Wilhelm Reuschel Lieber Freund Hanfstaengl! Wenn ich Sie heute vor mir sehe, an Ihrem Geburtstag zum Eintritt in das letzte Viertel eines Lebensjahrhunderts, dann wird mir bewußt, daß das Wort »Greis« in unserem Sprachgebrauch keinen Platz mehr hat. Ich bedenke wohl, daß die Jugend des 20. Jahrhunderts biologisch früh reifer wird als wir Angehörige aus dem Jahrhundert der technischen Revolution, in welchem der Kultur gegenüber der Zivilisation ein beachtenswerter Vorzug eingeräumt war. Logischer weise wäre anzunehmen, nachdem den Geschöpfen unserer Erde nur eine begrenzte Lebens dauer zugewiesen ist, daß die Leistungsgrenze der Frühreifen auch entsprechend vorzeitig ab ebbt. Dagegen ist es wohl eine auffallende Erscheinung, daß die Menschen, die unserer Genera tion angehören, den Höhepunkt ihres Lebens in einem Alter erreichen, welches früher eindeutig als Greisenalter registriert wurde. Hängt dies damit zusammen, daß wir entgegen den Gepflo genheiten unserer Väter und Großväter keine eisgrauen Bärte tragen? Dann würde sich aller dings die bärtige Jugend unbewußt der Folge ihre Frühreife anpassen. Sei dem, wie ihm mag, Sie können heute Ihren Geburtstag in einer begnadeten körperlichen und geistigen Verfassung begehen. Wenn ich mich zurückerinnere, so haben Sie sich während unserer langjährigen Bekanntschaft kaum verändert. Es ist fast 3 5 Jahre her, daß wir uns auf dem Tennisplatz kennengelernt haben. Wir haben immer miteinander und gegeneinander ge rungen. Mir blieb im Gedächtnis, daß Sie beim Tennisspielen niemals müde wurden, und daß Sie immer im Tennisdreß wie aus dem Ei gepellt aussahen, auch wenn Sie das anstrengendste Match hinter sich hatten. Aus dem fast alltäglichen Beisammensein in den Sommermonaten entwickelte sich im Laufe