DAS SCHIFF BEIBLATT DER TYPOGRAPHISCHEN MITTEILUNGEN SCHRIFTLEITUNG: ERNST PRECZANG, BERLIN SW61, DREIBUNDSTRASSE 9 NUMMER 12 DEZEMBER 1926 HERBERT W. LEISEGANG / BARMEN DAS MARIONETTENSPIEL Wenn ich von der Marionette als Gleichnis des Lebens reden, ihr Spiel als dichterifchen Aus druck einer Zeit erklären will, fo mag der Laie dem Thema fkeptifch gegeniiberftehen. Aber Vergnügungen, denen Geh die Menfchen vom graueften Altertum an mit folcher Leidenfchaft hingegeben haben, verdienen fchon, daß man ihrer tieferen fymbolifchen Bedeutung nach- fpäht. Diefe Völker und Zeitalter huldigten dem Marionettenfpiel als religiöfem Kult, jenen diente es als Volksbeluftigung niedrigfter Art. Solche Umftrittenheit ift immer ein Beweis für den Wert einer Sache; denn nur Fragen, die die tiefften Wurzeln wahrhaften Volkstums be rühren, vermögen die Menfchheit dauernd zu befchäftigen, vermögen Geh dauernd zu be kämpfen. Wie könnte eine Kunft unbedeutend und inhaltlos fein, die Jahrtaufende hindurch den Kulturvölkern auf demWege ihrer geifligen Entwicklung eine treue Begleiterin war, die zu denLieblingsunterhaltungen zahlreicher großen Männer gehörte, und die felbft in unferer Zeit der Umwertung und der geiftigen Revolutionen ihren alten Platz in Ehren behauptet hat! Das Puppenfpiel wird damit zum Wertmeffer von Zeiten und Völkern. Gerade das deutfehe Puppenfpiel trägt, mehr als bei anderen Völkern, rein fymbolifchen Charakter in Geh. Die Marionettenbühne wurde als Symbol der Wirklichkeit, der Welt, erlebt. Die Puppen, die in fchwebender Leichtigkeit Geh als die freieflen Wefen über alle irdifchen Ge- fetze von Schwerkraft und Gebundenheit er heben, die aber im Grunde die Unfreieften aller Gnd, fchienen den Menfchen Spiegel, in denen Ge fchaudernd Geh felbft erkannten. Die Fäden, die den Menfchen mit dem Schickfal verknüpfen, bei der Puppe waren Ge greifbare Wirklichkeit geworden. An Händen und Füßen gebunden, fymbolißerte Ge vortrefflich unfere hilflofe, zwifchen Himmel und Erde flehende Zwitter- haftigkeit. Diefe Wefen von fprühender Le bendigkeit, Ge vermochten nicht einen Schritt felbftändig zu tun, Ge waren tragifch verkettet einem höheren Willen, einem Gott; und diefer Gott war nur ein Menfch, der Puppenfpieler hinter den Kuliffen. Es muß eine fürchterliche Erkenntnis für den Menfchen gewefen fein, als er zum erftenmal den Sinn diefer winzigen Puppen erkannte, die ihm hohnlachend das »Du bift Ich« zuzurufen fchienen. Gounod be zeichnet Ge als»Parodie de la vie humaine«, und Weber fagt in feinem Demokritos von ihnen: »Nichts ftellt das Lächerliche im Getriebe der Menfchen und deren unwichtige Wichtigkeit fo ganz ans Licht wie diefe verkleinerten, am Draht geleiteten Menfchen aus Holz.« Die IlluGon des Puppentheaters raubte dem Menfchen die IlluGon des Lebens; mit einem Schlage fchien alle feelifcheKompliziertheit von ihm abzufallen, und als die Schleier der IlluGon zerflattertwaren,ftanden Ge nacktvorderharten Erkenntnis: Die Welt ift nichts als ein Schau budenmann, der uns als Marionetten auf und nieder tanzen läßt. Und wir Gnd ernft dabei und denken uns als die Herren der Welt, an die wir als Sklaven gekettet Gnd. Das Volk oder das Zeitalter, das Geh gläubig dem Puppenfpiel hin gibt, wird immer den Grundton einer tragifchen Weltanfchauung in Geh tragen. Die Marionette hat vor dem Schaufpiel einen großen Vorzug: Sie ift unwirklicher und darum künftlerifcher.Ihr Reich ift die Welt desWunders: Märchen, Mythos, Myfterium. Vermöge ihrer feelifchen Unbeteiligtheit verkörpert Ge die ab- folute Komik. Komifch ift der ungeiftigeMenfch, der, feiner Sendung vergeffend, Geh an die ver wirrende Fülle der dinglichen Welt verliert und in Feigheit, Geiz oder Gier um Werte bangt, die für den Wiffenden belanglos Gnd. Diefe 81