DAS SCHIFF BEIBLATT DER TYPOGRAPHISCHEN MITTEILUNGEN SCHRIFTLEITUNG: NUMMER 9 ERNST PRECZANG, BERLIN SW6l, DREIBUNDSTRASSE 9 SEPTEMBER 1926 DR. KARL SCHRÖDER / BERLIN WAS IST SCHUNDLITERATUR? ei den Beratungen über den Gefetzentwurf zurBewahrungder J ugend vor Schund und Schmutz hat fich die auf den erften Blick überrafchende Tatfache ergeben, daß eine völlig befriedigende Begriffsbeftimmung der Worte Schund- und Schmutzliteratur nicht zu erreichen war, und daß man infolge- deffen überhaupt auf eine folche Definition ver zichtet hat. Ift diefe Tatfache begründet und worin ift Ge begründet? Kunft und Kunftkritik find, nach unferer Auf- faffung über die Gefellfchaftsentwicklung, zeit bedingt. Mit der ftetigen Umwandlung der Ge- fellfchaft wandelt fich der Ausdruck der Kunft und ebenfo der kritifche Maßftab. Innerhalb der Klaffengefellfchaft kommt das in der verlchie- denen und wachfend gegenfätzlichen Auffaffung der Klaffen deutlich zum Vorfchein. Sehen wir ab von einer unmöglichen Erklärung für die »letzten« Gründe der Kunft als einer der menfch- lichen Ausdrucksformen — Ge ift unmöglich, weil fie eine Erklärung wäre über das, was menfch- liches Leben überhaupt ift —, fo ergibt Geh zu- näclift: Kunft ift bildlich dargeftelltes Gefühls leben. Und weiter ergibt fich: Sowohl die Art der Wiedergabe eines Gefühls (in Worten, in Tönen, in Linien, in Farben, in irgendwelchen Formen) wie auch der Inhalt, die Art (Qualität) eines Gefühls find in verfchiedenen Epochen verfchieden. Ein griechifcher Säulentempel ift in Form und Gefühl anders als eine indifche Pagode oder etwa der Kölner Dom. Der grie- chifcheDichter Sophokles fühltund formt anders als der Italiener Dante. DieKunft alsErfcheinung ift alfo zeitbedingt. Jede Epoche gibt ihrem möglichen Gefühlsleben mit den in eben diefer Epoche vorhandenen und erreichbaren Mitteln Ausdruck. Nun ift klar, daß Gefühlsleben fehr verfchiedene Untergründe haben kann, daß es zu wichtigen oder weniger wichtigen, zu geringeren oder um fangreicheren, zu luftweckenden wie zu unluft weckenden Zufammenhängen gehören kann. Es kann Kunft geben, die aus den größten Ge- famtgefühlen einer ganzen Gefellfchaft hervor geht, und folche, die nur ein Teilftückchen zum Ausdruck bringt. Neben dem Künftler Goethe fteht ein Künftler Eichendorff oder Mörike. Die gefchichtliche »Größe« einer Kunft wird davon abhängen, ob der gefellfchaftliche Untergrund, aus dem fie quillt, groß ift, und die Größe des einzelnen Künftlers wird gleichzeitig davon ab hängig fein, in welchem Grade es ihm gelingt, die möglichen Gefühle in möglichen Formen auszudrücken. Um Kunft zu fein, dazu gehört für eine Schöpfung nur, daß ein Gefühl fo wieder gegeben wird, daß es im Hörer, Lefer und Emp fänger das (möglichft) gleiche Gefühl auslöft. Die Tiefe und der Umfang, in dem das Werk eines Künftlersdie relative (zeitbedingte) »Wahrheit«, die »Wirklichkeit« durch das Mittel des Gefühls zu erfchöpfen vermag, ift der feinerfeits zeit bedingte Maßftab für die Kunft. Natürlich ift unter Wahrheit und Wirklichkeit nicht photo- graphifche Wahrheit zu verliehen, fondern die »innere« Wahrheit, lebendige Wahrheit. Hierbei ift fehr leicht einzufehen,daß eineEpoche, deren Gefühle irgendwie krank, minderwertig in aller Hinficht find, auch eine Kunft zeitigt, die krank ift. Doch kann fie durchaus »Kunft« fein, wenn fie nur in jenem oben dargelegten Sinn »wahr« ift.Eine»gefunde« Epoche kann und wird folche Kunft ablehnen, aber fie wird ihr nicht den Kunftcharakter abfprechen. Kommen wir nach diefer Grundlegung zurück auf die Frage nach dem, was Schund, Kitfch und Schmutzliteratur find, fo find Schund und Kitfch vorläufig infoweit charakterifiert, daß fie Nicht- kunft oder Halbkunft find, etwas, wasdem Kunft charakter eines Werkes widerfpridit; daß fie in 59