DAS SCHIFF BEIBLATT DER TYPOGRAPHISCHEN MITTEILUNGEN / HEFT 12 / DEZEMBER 1928 SCHRIFTLEITUNG: ERNST PRECZANG / BERLIN SW 61 / DREIBUNDSTRASSE NR. 9 ERICH KNAUF, DAS LÄCHELN DER MADONNEN Die Konfefiionen kommen und gehen, die Kirchen werdenStätten zeremoniellenTheaters Feftungen, Mufeen des Aberglaubens, Folter kammern des Geiftes und des Fleifches, Paläfte und nüchterne Hörfäle, in denen das Wort re giert — aber eines bleibt beftehen. Eines, das von Anfang an war, ehe es Konfefiionen und Kirchen gab: das Gefühl von Menfch zu Menfch und von Menfch zu Weit. Nennen wir diefes Ge fühl nicht Religion! Das Wort Religion kann uns nicht mehr der Name fein für das Geheimnis, das frühere Jahrhunderte den Bund mit Gott nannten, und das jetzt im erüen Jahrhundert des Sozialismus neuen Ausdruck fucht. Diefes ALBRECHT DÜRER eine, das alle Kulturepochen überdauert, und das nicht mit wörtlichen Faffungen zu binden ift, diefes Gefühl vom Einsfein der Menfchen untereinander und mit dem Univerfum hat in der Legende von der Geburt eines Menfchen, der greifbares Refultat des Verbundenfeins von Menfch zu »Gott« — von Menfch zu Umwelt — ift und der als das Kind der Weltliebe der Ver künder eines neuen Dafeins wird, einen Aus druck gefunden, der mit dem Verftand höchftens fymbolifch, dagegen mit künftlerifchen Mitteln den vollen Inhalt ahnungsvoll fühlend zu er- faffen ift. Das Madonnenerlebnis in der bil denden Kunft erbringt den klarften Beweis für die Richtigkeit diefes Satzes. Die Darftellung von Mutter und Kind entfpringt nicht nur einem religiöfen Gefühl, fondern einer ekftatifchen An betung des größten menfchlichen Wunders, das überwältigender ift als alle religiöfen Wunder, das der Erlöfung mit inbegriffen. Diefe Dar ftellung von Mutter und Kind vollzog fich in religiöfen Formen, folange das religiöfe Gefühl die äußerfte Spannweite hatte und alle anderen Gefühle aufnehmen konnte. Mit der auf blühen den Renaiffance begann die Überwindung des religiöfen Motivs durch das menfchliche. Am Anfang diefer Entwicklung fteht ein Bild von Filippo Lippi: eine Madonna vor einer italienifchen Landfchaft. Zwei Engelknaben tragen das Jefuskind, das mit leichtem Lächeln nach der in Andacht verfunkenen Madonna greift. Die Steifheit der Zeremonie löft fich lang- fam auf, der Heiligenl'chein, vor kurzem noch der Haup tbeftandteil eines kirchlichen Bildes, oft übergroß in ftarker Goldfchicht um das Haupt der Heiligen gelegt, verflüchtigt fich zur matt glänzenden zarten Dunftfdieibe. Und diefe Ma donna wird mehr und mehr eine junge Floren tiner Mutter, die das Wunder des werdenden Kindes anbetet. — Neben Filippo Lippi wirkt Sandro Botticelli wie ein Hofmaler. Er kleidet 71