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Ständige Beilage der .. Typographischen Mitteilun gen Der Sprachiv art Monatsblätter für Sprachpflege und Rechtschreibung Fachmitteilungen für die deutschen Korrektoren 19. JAHRGANG BERLIN / APRIL 1927 NUMMER 4 Verkehrte Begriffe Sprachliche Plauderei von Dr. Max Gerhardt, Berlin Der alte griechifche Philofoph, der einft behauptete, daß {ich alles im Fluffe befinde, hat mit feinem Aus- fpruch recht. Denn die Ausdrücke, mit denen wir die Dinge außer uns bezeichnen, haben oft nur für eine längere oder kürzere Zeitfpanne Geltung, da die fortfchreitende Entwicklung und die Veränderung der Zeitumftände alles in ftändiger Bewegung und Umwandlung halten und oft von Grund aus um- geftalten. Diefer Entwicklung der Dinge ftellt fich jedoch häufig das menfchliche Beharrungsvermögen entgegen. So nannte man ehemals eine Münze „Gulden“, weil fie aus Gold hergeftellt wurde. Als man aber fpäter diefes Metall durch Silber erfetzte, behielt man trotzdem den alten Namen für diefe Münze bei; nicht nur das, man vergaß fogar die Herkunft der Be nennung und nannte die neue Münze „Silbergulden“. Ein bekanntes Schreibgerät wurde bei feiner Er findung mit Recht nach dem verwendeten Metall „Bleiftift“ getauft. Als fpäter die Herftellung diefer Schreibftifte verändert wurde und dann Graphit an die Stelle des bisherigen Bleis trat, wirkte lieh diefer Fortfehritt in der Technik nicht auch in einer Um benennung aus, fondern man fprach ruhig weiter von Bleiftiften. Die Franzofen find bei der Benennung diefes Schreibgeräts auf einer noch tiefem Kulturftufe ftehengeblieben; denn fie nennen es noch heute crayon, ein Wort, das eine Ableitung von la craie (die Kreide) darftellt. Manchmal hört man fogar von einer „Bleifeder“ fprechen, wo doch von einer Feder gar keine Rede fein kann. Hierfür ift ficherlich das Vorbild der Schreibfeder maßgebend gewefen. Die Schreibfeder ift auch ein Beweis dafür, daß man mit der fortfehreitenden Entwicklung der Technik in der Sprache nicht mitgegangen ift. Ur- fprünglich benutzte man tatfächlich zum Schreiben eine Feder, nämlich die Schwanz- und Flügelfedern der Gänfe, nachdem man fie für diefen Zweck mit einem Federmeffer zurechtgefchnitten hatte; nebenbei gefagt war das eine Kunftfertigkeit, die nicht jedem eigen war. Als fpäter diefe Gänfefedern durch die Erfindung der Stahlfedern verdrängt wurden, be hielt man wiederum den alten Ausdrude „Feder“ bei, obgleich diefes neue Schreibgerät nicht einmal die Form einer Gänfefeder hatte. Urfprünglich hatten die Gefchofte der Feuerwaffen die Form einer Kugel, und man fprach daher von Kanonenkugeln, Gewehrkugeln, Revolverkugelnufw., und diefe alte Bezeichnung wird noch heute bei behalten, obwohl diefe Gefdioffe nicht mehr die Form einer Kugel haben. Trotz der Lehre des Kopernikus, daß fich alle Planeten, alfo auch Erde und Mond, um die Sonne bewegen, hören wir nicht auf, von einem Sonnen oder Mondaufgang und einem Sonnen- oder Mond untergang zu reden. Sodann fprechen wir von einer Fenfterfcheibe, obgleich wir uns unter „Scheibe“ fonft immer nur eine kreisrunde Fläche vorftellen, wie z. B. Dreh- fcheibe, Schießfeheibe ufw. Unfre heutigen Fenfter- fcheiben haben jedoch nur noch fehr feiten die urfprünglidie Form der in Blei gefaßten kleinen Butzenfeheiben. Oft wird ein Gewehr — allerdings in etwas gering- fchätzigem Sinne — noch eine Flinte genannt. Diefe Schießzeuge hatten aber ihren Namen nach dem Flint = Feuerftein, mit dem die Pulverladung zur Entzündung gebracht wurde. Aber kein Gewehr hat heute noch ein Flintenfchloß. Ebenfo können wir auch heute eigentlich nicht mehr davon fprechen, ein Gewehr zu laden; denn wir laden ihm ja keine Laft mehr auf, wie es ehedem bei den Schleudermafchinen, Bailiften ufw. gefchah. Manche Leute find genötigt, fich ihre hohlen Zähne zufüllen zu laffen, und fprechen dann von Plomben. Diefes Wort hat feinen Urfprung in dem lateinifchen plumbum — Blei. Nun wird es wohl heute keinen Zahnarzt mehr geben, der diefes Metall noch für Zahnfüllungen verwendet. Manchmal wird fogar von „Goldplomben“ gefprodien ohne Rückfidit auf die Herkunft des Wortes, das eben in diefer Beziehung jetzt die Bedeutung „Füllung“ angenommen hat. Schiller läßt Wilhelm Teil fagen: „Deine Uhr ift abgelaufen!“ Strenggenommen kann man diefen Ausdruck nicht mehr auf die heutigen Uhren an wenden, denn er war eigentlich nur am Platze bei den alten Sanduhren, bei denen der Sand wirklich ablief. Ebenfowenig können wir davon fprechen, daß wir eine Tafchenuhr aufziehen müffen, was doch eigentlich nur von einer Turmuhr oder Wanduhr mit Gewichten und langen Ketten gilt. Nach feiner Ableitung ift der Stiefel (vom latei nifchen aestivus — „fommerlich“ herftammend; der