DAS SCHIFF BEIBLATT DER TYPOGRAPHISCHEN MITTEILUNGEN SCHRIFTLEITUNG: ERNST PRECZANG, BERLIN SW 61, DREIBUNDSTRASSE 9 NUMMER 4 APRIL 1927 DER AUFBAU DES SEELISCHEN DAS WOLLEN II. m erften Abfchnitt haben wir gefehen, wie alles Seelifche lieh auf drei Grund richtungen: das Fühlen, Begehren und Vorteilen (Denken) zurückführen läßt, und haben die erfie Entwicklung die- fer drei Urbeftandteile im heranwach- fenden Menfchen belaufcht. Wir wollen jetzt derWeiterentwicklung der einzel nen nachgehen. Beginnen wir mit dem Begehren. DerTrieb oder die Begierde geht beimMenfchen zunächft,w r ie beimTiere, rein inftinktmäßig von dem Streben nach feiner Befriedigung aus und bleibt zum Teil in diefer Form auch ferner be- ftehen: Man denke nur an die Gew'alt des Ge- fchlechtstriebs, an die Begierde nach Ruhm, Geld, Macht ufw. Je mehr das Vorftellungs- leben lieh ausbildet, defto mehr fchält fich aus dieferWelt derTriebe der Gedanke an bellimmte Ziele heraus, deren Erlangung Luft gewähren würde. Bleibt es beim bloßen Denken daran, ohne daß der Trieb zur Handlung übergeht, fo fprechen wir vom Wiinfchen. Der Wunfch ver härtet fich, wenn feftgehalten, zur Abficht, weiter zum feilen Vorfatz oder zum Entfchluß. So ent wickelt fich das noch anfangs ganz vom Gefühle oder der Leidenfchaft beherrfchte Begehren zu dem von klarer Überlegung diktierten, feiner felbft bewußten Wollen, das in fteigendem Maße zurHerrfchaft über das eigene Fühlen, Vorftellen und Begehren, die man dannSelbftbeherrfdiung nennt, wie zur Beeinfluffung anderer zu gelangen vermag. Audi auf feinen höheren Stufen bleibt der Wille natürlich im engften Zufammenhange mit dem Gedanken- und Gefühlsleben. Auch der feiner felbft bewußte,entwickelte Menfch läßt fich nicht immer bloß von vernünftiger Überlegung und Lebenserfahrung, fondern oft genug von Ge fühlen leiten. Häufig wird ein lange und forg- fältig erwogener Vorfatz durch einen in plötz licher Erregung gefaßten Entfchluß umgeftürzt. Anderfeits kann ein feiler Wille (Charakter) eine mächtige Rückwirkung auf unfer Denken und Fühlen üben. Ein mutiger Entfchluß ver- fcheucht unter Umftänden die bis dahin vor handene Unklarheit des Erkennens oder das Schwanken des bloßen Gefühls. Kant hat ein Schriftchen gefdirieben über »Die Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorfatz feiner krank haften Gefühle Meifter zu fein«, das einen wich tigen Beitrag zur Selbftmedizin darftellt. Naturgemäß find in unferm Innern fall ftets ver- fchiedene Willensftrebungen vorhanden. Aber ein natiirlidiesGefühl treibt uns in allem unfern Fühlen, Denken und Wollen zu möglichfter Ein heit, die allein uns innere Befriedigung gewährt, während wir ohne fieUnfriede, Unluft empfinden. Darum w T ird mindeftens der kluge und tatkräf tige Menfch fich gern ein beftimmtes Ziel fetzen, das er mit allen Mitteln zu erreichen beftrebt ift. Nun wird er aber bei rückfichtslofer Verfolgung der eigenen Zwecke, etwa dem Erwerb eines großen Vermögens, notwendigerweife mit dem Willen anderer, vielleicht ebenfo energifcher Menfchen zufammenftoßen, die dem gleichen Ziele nachgehen wie er. Er wird fich dann unter Umftänden zu einer Änderung feiner Mittel und Wege, jedenfalls zu einer Rücksichtnahme auf feine Mitmenfchen gezwungen feilen. Ohne folche Rückfichtnahme der Menfdien unterein ander würde ein »Krieg aller gegen alle«, wie der englifche Philofoph Thomas Hobbes (1588 bis 1679) einmal gefagt hat, entliehen, der noch heute im Wirtfchaftsleben oft genug zum Aus druck kommt (Marx). Ja, wenn jedes derartige Rückfichtnehmen auf andere aufhörte, fo wäre ein geordnetes Zufammenleben oder gar ver nünftiges Zufammenwirken von Menfchen zu gemeinfamer Tätigkeit, wie es felbft der An archismus verlangen muß, undenkbar. Was der