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Das Schiff
- Bandzählung
- 1930
- Erscheinungsdatum
- 1930
- Sprache
- Deutsch
- Signatur
- Z. 4. 6055-27.1930
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id512045739-193000009
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id512045739-19300000
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-512045739-19300000
- Sammlungen
- Gebrauchsgraphik
- LDP: SLUB
- Bemerkung
- Ohne Heft 2
- Strukturtyp
- Band
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
- Ausgabebezeichnung
- 1, Januar
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
- Titel
- Das Schiff
- Autor
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sein, ruhig zu schlafen, ungestört zu lesen. Mein Zimmer ist häßlich und hat keinen Anstrich, aber es ist sauber. Es könnte sehr gut eine Anzahl jener armen Vaga bunden beherbergen, die keine Schlafstelle haben. Wenn ich durch den ersten Bogen am Bahnhof Once gehe, treffe ich eine dunkel gekleidete Frau; sie liegt, zu einem Knäuel zusammengerollt, auf der Erde. Diese F rau, der ich bis jetzt noch nicht habe ins Ge sicht sehen können, beschäftigt meine Ge danken von dem Augenblick an, wo ich beim Verlassen der Druckerei auf die Straße trete. Zwei Häuserblocks vor der Brücke sage ich mir: »So wird sie daliegen, und so wird sie atmen: a-ei ... a-ei ...« Ihr Atmen klingt wie ein schmerzliches Klagen . . . Wenn ich an ihr vorübergehe, bleibe ich stehen und denke nach. * Eines Nachts hatte es stark geregnet. Als ich durch die Straßen ging, mußte ich über Pfützen und Gossen springen. Über all wehten mir dicke, kalte Nebel ent gegen, und Wasser lief mir übers Gesidit, als wollte es allen Stolz erweichen, den meine Seele noch bergen könnte. Die wenigen Obdachlosen, die ich unter wegs antraf, huschten schattenhaft an mir vorüber. Sie schienen sich kleiner und dünner zu machen, wie sie, vom Regen gehetzt und vom Sturm umtost, auf den Straßen einhertrieben. Auf zugiger,schlüpf riger Bühne, vor einem schwarzen Hinter gründe tanzten schwanke elektrischeLam- pen zur Musik derTelephondrähte vor dem stummen Publikum der Pflastersteine und Laternenmasten einen Totentanz. Kurz vor dem Bahnbogen sagte ich mir, als wollte ich verhindern, daß ein be stimmtes Ereignis eintreffe: »Nein, . . . heute nacht kann sie nicht da sein . . .« Und dann, mit erhobener Stimme ;»... darf sie nicht da sein!« Ich kam an den bewußten Ort, und die Frau war doch da, durchnäßt und schmutz bespritzt. Von der Decke des Bogens, die von gewaltigen Balken gebildet wird, hingen zahllose Tropfenreihen herab; sie zerklirrten im Straßenschlamm. Ich fing an, unter dem Bogen hindurchzugehen, von ähnlichen Empfindungen erfüllt wie ein unschuldig Verurteilter, der in seiner Zelle hin und her wandert. Als ich das seltsame Häufchen Elend ansah, das vor Kälte zitterte, versank ich in zielloses Brüten. »A . . . ei! . . . a . . . ei!« Endlich entschloß ich mich, die Frau auf zuwecken. Nachdem ich sie wiederholt an gerufen und geschüttelt hatte, hob sich aus dem Bündel, wie aus den Eingeweiden der Erde, der Kopf eines Mäddiens. Es schien sich in sein Schicksal ergeben zu haben und sah mich schüchtern und kläglich an. »Was wollen Sie?« Ich antwortete, ein wenig verwirrt: »Sie werden erfrieren, wenn Sie in der Pfütze liegenbleiben. Warum gehen Sie nicht nach Hause?« »Nach Hause? . . . Haus? . . . Wo ist mein Haus?« Zweifellos hatte sie keine Wohnung; auch wußte sie kaum, was es heißt, eine Woh nung zu haben. Vielleicht war sie auf der Straße geboren und aufgewachsen. Ich hätte mir im voraus sagen können, daß meine Frage überflüssig sei; ich hatte auch nur gefragt, um sie irgendwie anzureden. »Sie haben eine Wohnung?« fragte sie er staunt. »Ja . . . Ein großes Zimmer in einer alten Baracke.« »Regnet es da nicht?« »Nein . . .« »Dann haben Sie es aber gut!« Das Mädchen erhob sich. Sie hatte eine tiefdunkle Hautfarbe, ein schmales Näs- chen, schwarze Augen und starkes, wirres Haar. Ihr Mund war fein geschnitten, um ihre Lippen lag ein Schimmer von Unbe rührtheit, und ihre Haare, die helfen muß ten, sie zu wärmen, fielen ihr in zwei mäch tigen Wellen Uber die Brust. Aber ihr Körper war grauenerregend. Sie hatte einen Buckel, der die Linie des Rumpfes vollständig zerbrach. Wenn sie sich be wegte, mußte sie hüpfen wie eine Wachtel, die sich ein Beinchen verletzt hat. Sie war in Lumpen gekleidet und trug an den Füßen ein Paar Männerschuhe, aus deren zerrissenen Spitzen die Zehen hervorsahen. Sie war schlaftrunken, rieb sich die Augen, tat einige unsichere Schritte, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel aufs Pflaster. Es klang,als knackten brechendeKnochen. Ich nahm sie in die Arme und hob sie auf; sie war fast gewichtlos. »Ich friere«, sagte sie mit erstickter Stimme. Sie betrachtete ihre Schuhe. »Idi weiß, daß es ein Elend ist, Männer schuhe tragen zu müssen«, erklärte sie mir, »aber ich habe keine andern. Wenn es nicht regnet, zieh ich sie aus und gehe barfuß.« Das Mädchen schien sich in meinen Armen wohl zu fühlen; mir kam es sogar vor, als versuchte sie ein leises Lächeln. Sie tat mir so leid, daß ich mich entschloß, sie mit nach Hause zu nehmen. Als ich sie dorthin führte, sah sie mich mißtrauisch an und glaubte wenig oder nichts von dem, was ich ihr sagte. Wir kamen zu Hause an. Ich warf meine Matratze über einige alte Zeitungen auf den Fußboden und legte das Mädchen in mein Bett. Sie schlief sofort ein, nachdem sie noch hastig ein Brötchen gegessen hatte. Dann streckte ich mich selbst auf die Ma tratze. Da ich keine Decken und Kissen hatte, fror ich . . Aber ich konnte dennodi schlafen; meine innere Stimme sagte immer wieder: »Recht getan, mein Sohn.« * Das Mädchen heißt Luise. Sie hat ihre Eltern nie gekannt. Sie ist siebzehn Jahre alt, sieht aber nicht älter aus als zehn oder zwölf. Aus allem, was sie mir gesagt hat, geht hervor, daß ihr Denkvermögen un glaublich gering ist. Sie kann ihre Erin nerungen nicht ordentlich aneinander reihen und erzählt ganz primitiv und nur mit Widerstreben. Dabei sieht sie sich beständig um; sie ist offenbar überzeugt davon, daß jemand sie mit einem Hieb oder einer Ohrfeige unterbrechen wird. Sie faßte mich einmal an den Händen, fragte mich, ob ich Frauen nicht schlüge, und erzählte mir darauf eine Anzahl Erfahrungen aus ihrem Leben als Dienst mädchen. Ein Arzt hatte ihr die Schläfen haare ausgerissen, und eine Varietesän gerin hatte ihreineHutnadelin denrechten Oberschenkel gestoßen. Zur Bestätigung zeigte sie mir die Narbe, wobei ihr junges Gesicht einen märtyrerhaft reifenAusdruck annahm. Ich kann sagen, daß mein Erlebnis mit dem Buckelchen die Einförmigkeit meines Lebens vorteilhaft unterbrach. Mit der Zeit wurde Luise eine prächtige Gefährtin. Sie sorgt mit dem größten Eifer dafür, daß Ordnung herrscht, und bemüht sich, möglichst wenig Platz einzunehmen. Sie wäscht sich von oben bis unten, kämmt sich, sieht in den Spiegel und kocht. Sobald ich kann, werde ich ein zweites Bett anschaffen. Von dem Gelde, das ich ihr gab, hat sie sich ein grellbuntes Kleid, himmelblaue Pantoffel und ein weiß seidenes Tuch gekauft, das sie um den Schopf ihres schwarzen Haares schlingt Sie will ihre dunkle Haut mit dem Schim mer ihres Kleides aufhellen. Sie hat eine Vorliebe für lebhafte Farben undschmückt sich lieber mit einem roten Band als mit einem Veilchenstrauß. In wenigen Wochen hat sie sich so verändert, daß mir ihr Buckel nicht mehr so grauenhaft erscheint wie im Anfang. Je länger ich sie beob achte, desto mehr Zuneigung empfinde ich für sie. Von vorn gesehen ist sie durch aus nicht unangenehm; ihr Kopf ist gut geformt, und ihre ein wenig zitternde Stimme ist mir sympathisch. Eines Morgens überraschte ich sie im Schlafe. Sie lag mit bloßem Halse; die Haare umfluteten, nachlässig geordnet, ihr Gesicht. Ich beobachtete sie genau und fand sie anziehend wie nie zuvor. Als ich aber ihren Buckel bemerkte, verflüchtigte sich mein Wohlgefallen und wandelte sich in Bitterkeit. Ich behandle sie wie ein schwaches Kind, das seine Eltern verloren hat und den Beistand eines älteren Bruders braucht. Nachts sehen wir uns wenig oder gar nicht; denn ich komme erst früh um vier Uhr nach Hause und bin dann müde und abgespannt. Ich finde immer alles an seinem Platze: die Matratze auf der Erde und die Bettlaken mit peinlicher Sorgfalt darüber gedeckt. Luise schläft. Sie liegt immer in der gleichen Haltung und atmet: a-ei . . . a-ei . . . Warum jammert sie, wenn sie schläft? Sie dehnt das A und spricht es leise und kläglich. Und sie schläft so fest, als hätte sie früher nie schlafen dürfen. Ich bemühe mich, keinGeräusch zu machen, kleide mich vorsichtig aus, lösche das Licht und lege mich nieder. Wenn ich aufwache, ist das Frühstück fertig und das Zimmer gefegt und aufgeräumt. Das Mittagessen nehmen wir gemeinsam ein. (Schluß folgt.)
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