= DAS SCHIFF BEIBLATT DER TYPOGRAPHISCHEN MITTEILUNGEN SCHRIFTLEITUNG: ERNST PRECZANG BERLIN SW 61, DREIBUNDSTRASSE 9 NUMMER 1 / JANUAR/JAHRGANG 1938 RASSE/VOLK/SPRACHE/RELIGION Unfere Zeit arbeitet vielfach mit unverftandenen Schlagwörtern. Bei oberflächlicher Auffaffung drohen auch Begriffe wie »Raffe« und »Volk« zu Schlagwörtern zu werden. Vorgefaßte Lehr meinungen verfuchen, die gefchichtlichen W ahr- heiten umzudeuten. Da ift es ganz gut, Geh die Gruppen, aus denen fich die gefamteMenfchheit zufammenfetzt, etwas näher anzufehen. Völker, die ihre Nachbarn befiegt haben, lullen zuweilen die unbequemen Forfcher ein, indem fie befchwichtigend darauf hinweifen, es fei fchon immer fo gewefen, daß die Unterlegenen Sitte, Sprache und Religion ihrer Überwinder angenommen hätten. Als Schulbeifpiele werden gen annt: die Goten, die im Süden untergegangen find; die Obotriten, deren ehemaliges Vor handenfein nur ein paar Namen in Mecklenburg beweifen; ferner die Kariben in Mittel- und Südamerika, die ausgeftorben find, ebenfo die Etrusker in Oberitalien; die Neger in Haiti, die ihre Sprache abgelegt und dafür die franzöfifche angenommen haben. Eine folche Beweisführung ift in diefer Form durchaus nicht ftichhaltig; zudem laffen fich für das Gegenteil viel mehr Beifpiele anführen, deren größter Teil freilich im allgemeinen wenig bekannt ift. So läßt fich im Altertum gerade das Umgekehrte feftftellen bei den Griechen und Römern: Die Römer befiegten zwar die Griechen, aber es dauerte keine hundert Jahre, da hatten die Römer griechifche Sitten angenommen. Der überwiegenden Mehrzahl der europäifchen und amerikanifchen Kolonialvölker ift es gar nicht eingefallen, fich der Sprache ihrer Herrfcher zu bedienen. Oft treffen wir ein großes Durchein ander: die Malaien — jetzt Untertanen der Hol- VON DR. GERHARD KAHLO, ANNEN länder — und die Suaheli im ehemals deutfehen Oftafrika haben nicht das europäifche Abc an genommen, fondern fchreiben ihre Sprache mit arabifchen Buchftaben; auch huldigen fie nicht der chriftlichen Religion, fondern dem Moham medanismus. In Indien herrfchen die Engländer; es leben aber Hindus, Singalefen, Tamilen ufw. nach ihren bodenftändigen Sitten, fprechen ihre alten Sprachen und beten zu Brahma, Wifchnu undSchiwa.Die Ainos imNorden Japans haben mit den Japanern nichts gemein. Die Ruffen, die mit zäher Gewalt Sibirien in ihre Hand brachten, vermochten nicht zu verhindern, daß ungezählte Volksftämme fich der ruffifchen Kultur entzogen: die Mordwinen, Syrjänen, Oftjaken, Tataren, Burjäten, Jukagiren uff. verleugnen auch heute, wo ihre Seelenzahl zu- fammengefchmolzen ift, ihre mongolifche Ab- ftammung nicht. Auch in religiöfer Hinficht ift es lehrreich, die Angehörigen diefer Raffen zu betrachten: die Tataren find Anhänger Moham meds; die Ungarn und Finnen wurden unter dem Einfluß Europas Chriften, behielten aber ihre Sprachen. Die Bulgaren dagegen, ein ehe mals mongolifches Volk, das vom Hunnenein bruch her auf dem Balkan fitzenblieb, fprechen jetzt eine flawifche Sprache. Die Osmanen (Türken) erhielten ihre Religion von den fe- mitifchen Arabern; trotzdem Arabien jahr hundertelang von denTürkenbeherrfcht wurde, drückte fich der Iflam von dort aus durch. Die indogermanifchen Kurden führen heute noch in der Türkei einSonderdafein, und die Armenier find Chriften, obwohl fie von Mohammedanern umgeben find. So find auch die Abeffinier in Afrika Chriften, während nördlich und füdlich