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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 27.02.1894
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1894-02-27
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18940227029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1894022702
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1894022702
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1894
- Monat1894-02
- Tag1894-02-27
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Eine große Veranlassung — so schreibt un« ein Ohren- und Augenzeuge der gestrigen Debatte —, aber kein „großer Tag", wie er in früheren Zeiten so manches Mal die Welt eleltrisirt hat. Die Größe kommt nicht aus den Dingen hervor, sie geht von den Menschen aus, die sie behandeln. Dem Reichstag mit feinem, europäische Bedeutung beanspruchenden Beratbungsgegenstandc ist sie bis jetzt fern geblieben. Das Interesse der Abgeordneten stand nicht auf der Höhe der Theilnahme de« Publicum«, welches die Tribünen überfüllte. Das Haus, weit entfernt, vollzählig zu sein, war gut besucht, aber nicht ungetheilt bei der Sache. Die jüngste Rede des Kaisers und die ungcdruckten Aussprüche bei dem Mahle des Herrn v. Bötticher beschäftigten manchen Kops lebhafter, als die Reden des Grafen Mirbachund des Frhrn. v. Marschall. Roch bevor der Staatssccretair geendet, machte sich eine ge wisse Ermüdung bemerkbar. Die beiden Redner gewannen der Frage des russischen Handelsvertrags keine neue Seile ab und sie konnten dies wohl auch nicht gegenüber einer von Theoretikern und Praktikern in Wort und Schrift von allen Seiten beleuchteten Angelegenheit. Gras Mirbach warf sich, wie vor auszusehen, mit aller Kraft auf den schwächsten Punct in der Position, nicht des Handelsvertrags, sondern nur der Re gierung: die Begründung der Verträge mit Oesterreich und Italien mit der Nothwendigkeit, den Dreibund zu stärken. Diese Bresche, welche die Plaidirmethode dcS Grafen Caprivi gelegt» vermag kein Gott auszusüllcn, und Frhr. v. Marschall machte auch gar keinen Versuch dazu. Er traf aber seinerseits die Schwäche des Grasen Mirbach, die die empfindlichere ist, weil sie nicht in der Dialektik, sondern in der Sache liegt. Ter agrarische Führer war an der Stelle vorbeigchüpst, wo er sich am längsten hätte aufhalten müssen, bei der Frage, kann der Differenzialzoll einem Lande gegenüber der Landwirthschast Nutzen, seine Beseitigung mithin Schaden bringen? Indem Graf Mirbach diesen Haupt- und Kernpunct umgangen hatte, hatte er die Legitimation, im Namen der Landwirlh- schaft zu sprechen, preisgegeben. Nicht nur der Mehrbetrag von 1 .6 50 -f nützt nicht«, Frhr. v. Marschall wies vielmehr mit Recht daraus hin, daß der Kampszoll von 7 70 -j den enormen Preisrückgang nicht aufgehaltcn hat. Und noch mehr: nirgends sind die Preise so stark gesunken, wie an der abgespcrrten russischen Grenze. Der extreme Agrarier, seiner Blöße sich wohl bewußt, machte denn auch aus der Nvth eine Tugend. Er warf sich zum Verfechter der durch den Handelsvertrag bedrohten Interessen der Industrie auf! Das konnte nicht wirken und hat selbst aus Diejenigen nicht ge wirkt, die im Geiste ein großes Fragezeichen malten, als der Staatssecrelair des Acußeren sagte: „WaS nach Lage der Sache zu erreichen war, haben wirerreicht". Mehr Zustimmung würde er gefunden haben, wenn er den ZUisdruck „nach Veran lagung der Personen" beliebt hMe. Die Miltheilung des Berichterstatters der Leipziger Handelskammer läßt unsere Verhandlungs-Technik noch immer nicht in einem glänzenden Lichte erscheinen. Graf Mirbach'S Rede war reich an scharfen Spitzen und die „Zurückhaltung", die er sich auserlegte, mag Manchem viel weniger erwünfcht gewesen sein, als ein Ge polter von dem nach des Grasen Versicherung weniger ver antwortlichen Herrn v. Ploetz. Aber cS fehlte seiner Rede der bedeutende Zug, er ließ die Einseitigkeit seines Stand- punctS grell hcrvortrcten; die Art, wie er mit Zahlen operirte. war die der Willkür, und das Schlimmste: was er über die Landwirthschast vorbrachte, waren Allgemeinheiten, die nicht im Zusammenhänge mir dem Handelsvertrag stehen. Der StaatS- ccretair v.Marschall war in der Lage, nicht minder warm und in ubslantiirtererAussUkrung dieHilfSbedürstigkcit des bedrängten Bauernstandes zn schildern. Die Bemerkung des Staats- secretairS, daß die Zustimmung rnm rumänischen Handels vertrag kein Präjudiz für den russischen Vertrag bilde, fand sofort ihre Nutzanwendung durch den Grasen Moltke, der für jenen Vertrag gestimmt hatte und nun Namens „einer größeren Anzahl" von Mitgliedern der Reichspartei diesen ablcbntc. Der Redner vermochte aber nur einen Theil der Abgeordneten sestzuhalten. Ihm folgte als Letzter des Tages Herr Rickert, der dem Reichskanzler huldigte und den Gegenstand der Tagesordnung mit der an ihm bekannten Tiefe und Beschränkung auf das Thema erörterte. Doch war er human genug, noch Andern etwas zu sagen übrig zu lasten. Die Berechnungen über die AnSsichtrn des russi schen Handelsvertrages, die jetzt in den parlamentari schen Kreisen mit großer Lebhaftigkeit eingestellt werden, kommen ganz überwiegend daraus hinaus, daß eine Mehr heit dafür gesichert sei. Die Größe dieser Mehrheit wird allerdings sehr verschieden geschätzt, von einer ganz knappe» bis zu einer ansehnlichen Mehrheit. Das Mittel der Schätzungen bildet ungefähr die Mehrheit für den rumänischen Handelsvertrag «24 Stimmen). DaS ungefähr kann man augenblicklich als die wahrscheinlichste An nahme betrachten. Genaue Berechnungen werten nun durch verschiedene Umstände erschwert: durch den noch nicht genau zu übersehenden Grad der Trennung innerhalb verschiedener Parteien, durch die vielleicht nicht ganz gering fügigen Stimmenthaltungen ober absichtlichen Entfernungen mancher Abgeordneten, durch die zahlreichere oder geringere Anwesenheit mancher Gruppen. Die Haltung des Cen- trumS ist noch nicht genau zu übersehen; man wird der Wahrheit am nächsten kommen, wen» man die Partei bei den Berechnungen ganz aus dem Spiel läßt, da sie sich Voraussicht lich durch annähernd gleiche Spaltung in zwei Hälften selbst aufbeben wird. Was die nationalliberale Fractiou be trifft, so werden in einigen Blättern ganz unrichtige An gaben darüber gemacht. Die Schätzung von 25 Gegnern dcS Vertrags ist um ungefähr die Hälfte zu hoch gegriffen. Von verschiedenen Seiten hört man, daß die Frage der Staffel tarife von entscheidender Einwirkung auf die Abstimmung mancher Abgeordneten sein werde. Daß infolge der vielfachen Erörterungen der Frage, welchen Einfluß die Annahme oder die Ablehnung LeS russischen Handelsvertrags aus unsere auswärtigen Beziehungen haben werde, Gerüchte über bevorstehende Monarchrnbrgrgnnngen wie Pilze ausschießen und Gläubige finden, ist im Allgemeinen begrifflich genug. Unbegreiflich aber bleibt es, daß das von Berlin nach London gedrungene Gerücht, bald nach Mitte März werde in Abdazia eine Begegnung zwischen den Kaisern von Deutschland, Oesterreich und Rußland und dem König von Italien stattsinden, auch in ernsthaften Blättern ernsthaft erörtert wird. Jedenfalls liegt dem Zaren, wie auch die Würfel über den deutsch-russischen Handelsvertrag fallen, nichtsserner,alSeineBcgegnungmitdenHäupterndesDreibundeS. Die „Voss. Ztg." erfährt denn auch von unterrichteter Seite, daß Kaiser Franz Joses und Kaiser Wilhelm während dessen Anwesenheit in Abbazia sehr wahrscheinlich Zusammentreffen werken. Dagegen ist es ausgeschloffen, daß dieser Zusammen kunft der Zar von Rußland beiwohnt, da dieser zu jener Zeit in der Krim weilt. Auch der König von Italien dürfte schwerlich nach Abbazia gehen, um dort mit seinen beiden Bundesgenossen zusammenzutreffen. Es ist bekannt, daß Kaiser Franz Josef den Besuch de« König« Humbert am österreichischen Hose bisher aus gewissen Gründen, die aller dings der DreibunLspolitik fernliegen, noch nicht erwidern konnte. Eine Zusammenkunft de« Königs Humbert mit dem Kaiser Franz Joses in Abbazia, d. b. aus österreichischem Gebiet, erscheint daher mebr als unwahrscheinlich. Für den östrrrrichischen Liberalismus ist der plötzliche Tod de« langjährigen Bürgermeisters von Wie», Dr. Prix, dessen Name mit der Schaffung Groß-Wiens unzertrennlich verbunden bleibe» wird, ein herber Verlust. AIS Prix am 28. Novcmbcr 1889 an Stelle Uhl'S zum ersten Bürgermeister gewählt wurde und zwar im Kampfe gegen Len Eandidalen der Anliliberalen, bst. Lueger, sagte er in einer Ansprache: „So wie sich Wien durch deukscheEultur entwickelt hak, wie Alles, was «s an Denkmälern der Kunst und Wissenschaft besitzt, deutschen Geist und sein ganzes Leben deutsche Gesittung atbinet, so wird cs auch in Zukunft den deutschen Charakter wahren und stets das lebhafteste Intereste an dem Geschicke der Deutschen in Oesterreich nehmen." Nach diesen mit jubelndem Bestalle begleiteten Worten that der neue Bürgermeister den mannhasten Ausspruch: „Auch dafür glaube ich einsleben zu können, daß die Bürgerschaft dieser Stadt an den freiheitlichen Er rungenschaften sestbaltcn und insbesondere aus dem Ge biete der Schule, aus welchem Wien allen Städten voran mit der größten Opserwilligkcil einherschreitet, jedem Versuche einer Rückstauung entgegcntreten wird." In diesem Geiste hat Or. Prix bis zu seinem allzu frühen Tode in Wien furcht los und treu gewirkt. Namentlich in dem Gemeinkerald der Donaustadt war er der unerschütterliche Fels in dem hoch gebendenWogenschwallderantisemitisch-reactionairenBewegung. Die Führer der Letzteren haben bekanntlich durch fast tägliche Provocirung der widerlichsten Scandalscenen im Gemeinderatbc die Würde der städtischen Vertretung mir Füßen getreten. Diesem Gebahren gegenüber hat Or. Prix stets ein rücksichts loses Auftreten gezeigt und ist selbst vor der Anwendung von Gewaltniaßregeln nicht zurückgeschreckt. Dadurch hat er die christlich-social-antisemitische Minorität zu unversöhnlichem Hasse entflammt, aber auch einzelne Mitglieder der liberalen Majorität verstimmt. ES ist wahr, seine Entschiedenheit ging zuweilen bis zur Schroffheit, aber wer die Sitzung- berichte, des Wiener Gemeindcraths aus den letzten Jahren verfolgt hat, weiß, daß die über alle Rücksichten des Anstandes sich hinwegsetzcnde, oft wie rasend sich ge kerbende Opposition ihm ein solches drakonisches Aus treten ausgezwunge» hat. Wer immer Prix' Nach folger sein wird, es ist zu wünsche», daß die beiden Eigen schäften ihn auSzeichnen mögen, die in dem Dahingcschiedenen in seltenem Maße sich vereinigt haben: Talent und Tbatkraft. Die militairische Situation Belgiens wurde be kanntlich in der Soiinabendsitzung der Brüsseler Kammer seitens de« berühmten Fachmannes Generals Brialmont einer eingehenden Erörterung unterzogen. Der Redner ver langte eine über den Schutz des inneren Friedens hinaus gebende Verstärkung deS Heeres, welche es Belgien ermögliche, seine von Frankreich wie von Deutschland bedrohte Neutralität aufrecht zu erhalten. Auf die Eventualität eines künf tsigen deutsch-französische »Krieges exemplisicirend, be rechnete der General die Marschfront einer Arnice von 225 000 bis 250 000 Mann aus eine BreitenauStchnung von 35 bis 50 üm. Deutschland aber disponire Uber vier Armeen in gedachter numerischer Stärke. Ueber welchen Terrainabschnitt könnten diese Armeen in Frankreich ein- brechen? Ueber den Sector zwischen Verdun und MeziLrcs, durch daS Maasthal. Aber da von Metz bis zur luxem burgischen Grenze nur 40 Kilometer Entfernung seien, könnten die deutschen Heere, wenn sie einander nicht drälvgen und so die große Gesabr, in Verwirrung zu geratchen» lausen wollten, nicht ihre» Marsch über jenen Grenzabschnitl bewerkstellige». Mindestens werde der Höckstcommandir'ende einen rechten Flügel durch Belgien gehen lassen. Von den niilitairischen Autoritäten, auf welche der Redner bei Erläuterung seiner Hyvothese emes deutschen Einbruches nach Frankreich ans den Weg durch Belgien Bezug nahm, äußert u. A der General Riviöre, Frankreich könne sich wegen der Bürgschaften, die Belgien ihm mittelst Anlage der Maasbcsestigungen gewährt habe, glücklich schätzen. Denn im Fall einer Verletzung der belgischen Neutralität von deutscher Seite könnten die Maasforts sich lange genug behaupten, um der französischen Armee das Erreichen NamnrS zu gestatten. Bei Prüfung der Eventualität einer französischen Verletzung der belgischen Grenze führte General Brialmont aus, Frank reich könne nicht an einen Angriff Deutschlands von der Rheinscite her denken, wo die Deutschen eine furchtbare Position innchalte», sondern die Franzosen würden durch Luxemburg und den belgischen Theil deS Artennenwaldes »larschirc». Im einen wie im anderen Falle müsse Belgien stark genug zum Schutze seiner Neutralität sein Der Schluß der Sitzung verhinderte den General am Weiterspreche», doch wird er seine Darlegungen in der heutigen Sitzung zu Ende führen, woraus man gewiß gespannt sein darf. Tie Frage der Candidatur für die Präsidenten wahl der sranziifischcil Republik beschäftigt die französische Presse, seit man zu wissen glaubt, Carnot wolle nicht wieder cantltiren, auf das Lebhafteste. Ein triftiger Grund für die Resignation des Präsidenten ist allerdings nicht erfindlich, e« müßte denn scine erschütterte Gesnndhcil sein, die es ihm verbiete» könnte, sich den Strapazen des WablkampfcS uud den Anstrengungen des hohen Amtes nochmals auszusetzen. Sollte Carnot wirklich regierungsmüde sei», so wäre es im Interesse der Republik nur zu bedauern, denn in den sechs Jahren seiner Präsidentschaft hat derftlbe — wenn auch nichts besonders Hervorstechende- geleistet — so doch als Mann von unantastbarer Ehrbarkeit, sein aus gebildetem Tactgcsübl uud unleugbarem diplomatischen Geschick Nichts verdorben »nd den revanchedurstigen Chauvinismus seiner LandSlentc wenigstens soweit zu zügeln verstanden, daß es zn internationalen Conflictcn — allerdings bat die kühle Rübe und Besonnenheit der deutschen Regierung hier mehr als einmal das Ihre mit gcthan — niemals gekommen ist. Natürlich nimmt bei der Frage der Präsidentenwahl die Person des wahrscheinlichen Nach folgers von Carnot das größte Interesse in Anspruch. Schon lange, bevor Casimir-Pericr Ministerpräsident wurde, bezeichnet«: ihn seine Partei bereits als den zu künftige» Präsidenten der Republik; aber cs fehlt auch nicht an Concurrcnten, wie Brissv», Challcmcl-Lacour, Dupu») und Constans. Als Casimir-Pericr den Präsi- dentensestcl des Ministeriums cinnahm, da glaubte ihn alle Welt für die Präsidentschaft der Republik verloren und zwar wegen der unvermeidlichen Gefahr de« Sturzes, die be sonders damals bei jedem Minister früher oder später kommen müßte. Aber das Blättchen hat sich gewendet, und Casimir-Pericr hat sich einen entscheidenden Einfluß im Ministerium und in der Kammer gesichert, der sich in allen Abstimmungen geltend macht; sein Einfluß auf die ganze politische Welt ist eben unbestreitbar. Man sagt eben von ihm — was man schon so lange von keinem Minister mehr sagen konnte, daß er ein Mann von Charakter und unfähig sei, etwas zu versprechen, waS er nicht Feuilleton. Ellida Silström. 24s Roman von H. Palrns-Paysen. Nachdruck »ertöte». (Fortsetzung.) Als sich der zweite Act dem ersten ohne besonderen Beifall angereiht, hatte Zinndors es nöthig zu haben geglaubt, ihr znzurusen: „Immer nur Courage haben, Selbstvertrauen! ES hängt von Jedem selbst ab, rb er Held oder Schwächling sein will — halten Sie es mit der Willenskraft und nicht mit der schlaffen Hingabe, der setzt das Publicum den Fuß auf den Nacken. Den Kops doch bis zum letzten Atbemzug: Wen» die Leute jetzt im dritten Act nicht warm werden, nicht in Gluth gerathen, dann fließt Fischblut in Ihren Adern, kann —" Er redete sich förmlich in die Wuth hinein, socht nervös mit feinen Armen in der Luft herum, während Ellida, gegen eine Säule gelehnt, mit vollkommen ruhigen GesichtSzügen ein Bild größter Gelassenheit und Fassung darbot. „Wie sie sich verstellen kann", zischelte eine ihrer neidischen Genossinnen. „Nein, Beherrschung ist-, keine Verstellung", berichtigte die Angeredete „Das ist ihr schon recht", triumphirte eine Dritte, „ihr unausstehlicher Hochmuth verdient Strafe." „Heute lernt sie Demuth." „Sieht mir nicht danach aus." „Es muß erst noch schlimmer kommen —" „Wird sie auSgezischt —" >,Dann ist der verrückte Anzug Schuld, — denn zu tanzen, versteht sie, das muß man ihr lasten —* bemerkten wiederum Andere. „Da sieht man, wie daS Publicum ist —" „Ungewohnte Neuerungen sind hier nicht am Platze." „Vom Althergebrachten läßt eS nicht ab —" „Wie die Sonsidia lachen wird —" ,AH, die Sonsidia —" .sind nun kam diese unter da« Messer der Kritik. In zwischen hatte sich Edith Honneager au« dem schwatzenden '"«Hs der Taazrrion«» herauszewst. Zögernd und mehrmals wieder umkchrend schritt sie endlich auf die andere Seite der Coulisten, dorthin, wo Ellida Silström verlassen dastand. DaS große, überscklanke Mädchen hatte sich mit Hilfe ver schiedener Toilettemittrl, Watte, Augenwimperschwärze, Puder und Schminke, die ihren von Natur fast durchsichtig weißen Wangen die nötbigc Röthc gab, nach Kräften berausgeputzt. Sich in den Hüften wiegend, so daß die schwellenden Gaze- kleider in schwankende Bewegung gerietben und der Atlas des engaepreßten Miether« knisterte, zuletzt eine kübne Pirouette drehend, kam sie lächelnd auf Ellida zu. Eine gewisse Be fangenheit spiegelte sich trotzdem in ihren Zügen ab, so sehr sie sich auch bemühte, harmlos und heiter zu erscheinen, und auch der lustige Ton, in dem sie ihre Anrede zu kleiden ver suchte. verrieth ersichtlichen Zwang. „Ich habe zu Hause Ihre meisterhaft ausgeführten Tanz schritte, Wendungen und Bewegungen einmal nachzuabmen versucht, Fräulein Silström, doch vergeblich — nichts wollte mir gelingen — waS bei Ihnen hinreißend ist, sah bei mir plump, ja abscheulich aus." „Sie sind zu bescheiden, Fräulein Edith", antwortete Ellida freundlich. „Ich möchte Ihnen das Lob zurückgeben." Ellida lächelte und blickte daS große Mädchen mit einem lieben Blicke an. Sie fühlte cS wohl heraus, daß jene nur gekommen war, um sie etwa« aufzubeitern und ihr etwas Theilnahme zu beweisen. Am Ende hielt Edith sie gar für sehr niedergeschlagen und trostbedürflig — ganz ohne Grund. „Ich bin nicht traurig", sagte Ellida, offen wie sie war, ohne allen Uebergang, und Edith verstand sie sofort. DaS Blut stieg ihr in die Schläfen. „Ich könnte weinen vor Zorn", flüsterte sie. „Nicht doch, solch' kostbare Thränen dürfen um solcher Nichtigkeit willen nicht fließen." „Nichtigkeit! Es bedeutet doch Ihre Zukunft." „Finde ich diese nicht hier — nun, dann andcrSwo", ant wortete Ellida wohlgemuth. „Sie sind so ander«, als Andere, o, ganz anders. Aber denken Sie nicht, daß Sie ganz ohne Freunde sind, eine ganze Schaar Ihrer Genossinnen — ich habe überall umhergesorscht und gehorcht — schwärmt für Sie. betet Sie an. Eine jede ist Ihnen gegenüber von dem Gefühl der eigenen Unbedeutend heit durchdrungen und deshalb wagt cS keine, sich Ihnen zu nähern, ausgenommen ich dreiste« Geschöpf. Sie stehen so hoch über uns allen und es ist mir manchmal so, als ob Sir aus dem Himmel gefallen wären und gar nicht hierher auf diese mangelhafte Erde gehörten." Edith HonneggerS geläufige Zunge hätte diese mit steigernder Wärme bervorsprudelnde Liebeserklärung gewiß noch erweitert, wenn nickt die weithin schallende Glocke des Inspicientin den Strom ihrer Bcrcdtsamkeit unterbrochen hätte. Sie behielt nur noch Zeit, Ellida's Hand zu drücken und ihr etwas zu- zuflüstcrn, was ihr schon lange auf den Lippen geschwebt, ohne baß sie den Muth hatte finden können, cs auSzusprechen. Aber die Angst um das Fortkommen und den Erfolg dieser sie voll ständig bezaubernden Kunstzenossi», zu der sie nichl nur neidlos, sondern mit einer überschwänglichen Begeisterung ausblickte, erhöhte in diesem Augenblick den brennenden Wunsch, ihr nützen und Helsen zu können, und so sagte sic denn: „Ich wünsche Ihnen Glück, wenn ich auch weiß, daß es sich heute Abend nicht einstellen wird, nicht kann. Warum nicht? werden Sie fragen, ich weiß eS. Es fehlt Ihnen unter jenem hundert- köpfigen Publicum ein Mensch, eine Persönlichkeit, der sich sür Sie mteressirt, der Sic beschützt, der sich zu Ihrem Verehrer und Schirmherr» auswirft — es muß heraus — zu Ihrem Liebhaber. Gewinnen Sie dort unter den vielen, einflußreichen Männern einen solchen, und Einer genügt, dann sind Sie ge borgen, Fräulein Silström, mögen Sie nun tanzen, schlecht oder gut, dann ist Ihre Zukunft gesichert — Schönheit, Jugend, Talent, Sittenrcinheit allein vermögen cs nicht. Sie werden damit nicht hoch kommen. Sie werden cS nicht, nicht mit dieser Zurückhaltung, nicht mit dieser hilflosen Ergebung, Liebste, Beste, Engelskiud." Wunderbar, welchen Eindruckes bei noch nicht ganz ab gestumpften Gcmülbern der Blick eine- Menschen fähig ist Kaum batte Edith Honncgger geendet, H hätte sie Gott weiß ivaS darum gegeben, ikrc Worte unaespro'chen machen zu können, Ellida sah sie an. Es war ein Blick, so klar »nd sprechend, in die Seel« dringend, ein Blick, der zürnte und doch wieder vergab, der zurückwieS und doch wieder anzog, der Stolz zeigte, Entrüstung und dabei eine Traurigkeit, ein Gequältsem, das in die Seele schnitt. Hätte sie nur nichl gesprochen, oder thäte sich dock der Erdboden auf, sie hinunterzuzieben in seine Tiefe, damit Ellida Silström nicht die glühende Rötbe bemerke, die sie in ihr Antlitz steigen fühlte, so brennend heiß, daß selbst die Schminke keinen Schutz dagegen gewähren konnte. Edith Honncgger schlug in ihrer grenzenlosen Verlegenheit die sonst so frciblickcnden Augen nieder. Ellida aber sagte ruhig, doch traurig: „Unter solchen Be dingungen, so niedrigen, möchte ich niemals daS sogenannte Glück erjagen, liebe Edith. Ich müßte mich ja vor mir selbst und erst recht vor meiner Kunst schämen. Ein Beifall, der lediglich dem Reize meiner Person gilt, nicht dem Reize meiner Kunst, hat gar leinen Werth sür mich." „Aber Sie könnte» doch Manches vermeiden, was — Sie könnten sich den Gebräuchen fügen — ich meine den Anzug — cs befremdet — c« —" stotterte Edith beschämt und verwirrt. Ellida schüttelte das Köpfchen. „Fern sei eS mir, prüde zu sein und mich dessen weigern zu wollen, waS meine Kunst erheischt DaS kemmt mir nicht in den Sinn — ich will so anmuthig und so reizend sein, wie cS möglich ist. aber nicht um der Menschen, sondern wiederum nur um der Kunst willen. Gefallen will ich, o gewiß, und geliebt und begehrt werden, nicht um meiner selbst, sondern um meiner Kunst willen." „Aber daS gelingt Ihnen nicht. Wer Ihre Kunst liebt, der möchte auch die Künstlerin lieben und begehren, die ihn entzückt, und so werden Sic hineingezogcn in den Wirbel des Lebens, ob Sie nun wollen oder nicht." „Glauben Sir, daß man so machtlos den Verhältnissen gegenüber siebt? Das wäre traurig. Eine Künstlerin, die ihre eigenen Interessen, Alles, was außerhalb ihrer Kunst steht, und somit also auch ihre Person, nicht zurückzubrängcn im Stande ist, ist in mcinen Augen keine rechte Künstlerin. Sie darf sich auch nie genug gctkan haben, sic darf nie fertig sein. Fleiß und Streben ist sür sic etwas Heiliges, daS Sehnen nach Vervollkommnung etwas Selbstverständliches. Um schnöder Zwecke willen die Kunst zu entweihen, daS entehrt sie und uns selbst, und aus kiese Weise möchte ich nickt zu Rubin und Ehren gelangen. Gott verhüte, daß ich jemals anders denke." Edith Honncgger stand da, wie niedrrgeschmettcrt. Und dock batte das junge Mädchen nichts weniger, als zurccht- wcisend, sondern sanft und ruhig gesprochen, ja ihr, der Verwirrten und Beschämten, die Hand gegeben, und au« ihren blauen Augen leuchtete jetzt ei» freundliche- und mildes Licht. „Eine solche Auffassung ist mir noch nicht durch den Sinn gegangen", stotterte die Tänzerin, „ja, ick, habe überhaupt noch nicht darüber nachgedacht. Aber, Fräulein Silström, wenn nun —" sie stockte. „Nun?" ernlutkigte Ellida. „Sie können mir Alles sage» — wenn ich nur selbst offen bleiben darf."
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