mein Sinne» und Trachte» war. Nicht Lurch Selbst kasteiung kan» ick den Manen de- Tobten opfern! Hielt ich früher die Pflichten des Abelö hoch» höher als bas Glück meines Kindes, so will ich von nun ab, solange mir Gott noch Zeit giebt, de» Pflichten gegen meine Mitmenschen leben. In dem Egoismus meines Schmerzes war ich bart »nd sühl- loS für die Leiden Anderer, und so habe ich auch Sic durch meine Abweisung gekränkt, als Sie sür die armen Waise» bei mir baten. Sie sollen mich nickt mehr beschämen, Doctor! Aber helfen, ralhen Sie mir auch weiter!" Die Gräfin reichte Wilken die Hand; sie fühlte, wie die seine heftig bebte. „Der Name Ihre- Sohne-?" fragte der Doclor hastig; auch seine Stimme bebte. „Nannte ich den noch nicht? — Mein Sohn hieß, wie sei» Vater, Hans Heinrich." „Sic sagten, daß'Ihr Sobn vor achtzehn Jahren starb. Wie alt mar er bei seinem Tode?" fragte Willen mit wach sender Erregung weiter. „Sechsundzwaiizig Jahre. Aber wesba'.b diese» Forschen, Doctor, haben Sie etwas von meinem Sohne in Erfahrung gekrackt, wovon ich noch nichts weiß? Oder haben Sie eine Spur deS Mädchens entdeckt, das ihm so theucr war?" „Ja — ja und »och viel mehr! Ader nur Gutes, nur Freudiges ist cs, waS ich Ihnen mitlheilen kann. — Ick — ich hoffe wenigstens, daß e-Ihnen Freude machen wirb! Nur ausregcn dürfen Sie sich nicht. Frau Gräfin!" Willen griff nach dem Pul- der alten Dame. „Ick gebe guten Rath, und e» thut noth, daß ich selbst ihn zuerst befolge", murmelt« «r unwillig und fuhr dann lauter fort: „Ihr Sohn hat während der Krankheit nach seiner Frau verlangt — sagten Sie nicht so, Hrau Gräfin?" „Ja, aber daraus ist keinerlei Gewicht zu legen — nur in der Fieberhitze sprach er sol" „Gerade dann sprach er wahr, weil er nicht wußte, daß er sein Geheimnis; auSplauderte. Ihr Sohn batte sich vcr- heirathel, die Näherin zu seiner Frau gemacht!" Frau v. WolfSeck saß ausreckt in ihrem Sessel, ihre Augen hingen wie gebannt an den Lippen de» Arzte». Langsam jedes einzelne Wort beloncnd, fragte sie: „Lebt meine» SohneS Weib, meine — Schwiegertochter noch?" „Nein — sie starb, hier in Maiseld, bei ihrer verheiratheten Schwester, wenige Tage, nachdem sie einem Kinde, einem Mädchen, daS Leben gegeben hatte. Dieses Kind —" „Ist Marie Müllerl" fiel die Gräfin ei». „Gott sei Dank, daß Sie da- Wort ausgesprochen haben. Ich sürchlete wirklich, daß ich bei meiner Ungeschicklichkeit wieder mit der Thür in- HauS fallen könne." „Und da» würde mir geschadet haben? Ohne Sorge, Doctor. Wer so vielen Stürmen widerstanden hat, der kann auch eine» unerwarteten Sonnenstrahl ertragen. Schmerz und Kummer haben mich nicht ganz überwunden — sollte mich nun dir Freude lösten? Ich bin auch nicht erstaunt. Gotte» Wege und Führungen sind wunderbare, sagten Sie ja auch. Und serner, hat uicht schon die Stimme de» Blute« gesprochen? War ich nickt de« festen Glauben«, in Ihrem Mündel «io« Verwandte, die Urenkelin eine« WolsSeck zu sehen, al« ich meine Pflegerin für die Tochter der Brand hielt?" Witken beantwortete die Fragen nur mit einem bei stimmenden Nicken, zog die Papiere au« der Tasche und breitete einen Thefl derselben auseinander. „DaS Wichtigste ist die Beweisführung über Marien« Abstammung. Sie sebcn hier den Trauschein der Eltern. Danach hat sich Ihr Sohn ungefähr ein halbe- Jahr vor seinem Tove unter dem einfachen Namen Han» Heinrich mit Jungfrau Sophia Stridde in einer Dorfkirche nahe bei der Hauptstadt ehelich verbinden lassen. AIS Zeugen bei der Trauung sind ei» Graf Viereck und ein Baron v. Boyen ge nannt. Dann haben wir bier verschiedene Briese, deren äußere Adresse „An Frau Sophia Heinrich, geborene Stridde" lautet; einer derselben trägt aber am Kops noch den Ber» merk: „An die hohe und edle Dame, die Frau Gräfin von WolsSeck" und die Unterschrift: „HanS Heinrich, Gras von WolfSeck". Der Inhalt der Briese giebt AnSkunst darüber, weshalb die junge Frau in Maiseld bei ihrer verheiratheten Schwester sich aushalten muß. Anck> von Ihnen, Fron Gräfin, ist die stiebe. Zwei Zeilungsblätter liegen bei; da- eine bringt die ToveSanzcige, da- andere die Beschreibung deS Begräbnisses JbreS SohneS. Drei Monate jünger als da» Dalum dieser Zeitungen ist der Taufschein der Marie Hein rich. Daß diese und unsere Marie Müller identisch sind, geht auS einer Notiz hervor, die von der Hand deS Ehe mannes der jüngst verstorbenen Wittwe Müller in die HauS- bibcl eingrzcichnet ist. Auch kan» ich eidlich erhärten, daß die Wittwe Müller sterbend die Marie als ihrer Schwester Kind bezeichnet und aus diese vorliegenden Papiere ver wiesen hat." „Wozu noch weitere Beweise?" fragte die Gräfin mit unerschütterlicher Ruhe. „Der beste Beweis, daß Marie Müller die echte Gräfin WolsSeck, meine Enkelin, ist, der steht ihr aus dem Gesicht geschrieben. Bchauplen Sie noch, daß die Natur nur gespielt bat. wenn wir Aehntickkeilen sahen, Dccior? — Bitte, gehen Sie jetzt zu Marie, sagen Sie ihr auf die Art, die Sie sür die beste halten, WaS sie wissen nnd ersahren muß. Dann bringen Sie mir meine Enkelin, die ich auS Ihrer Hand wie ein Geschenk Gottes empfangen will!" Frau v. WolsScck nahm einen der Briefe, die ihr längst verstorbener Sohn an seine Gattin geschrieben hatte; sie wollte denselben lesen, ober schon daS erste Wort, der erste Zug der ihr so wohlbekannten Handschrift fesselten ihre Augen, wurden sür sie zu einer Quelle von Gedanken. DaS ver gilbte Blatt, aus dem neben de» Spuren lange getrockneter Thränen srische Tropfen glänzten, entsank der Greisin Hand, die krampsbast dann sich aus das Herz preßte, dessen stürmisch laute Schläge keine WillenSkrast hemme» konnte. Angstvoll starrte sic dabei aus die Thür, borchte sie auf jedes Geräusch, die Minuten zählend, die im bangen Harren lang wie Stunden wurden. Jetzt öffnete sich die Thür, langsam und geräuschlos; hoch ausgerichlel trat Marie über die Schwelle. Die Gräfin hatte die Arme weit auSgebreitet. wie ein Sonnenschein von Freude und Glück lag eS auf ihrem Ge sichte. Jubelnd und doch von unterdrücktem Schluchzen fast erstickt ries sie: „Marie — Kind meines Kinde- — Du Ebenbild meines SohneS — komm an mein Herz!" DaS junge Mädchen war an der Thür stehen geblieben. Sein Gesicht war bleich, »in die fest geschlossenen Lippen hatte sich wieder der derbe, stolze Zug gelegt. „Marie!" rief die Gräfin; zweifelnd, klagend, bittend klang jetzt ihre Stimme. Die Angeredete hob abwebrend die Hand. „Wir niüsseii u»S fremd bleiben. Frau Gräfin!" sagte sie tonlos, aber bestimmt „Ich bi» eine arme Näherin, wie e« meine Mutter war. Niemals nehme ich als ein Gnaden geschenk von Ihnen an, wa« Sie in Ihrem Adelsstolz meiner armen Mutter »ichl gewähren wollten!" Die alte Dame hatte sich von ihrem Sessel erhoben. Sie trat de», jungen Mädchen einen Schritt näher, der Blick, den sie ans dasselbe richtete, war fest und durchdringend. „Willst Tu strenger richten alS Gott? Willst Du mir, einer Greisin, die den. Grabe nahe genug ist, noch Bvrwürse macken?" fragte sie. Marie bewegte verneinend den Kopf. „Wir Beide baden nichts miteinander gemein, nun noch weniger als vorher", sagte sie. „Lassen Sie mich meinen eigne» Weg durckS Leben geben — ich hosse —" „Halt ein, Kind", unterbrach die Gräfin daS junge Märchen, ihre Stimme wurde weich und bittend. „Nimm mir iüchl Len Trost, die Freude sür meinen LebenSrest! Wen» Du mich noch nickt lieben kannst, so dulde doch ineme Liebe. Weißt Du, was ich gelitten habe? Weißt Du, unter welchen SchicksalS'chlägen ich bart würbe, daß ich nicht anders handeln konnte, als wie ich gehandelt habe?" „Ich weiß Alles! Ich weiß auch, daß der Schatten meines VaterS zwischen un» treten würde, wen» ich jemals vergeben uns vergessen könnte, was Sie, Frau Gräfin, an meinen Eltern verbrochen haben!" Ein jammernder, klagender AuSruf zitterte durch das Gemach und schien ein Echo zu wecken, daS in leisem Stöhnen nachballte. Die alte Dame batte keine Worte mehr für ibren Schmerz. Wankend ging sie jetzt aus Marie z», die Augen immer »och bittend, flehend auf bas herbe, stolze G-'sicht derselben gerichtet. Dicht vor dem jungen Mädchen sank die Greisin in die Knie. Mit zitternder Hand löste sic da« schwarze Schleier luch von ihrem Haupte, so daß die silberglänzenden Haare Wie ein Büßerkleid sic umhüllten. „Ich lasse Dick nicht! Zu Deinen Füßen bitte ich die verklärten Geister Deiner Ellern, mir zu vergeben und zu verzeihe». Ick lasse Dick nickt! Zu Deinen Füße» flehe ich Dich an, nimm Du den Fluch vo» mir, den Dein Vater sterbend aus mich gelegt. Laß mich Dich lieben, damit Du mir zum Segen wirst!" Verwirrt, mit einem ängstlichen Erstaunen sah Marie auf die ehrwürdige und doch so bedauernSwerthe Gestalt der ihre Kniee umklammernden Greisin. Ein Bcben, ein Zittern erschütterte ihren Körper und ihre Seele. Nun löste sich auch die Spannung i» ihren Zügen, Thränen umflorten ihre Augen. Laut aufweinenv kniete sie neben der Großmutter nieder, vie ihren ersten Kuß wie ein Zeichen der Versöhnung mit den Todten empfing und dann dce Enkelin mit einem Jubellaut, nun vor Wonne weinend, in die Arme schloß. XI. Eapitel. Früher als sonst kam der Winter inS Land. Die hohen Giebeldächer der alten Malfelder Häuser hatten sich große, s weißflockige Schlafkappe» ausgesetzt und sahen unter denselben noch gcmüthlicher unv behaglicher auS. Aus Lei» Marktplatz tummelte sich lr«tz der Kälte der Nachwuchs der ehrsamen Bürgerschaft, hier au« dem fügsamen Schnee groteske Figuren bildend, dort die glänzende Masse zu Wurfgeschossen formend und benutzend, an andern Stellen, fick nieverlegend, in die weiche Deck« einen Abdruck ihrer rundlichen Körper prägend. Die jugendlichen Gefickter glühten blauroth, mußten die erstarrenden Hände auch oft durch Hauchen und Reiben wieder geschmeidig geniacht werdeu. di« Lust an den Winter» sreuden wurde dadurch nicht gedämpft, der laute Jubel nicht vermindert. „Der Doctor kommt!" rief da «irder «ine, au« de, heiteren Schaar, und alle eilten dem kleinen Herrn entgegen, der wie immer im kurzen braunen Nvckchen, nur den Hals durch ein hellrotheS wollene- Tuch gegen die Kälte geschützt und eine alte Pelzmütze auf dem Kops, über den Marktplatz schritt. An seiner Seite gingen Han» und Lene. Beide i» ei», fache, aber wärmende Mäntel gekleidet. Ein letzter, verspäteter Schneeball flog durch die Lust und traf des DoctorS Kops die nur lose zusammengedrückte Kugel überschüttete Mütze, Gesicht und Bart de» Manne« mit zarten Flocken. Einei» Moment waren all die Kleinen still geworden. Aller Augen wendeten sich nach dem Missethäter hin. AlS sie bann aber daS scherzhafte Knurren de« KinversreundeS hörten »nd sahen, wie er prustend den Schnee abschüttelte, da brach der Jubel von Neuen, lo». „Der Doctor muß mit schneedallen! — Onkel Wilken muß uns einen Schneemann machen!" hieß eS von allen Seiten. „Heute nicht", wehrte der Doctor ab,'-.„später, wenn der Scknee besser zusamnirnhält. Jetzt habe ich auch keine Zeit. Der HanS und die Lene sollen zu der Frau Gräfin kommen, ich muß sie hinbringen. Aber lärmt und tobt nicht so, ihr Stangen. Nur wer artig ist, bekommt zu Weihnachten be- scheert. Die gute Gräfin hat mir schon gesagt, daß alle fleißigen und artigen Kinder am Weihnachtsabend von ihr geladen werden. DaS merkt euch!" Wilken faßte wieder die Hand deS blinden HanS und ging mit ihm und Lene weiter. In dem rothen Salon faß die Gräfin WolfSeck mit ihrer Enkelin Marie. Ein prasselndes Feuer in dem hohen Marmor kamin und duftende Blumengrrippen vor den Spiegelscheiben der beiden Fenster ließen vergessen, daß draußen der Winker mit Schnee und Kälte seine Herrschaft angetreten hatte. DaS Gemach hatte sein ganzes Aussehen verändert. ES zeigte nicht mehr die starre, düstere Pracht, sondern wohnliche Be- haglichkeit; auf einem der kleinen Tische lagen weibliche Hand arbeiten. aus einem anderen Bücher und Zeitschriften. Auch die alte Dame, die Herrin deS Hause-, war in ihrem Aeußercn eine andere geworden. Statt deS an Grab und Tod erinnernden schwarzen SammetgewandcS und deS gleichfarbigen KopsschleierS trug sie ei» graues Seidenkleid und ein weißes Spitzenhäubchen. Der schlohweiße Scheitel contrastirte au. muthig mit den klaren, Hellen Augen und dem wie verjüngten Gesicht, auf dem eine stille, zufriedene Heiterkeit lag. Frau v. WolsSeck hörte zu, waS Marie ihr au» einer eitung vorlas. Dabei sah sie bald aus die beiden großen eniälde ihres Mannes und ihre» SohneS, die an der Breit seite des Salon« hingen, bald aus ihre Enkelin, deren schöne Züge eine träumerische Weichheit hatten. DaS Selbstbewußt- jein war auS der ganzen Haltung de» jungen Mädchen» ge schwunden. In der biegsamen Figur schien sich der unbe wußte Wunsch nach einem sesten Halt, der ein Sichanlehnen gestattet, auSzusprechen. Wie in einem träumenden Sehnen nach etwa» Entferntem richteten sich die von langen Wimpern beschatteten Augen in den Pausen der Lectüre auch wohl aus die hüpfenden und züngelnden Flammen in dem Kamin, als men» sie dort weiter lesen wollten in einer unentwirrbaren Schrist. Friedrich, der auch ein anderer geworden, ganz frohe Heiterkeit an Stelle der früheren Bergrämtheit, kam und meldete den Doclor Wilken an, dem Marie rntgegeneilte. Mit der alten Vertraulichkeit tauschten die Beiden Gruß und Händedruck. Die Kinder, HanS und Lene, wünschten der Gräfin einen guten Morgen und küßten ihr dabei so graziös die Hand, dag die alte Dame dem Doctor lächelnd «in schmeichelbasleS Eoniplinient über die Resultate seiner Er ziehung machte. Aber Wilken wehrte das Lob ab. „Ich bin wirklich unschuldig daran", meinte er. »Daß daS junge Volk sich bescheiden und sittsam betrügt, darauf balle ich, aber der feine Schliff, da hapert eS bei mir selbst. Sie macken ja täglich die trübe Erfahrung, wie schlecht ich mich in seiner Daineiigescllschast zu benehmen weiß.* Marie hatte di- beiden Kinder in eine Ecke de» Salon» geführt und unterhielt sich niit ihnen über die Lehrstunden und die Schularbeiten sür den nächsten Tag. Die kleine Lene klagte ihr Leid, daß sie so viel unv immer mehr lernen müsse, während der blinde HanS voller Freuvc erzählte, wie ihn der Onkel Doclor heute wieder gelobt habe, daß er Alle» schnell begreife unv gut behalte. lFortsetzung folgt.) Zur Frage der Schulreform. * Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" setzt ihre Artikel über die Frage der Schulreform, besonder» deS höheren UnterrichtSwescuS, fort. DaS osficiösc Blatt schreibt an leitender Stelle: Wenn die Bildung eines Volk » sortschrcilet, lo muß naturgemäß die Erziehung de» Heranwachsenden Geschlechts dieser Thatsache Rechnung tragen und dasselbe befähigen, die neuen Bildungselemente in sich aufzunehinc». Dieser wohl nicht anfecht bare Satz bildet den Ausgangspunkt sür alle Schvlresorm- best re düngen, und es ist wesentlich die Art der Auslegung des Begriffes „allgemeine Bildung", welche eS mit sich bringt, daß die aus dieser» Gebiet« gestellten Forderungen so überaus verschieden sind, und daß eS unmöglich erscheint, Einheit in diele zahllose» Wünsche zu bringen. Es wird bei der Schulreform meistens ein sehr wichtiger Puuct vergessen: man mach» sich nicht genügend klar, was der Schüler in der Schn!« und was er später, sei eS ans der Universität, sri eS in weiterer Vorbereitung ans einen bestimmten Berus erlernen ivll. Daher kommt eS» daß sich in den Köpfen Mancher die höhere „EiaheilSichuIe der Zukunst" zu einer speciellen Vor- bereitungsanstalt sür die Technik und verwandte Gewerbe gestaltet, aus weicher Alles verbannt werden müsse, waS im praktischen Leben nicht verwerthet werden könne. Daß eine solche Auflassung des Wesens der Schule verkehrt ist, und daß die praktische Verwirk lichung derielbrn durchaus nicht die Resultate erzielen würde, welche sich die Bertretcr derselben davon verivrcchcn, ist schou daraus zu er- sehen, daß mau sich auch bei kriiier Fachschule sür jüngere Schüler dazu hat entschließen können, diesen Weg zu betreten, iondern daß man stets dafür gesorgt hat, dem Schüler ein je nach den Umständen ver schiedene« Maß vou allgemeiner Bildung zu vermitteln. Di« Ladtiikiicorp» z. B. sind doch militairnche BorberertuugS- anstaltrn, die Lehrpläne derselben gleichen aber natürlich außer den spcciell militairischeu Unterweisungen säst völlig denen der Real- ghmnasien. Es ergiebt sich Hiera«», daß eS immer »ur ein Theil der Fachkciintiiisse ist. welche aus der Schule gelehrt werden können, wenn dieselbe ihrer höheren Aasgabe gerecht werden will. Wenn man unter diesem Gesichtspunkt an die Frage hcraatritt, welche Veränderungen sich im höheren Schulwesen empfehlen würden, so wird man zunächst darüber schlüssig werden müssen, ob die bis herigen Resultate der Schulen zufriedenstellende gewesen sind oder ob sich ein sühlbarer Mangel an Begrisssjähigkeit bei den Abiturienten geltead gemach« Hot. Nun ist es keine seltene Erscheinung, daß Abiturienten der vielgeschmähten humanistischen Ghmnasien sich dem Studium der Matdemaiik widmen, obwohl sie aus dem Realgymnasium in dieser Wissenschaft weiter gefördert werden. Es ist aber seilen« der Professoren der Universität und au» sonstigen maßgebenden Kreisen nicht die Klage laut geworden, daß jene jungen Männer hinter den Realgymugsiasten zurückgeblieben wären. In ähnlicher Wesse haben sich die Gymnasiasten auch anderen reale» Wisseuschaslen zugewandt und steis dieselbe» Resultate erzielt wie Diejenigen, welche aus die Hochschule etwa» mehr specielle Vor- kenninisse mitbringe». Es muß also doch dle Schulung de- Geistes, welche auf dem humanistischen Gumnasium erfolgt, auch für diese Fächer eine ausreichend« gewesen sei«. Run soll ober damit nicht behauptet werde», daß die heutige» Unleirichtszuftände für alle Zukunft unverändert bestehen bleiben müßten. Ls läßt sich darüber streiten, ob di« bedeutsamen Fort- schritt- der Naturwlssenschosten in dem Lehrplaue der huma- aistischen Gyninajien in völlig ausreichendem Maße zum Aus- druck gelangen, ebenso wie darüber, ob dock nationale Element in
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