BEIBLATT DER TYPOGRAPHISCHEN MITTEILUNGEN tIFTLEITUNG E.PRECZANG RUN SW61 • DREIBUNDSTR.9 HEFT 7. JUL11929 Was ift Philofophie! Der Lefer ftutzt wahrfcheinlich fchon über die Frageftellung. Manch einer wird denken: Hat die in ihrer wirtfchaftlich-fozialen Exiftenz fchwer bedrohte Arbeiterklaffe im Augen blick nichts Befferes zu tun, als fich über derart müßige Sdiaumfchlägereien die Köpfe zu zerbrechen? Erfcheint die Frage von Lohn und Arbeitszeit, die Frage der Rationalifierung und der fogenannten Wirtfchaftsdemokratie, mit einem Wort: die Gefamtheit aller der Fragen, die den proletarifchen Klaffenkampf unmittelbar berühren, nicht bei weitem wichtiger als das offenbar fo wirklichkeitsferne Problem der Philofophie? Wer fo fragt, hat recht und unrecht zugleich. Natürlich find alle die genannten Dinge für den Proletarier — weil es fich hier um tatfächliche Exiftenzfragen handelt — von eminenter Wichtigkeit. Das wird niemand bezweifeln wollen und können. Aber die Wirklichkeit, in der wir leben, hat nicht nur ihre ökonomifch-foziale Seite. Um diefe Seite der Wirk lichkeit überhaupt wahrnehmen zu können, bedarf es neben der Arbeit der Sinnesorgane auch einer beftimmten Denktätigkeit. Ohne die Kontrolle unfres denkenden Bewußtfeins bliebe die Wahrnehmung der Wirklichkeit ein buntes Durcheinander. Wir fehen alfo, daß die Außenwelt — felbft wo wir nur einen Ausfchnitt von ihr erfaffen wollen — keine ganz einfache Erfcheinung ift. Aber nicht davon foll jetzt die Rede fein. Wir wollen die Frage unerörtert laffen, wie der Menfch zu Wahrnehmungen gelangt. Dafür erfcheint uns um fo notwendiger die Unter- fuchung deffen, was den Inhalt unfrer Wahrnehmungen bildet. Mit andern Worten: die Außenwelt felbft in ihrer Gefamtheit ift das Problem, mit dem wir uns zu befchäftigen haben. Gibt es doch keinen Menfchen, auch keinen Proletarier, der über das Problem oder richtiger über die Vielheit der Probleme, die unfre Welt der Wirklichkeit aus fich heraus entwickelt, fich nicht Gedanken machen würde. Es gibt im Grunde keinen Menfchen — ohne Philofophie, das Wort im weiteften Sinne verftanden. Das erfte, was dem Menfchen von heute entgegentritt, ift die Gefellfchaft. In früheren Epochen — vor allem in der Urzeit, aber auch fpäter zu Beginn der Zivilifation — ift das erfte, was dem menfchlichen Bewußtfein den ftärkften Eindruck vermittelt, die Natur. Der damalige Menfch lebt ja ganz in der Natur und mit der Natur. Sie ift feine einzige Senfation. Von ihr kommt er nicht los. Sie färbt alle feine Gedanken und Ge fühle. Die erfte Philofophie ift überall Naturphilofophie. Das ändert fich erft in dem Augenblick, wo die eigentliche Gefchichte der Menfchheit beginnt, das heißt wo die klaffenlofe Urgefellfchaft einer zunächft primitiven Klaffenherrfchaft Platz macht. Jetzt rücken nach und nach andre Probleme in den Vordergrund der Betrachtung. Der Staat, die Gefellfchaft, das Recht, die Ethik, die Kunft, die Religion: alle diefe und ähnliche Faktoren werden für die Menfchheit von großer und immer größerer Bedeutung und geben dem Denken zahllofe Rätfel auf. Das Denken aber ift beftrebt, in die Unzahl der Probleme, die fich dem Bewußtfein aufdrängen, eine gewiffe Ordnung zu bringen. Der nach Klarheit ringende Menfch will in der bunten Mannigfaltigkeit des Naturgefchehens das einheitliche Prinzip ausfindig machen. Er will aber auch im Bereich der Menfchheits- gefchichte den Grundproblemen auf die Spur kommen. Damit gelangt er — um bei dem letzten zu bleiben — in die Sphäre der Gefchichtsphilofophie.