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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 30.03.1894
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1894-03-30
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18940330021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1894033002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1894033002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1894
- Monat1894-03
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Miguel sei vom Reichskanzler im Stiche gelassen und die Durch- beratbung der wichtigsten Stenerresormvorlagen sei bis zur Winlertagung des Reichstags verschoben. So liegen die Dinge aber jedenfalls nicht. Mag auch vielleicht Gras Caprivi persönlich den Wunsch hegen, daß in die weitere Be ratbung der Tabak- und der Weinsteucrvorlagc erst eingetrelen werde, wenn cs ihm gelungen ist, mit den konser vativen wieder aus besseren Fuß zu kommen, so muß er als Reichskanzler doch etwas Anderes wünschen und erstreben. Und überdies ist er nicht die Reicks- rezierung. Tie verbündeten Regierungen baben ohne AuSnabmc die dringendste Beranlassung, zu fordern, daß der Reichstag noch im Lause seiner jetzigen Tagung Stellung zu Len sämmtlichen Stenerresormvorlagen nehme. Bei der Eröffnung des preußischen Landtags bat der König cen Satz: „Die Schwierigkeiten i» den Einzelstaatcn können nur durch eine durchgreifende Neuordnung der finanziellen Berbältnisse des Reiches und eine angemessene Bermchrung seiner eigenen Einnahmen gebobcn werden", mit besonderem Nachdruck verlesen; die meisten anderen einzelstaatlichen Landtage sind mit Thronreden ge ichsoffen worden, welche die Nothwendigkeit und Dring lichkeit einer solchen durchgreifenden Neuordnung der finanziellen Berbältnisse des Reiches aus das Nachdrücklichste betonten. Tic verbündeten Regierungen würden sich also selbst dementircn und ihre Finanznoth selbst verlängern, wenn sie obne einen durch dauernde Beschlußunsähigkeit des Reichs tag» herbcigeführlen Zwang die Entscheidung über die Steuer rcsorm bis zum Winter hinausschieben wollten. Herr vr. Miguel Kat als cinzeistaatlicher Finanzminister an der Durchführung dieser Reform kein größeres Interesse, als jeder seiner Col lege» in den anderen Einzelstaaten. Es ist also auch eine Thorhcit, zu sagen, er besonders oder er allein werde im Stich gelassen, wenn die Entscheidung verschoben wird. Tie Reichsregierung läßt sich selbst im Stich, wenn sic ohne Nolh in eine Verschiebung der Entscheidung willigt. Das hat auch in der Reichölagssitzung vom 1l. Januar der ReichSschatzsecrctair Graf von PosadowSky-Wehner klar und deutlich mit den Worten ausgesprochen: „Die drei Steuergesetzentwürse beruhen aus den Beschlüssen der Frankfurter llon seren z, also aus der Initiative der Gesa mmt heit der Bundesstaaten, sie sind daraushin im SieichSschatz amt unter meiner Leitung ausgearbeitet und demnächst unter Zuziehung von Vertretern mehrerer Bundesregierungen und preußi- ichen Ressorts berathea: der Herr Reichskanzler hat sie gut geheißen und dem Bundesrath vorgelegt-, der Bundesrath hat lie sehr eingehend berathen, theilweise sogar abgeändert, und io sind ge formal und sachlich eine Vortage der verbündeten Re> gierungen für den Reichstag geworden. Und die verbündeten Re> gierungen denken gar nicht daran, auch nur eine dieser Vorlagen zurückzuziehen, auch nur eine diejer Vorlagen abzuschwächen; im Gegentheil. sie bestehen aus einer eingehenden Durch, berathung und geben sich der Hoffnung hi», daß Sie im Interesse des Vaterlandes die Boriagen annehmen werden." Wenn eS gleichwohl zu einer Hinausschiebung der Durch berathung kommen sollte, so könnte hieran nur der Reichstag durch dauernde Beschlußunsähigkeit die Schuld tragen Tic verbündeten Regierungen würden dann auch dasür sorgen daß über diese Schuld kein Zweifel bliebe. Am wenigsten aber könnte der Reichstag eine solche Berscklcppung vor den durch die Stcucrvorlagen in Unrube versetzten Interessenten verantworten, die das größte Interesse daran haben, so bald als möglich über daS Schicksal der Vorlagen ins Klare zu komme». Ganz besonders gilt dies von den Interessenten der T a b a k i n d u st r l c, die, durch die ewigen Steuerprojecte lange genug beunruhigt! worden ist und nickst eher auS dieser Unruhe zu stabilen Ver > bättnisscn gelangt, als bis eine Entscheidung über daS neue Bcsteuerungsproject getroffen ist. Diese Interessenten baben also die begründetste Ursache, sich von consusen Reporter nieldungen nicht beirren zu lasse» und in die ReickStagS- abgeorduelen zu dringen, daß sie Ausdauer und Pstickstgcsükl genug bclhätigeu, um sämmtliche Stenerresormvorlagen noch m der laufenden RcichSlagssession zu Ende zu berathen. Am 1. und 2. Januar batte Major von Francois einen bestigen Strauß mit den WitboiS in der Torisibsckstucht. Er besiegte sie und schlug sie in die Flucht. Nach der Aus lage gefangener Frauen war der Verlust der Feinde groß, auf deutscher Seile waren drei Mann leicht verwundet. DaS Gelände ist dort sehr zerklüftet, und es ist geradezu ein Wunder, wenn die Schutztruppe einmal den Feind zum Stehen bringt. Wir haben deshalb auch immer, wenn man den Major von Fran>.oiS tadelte, daß er Henry Witdoi nicht ge fangen nehme, aus diese Schwierigkeiten hingcwiesen und mit Aistlage» gegen Lenselbe» zurückgehalicn. Henry Wilboi ist ein zu schlauer Fuchs, al« daß er sich der Sckutzlruppe im offenen Kampfe stellen würde, sein System ist der Guerillakrieg, der uns freilich viel Schade» verursacht. Von der Dvrisibschlucht aus wandten sich die WitboiS nach Süden und Lie Schutzlruppe folgte ihnen. ES ist sehr wahrscheinlich, daß letztere nur aus zwei Compagnien bestanden hat. Wenn das der Fall ist, dann ist auch richtig, d.ß Premiertieutenain von Francois nicht mit auf dem KriegSpjade ist und in Windhoek weilt, wo er nach einer neck' unverbürgten Meldung die ehrengerichtliche Untersuchung gegen sich beantrage» sollte. Tie beide» Compagnien haben nun den Feind verfolgt und, wie ein heute cingclrosieiieS Telegramm besagt, ihn im Tsaukkabthate gestelll und ihm am 20. Januar und 2. Februar zwei empfind liche Nieder lagen beigebrachl. Die Stelle, wo der Kamps wahrscheinlich stattgesunden hat, liegt etwa zehn Meilen südlich vom Kriegsschauplätze des l. Januar und ist von diesem durch daS Nuuibeb Gebirge getrennt. Aus diesen Zahle» kann ma» begreife», wie schwierig die Verfolgung der WitboiS, die sich jetzt nach Grotfontcin zu wenden, ist. Daß Henry Witboi selbst am Kanipse bctheiligt gewesen sei, wird in dem kurzen Telegrammen nicht gesagt. Es ist auch nichl sehr wahr schcinlich, da er» um Munition zu holen, z» den Engländern geritten sein soll, wie ein an anderer Stelle abgetruckter Bericht besagt. In Böhmen und Mähren bereitet sich eine neue Partei gruppirung innerbatb des Tschcchenthums vor. Die Omla dinisten haben den Iungtschechen de» Krieg erklärt, und diese extremste Partei, die sich aus Len Iungtschechen herauS- gebildei hat, scheint nun für diese eine ebensolche Quelle der Verlegenheiten zu werden, wie es die Iungtschechen für die Alltschcchen waren. Tic Omladinisten haben den Beschluß gefaßt, sich als selbstständige Partei zu organifiren, haben auch schon ein PreßcomitS gebildet und einen großen Thcil der junglschechlschen Localbläilcr in Böhme» und Mähren für sich gewonnen. Die neue Partei bat bereits ihre selbstständige Aclion eröffnet, wie die Vorgänge in Iungbunzlau, Lomnitz und Wottitz bc weisen, und sie beruft allerorten Versammlungen ein Tic neue Partei-Organisation findet bei der tschechischen Landbevölkerung Anhang und bedroht die Existenz der Jung tschechcnpartci. Ter bisherige Führer der Iungtschechen in Mähren, vr. StranSky, bat in einer Versammlung in Mistel der Iungtschcchcnpartci den Fehdebandschub zugc- worfen und sie der Feigheit beschuldigt, weil dieselbe ihre Zusammengehörigkeit mit den Oniladinisten verleugnet. Gleichzeitig hat er die einzige Errungenschaft der Zung- tschechcn ii» ReichSratbe, die Bildung der gegen die RcgierungScoatilion gerichteten slawischen Eoalition, aus das Heftigste angegriffen. Es scheint also ein neuer leidenschaft licher Kamps un jungtschechischen Lager zu beginnen; man wirft insbesondere de» Abgeordneten Herold, Kaizt und Eim ibr Verballen im ReichSratbe vor, beschuldigt sie eines sträf liche» Opportunismus und behauptet, daß sic mit der Re gierung, mit den Pole» und der Linke» des Abgeordneten hauses verhandeln. Diese Beschuldigungen der Omladinisten werden in den junglschcchischen Kreisen Böhmens uno Mährens verbreitet und geglaubt, und bei dem Charakter der Tschechen ist es nichl ausgeschlossen, daß die Omladinisten die Iu»g- tsckechen verschlingen werden, wie diese die Altlschcchen ver schlungen haben. DaS jungtscheckische Cxecutiv-Comitö berätk eisrigst über Mittel, wie eine weitere Spaltung in der Partei zu verhüten sei. Aber was kan» viel Gutes dabei berauS kommen, wo Iungtschechen »nd Omladinisten sich kaum noch dem Namen nach unterscheiden? Allerdings wäre jetzt für die juiigctschechische Partei die beste und wohl die letzte Ge legenbeit, auf der abschüssigen Bahn umzukchrcn, aber werden sie es thuu? Auf dem Parteitag der österreichischen Social dem o- kraten, a» dem bekanntlich auch die Koryphäen der dcnlschcn Socialdcniokratcn lbcilnebnic», bat cS sich wieder ans das unwitcrleglichste gezeigt, daß die Führer nicht mcbr die alte unbedingte Macht über die Truppen haben, daß die Zeiten vorbei find, wo ein Wink mit dem Finger genügte, um tobende Stürme zu entfesseln oder zu beschwich tige». Hauptpunct des BcrbantlungS - Programms war die Stellungnahme gegen das Wahlresormproject der Regierung und die stricte Forderung des allgemeinen Wahlrecht». In dieser Frage waren die Gesellschajtsstürzer, Lehrer wie Schüler, einig, nicht aber in der ungleich wich tigeren. welche Mittel zur endlichen Erreichung de« schon lange angestrcbtc« Zieles zu ergreifen seien, und namentlich ob man zum allgemeinen Massen ausstand schreite» solle. Wie gemeldet wurde, sprachen sich sowohl die deutschen Gaste als die österreichische Parteileitung einstimmig gegen die alsbaldige Anwendung dieses letzten Mittels aiiS da aber auS der Mille der Versammlung dieselbe stürmisch verlangt wurde, und eine Anzahl Redner unter dem Beifall der Genossen einen sehr drohenden Ton gegen den Bcrralh der Parteileitung und die Bevormundung der Herren Bebel und Singer anschlugen, zeigten sich die „Führer" schwach genug, nachzugcbcn, und Vr. Adler selbst, der am lautesten einem vorsichtigen BorwärtSschrcitcn daö Wort geredet batte, sühne, unterstützt von den übrigen „Besonnenen", einen Beschluß herbei, demzufolge der Partei Vorstand beaujtragt wurde, alle Vorkehrungen zu treffen, um falls" die Hartnäckigkeit der Regierung und der bürgerlichen Parteien daS Proletariat zum „Aeußerstcn" zwingen sollte, den MassenauSstarid als „letztes" Mittel im „geeigneten" Zcitpunct anordnen zu können. Damit glaubten die Hilter des „heiligen Fcuerö" der Revolution ei» ganz besonderes diplomatisches Meisterstück geleistet zu haben »nd gaben sich der Hoffnung bin, daß cs nun mit dem zweischneidigen Generalstreik gute Wege baben werde. Aber sic sollten sich in dieser Hoffnung gewaltig getäuscht sehen: hatten sie den Massen auch nickt den Willen getban, Lie Mine eigenhändig fliegen zu lassen, so hatten sic doch die Lunte neben den Pulversack gelegt, und diese Inconsequenz, dieses feige Nackgeben sollte äch alsbald rächen. Allerdings war das Proletariat darin mit seinen Führern eins, nur tvrnn es zum „Aeußerstcn" käme, rer Gesellschaft den Streikbandschub binzuwersen, aber die Massen desinirten dieses „Aeußcrste" nach ihrer Art und meinten, cS sei jetzt schon dazu gekommen, es sei „geeignete" Zeit, zum „letzten" Mittel zu greisen, als ein Währinger GaSarbcitor gemaßregelt wurde, und noch während die ckii uperioro^ weisen RatbeS pflogen, or^anisirten die ckii minoros aller Stille und aller Eile als «ignal zum Generalstreik :n Wiener GaSarbeiter a uSstand, der, wie unsere letzten telegraphischen Meldungen besagen, bedrohliche Dimensionen anzunehine» und auch die übrige Arbeiterschaft Wiens in Mitleidenschaft ziebe» dürste. ES ist nun ja nicht wahr scheinlich, daß der Streik fick aus die gesammlc Arbeiterwell der österreichischen Monarchie ausdehnen wird, aber das vor zeitige Losgebcn der Gewehre ist eine Mahnung an die Arbeit geber, aus das „Aeußcrste" gefaßt zu sein und sich darnach einzurichtcn, eine Mahnung, die sicher besolgt werden wird. Daß der zu einem sehr wenig „geeigneten" Zcitpunct in Scene gesetzte Vorstoß in Wien resultatloS verlausen und nur für die betreffende Arbeitcrclassc von den empfindlichsten Nach- tkeilcn begleitet sein wird, dürfte sich bald zeigen. Ter französischen Polizei ist cS gelungen, einen recht lehrreichen Blick in die Geheimnisse der anarchistischen Propaganda zu Wersen. Bei einer von dem Gerichtshöfe in Bcndomc gegen drei Anarchisten geführten Proceßver- bandlung stellte fick nLmlick heraus, daß die sauberen Burschen im Besitz einer reichhaltigen Sammlung von DiebeSwerk- zenge» sowie einer Anzahl Silberbarren Ware», welche offenbar a»S dem bei ibren verschiedenen Einbrüchen zufaiiimengestohleiien Silbergerätk eingeschmolzen waren. Dieser Fund lehrt die Anarchisten, welche bekanntlich selbst für ibr verruchte- Treiben die idealsten Beweggründe anzu- sühren lieben, von der wahren Seite kennen. BiSbcr war cS unausgcklärt geblieben, wober die Anarchisten daS zur Insceniriing ihrer Mordanschläge, zur Etablirung ikrcr Sprengboiiibciiwerlstältcn benötbigte Geld erhielten. Man nabin an, daß die active Propaganda von einigen wokl- situirten, fick selbst aber weislich im Hintergründe haltende» Doctrinären gespeist würde, wie sa auch die SocialdemokratiL sich steinreicher Gönner und Förderer erfreuen soll. TaS mag immerhin vereinzelt der Fall sein, aber die Erfahrung der französischen Polizei tbut dar, daß der Anarchismus mebr als eine Sebne an seinem Bogen hat und daß er das in der socialdciiiotratischen Schule gelernte Pensum, soweit cS die Bogelfreibeit des EigenthumS betrifft, nicht vergessen bat. Er handelt »ach der Lehre: Eigcnibum ist Diebstadl, nicht nur, indem er fremde» Gut zerstört, sondern auch indem er e» sich selber ancignct. Ein „comdle" wäre cS jedenfalls gewesen, wenn cs den Anarchisten gelungen wäre, in Paris ein Bankgeschäft zu errichten, welches die Hehlerei im Großen betriebe» und den Genossen die jeder zeitige Verwendung gestohlenen Gutes ermöglicht hätte. Man darf einigermaßen gespannt sein, ob die zart besaiteten Seelen, deren Gewissen sich gegen die Behandlung der Anarchisten als gemeiner Verbrecher bis jetzt sträubte, weil sie ja „nur" den politischen Mord cultivirten, fortan vernünftig werden. Tie Onalisicirung der Anarchisten als „politischer" Verbrecher war logisch von jcbcr unhaltbar, jetzt stebe» ibr 'auch acten- mäßig erwiesene Tbatsacken entgegen, welche sich durch keinerlei dialektische Spitziindigkciten kinwcgdisputircil lassen. Die Schlußfolgerung daraus sollte sich eigentlich von selbst ergeben. AuS Madagaskar in Marseille eingctroffene Privatbriese und Zeitungen eniwcrscn ein sehr düsteres Bild von den seit Monate» aus der großen afrikanischen Insel herrschenden Zuständen. Die HovaS find in voller Gährung, soweit sie Feirilletsn. Medea. Ein bürgerlicher Roman von Wilhelm WolterS. Nachdruck verboten. «I (Fortsetzung.) „Oh . . .»" erwiderte Paul in einem Tone, der alles Mgliche bedeuten konnte. Die Frau Präsident bedeckte sich schweigend mit dem Tuche die Augen. „Ich darf Sie doch meiner Freundin, der Frau Rentier Langlotz vorstellcn?" fragte sie, nachdem sic das Gleichgewicht ihrer Seele wiedererlangt batte. Paul bekannte der Frau Rentier, daß er schon das Ver gnügen gehabt, Fräulein Tochter kennen :u lernen, und fügte in Gedanken seufzend hinzu, wie schrecklich ihm jetzt alle diese Phrasen seien, jetzt, da er nichts Anderes hätte thun mögen, als gleich hinlaufen zu der, für die allein er ge sprochen, und sie fragen: nun? was antwortest Du mir? Es war ihm heiß geworden, und er strich sich mit dem Tuch ben Schweiß von der Stirn. Noch das Essen, die Ehren- xolonaise mit der Frau Präsidentin, eine Polka mit Fräulein Jda und dann ... Zwischen Frau Rentier Langlotz und die Frau Präsident geklemmt, wurde Paul allmählich nach dem Speisesaale nebenan geschoben, in welchem auf zwei langen Tafeln Lie Plätze bereits vertheilt waren. Am Vorstandslische oben standen wartend zwei junge Mädchen, Nackt und Morgen röthe, dünkte «S Paul: Fräulein Jda und sie, deren Vor namen er nicht einmal wußte. Sie hielt sich mit der Rechten an der niederen Stuhllehne hinter ihr; die Linke hatte sie sinnend an die Wange gelegt, unter dem cmporgebobenen Arme ringelte sich ibr, schwarzen Schlangen gleich, daS Haar lose über die Schulter hinab, ibre großen dunkele» Augen starrten, als ob sie Alles um sich herum vergessen, träumerisch in- Leere. „Ab, da seid Ihr ja schon!" ries Frau Langlotz. Die Träumerin erwachte, ließ die Hände sinken und sah Paul Eine Sccunde nur, rin Blitz von einem Augenpaare zu dem anderen hinüber und berüber: elektrische Botschaft und Antwort — wa- braucht eS mehr als da»? Alle ungewisse Angst ist vorüber, Herz um Herz verpfändet mit diesem einen Blicke, so fest wie mit tausend Eiden. Noch ein Blitz: „Näheres später. . . wenn die Zeit dazu gekommen." Und nun kann man einstweilen sorglos au die unabweisbare Arbeit gehen. Keine der Umstehenden ahnte diesen stillen, verschwiegenen Depeschenwechset mitten durch Las Stimmengemirr, das Menschengewogc dcS Saales. Jda schaute zu Boden in dem Gedanken an das nun Kommende, Lie beiden Frauen aber waren mit cinem eigene» Austausche von Blicken beschäftigt. „Ach, liebe Frau Präsident", sagte Frau Rentier Langlotz, „wir waren das vorige Mal so weil auseinander placirt und haben uns nachher bei der Fülle kaum gesehen, ich konnte Ihnen noch gar nickt Iba s Gast vorstellcn, eine ihrer ehemaligen Schulkameradinnen und die Tochter einer meiner Iugcnvbckannlen, Fräulein Martka Reiche." Martha also . . . Man setzte sich. Paul, seiner Tischkarte gemäß, neben Fräulein Jda, gegenüber der Frau Präsident, die galanter- weisc Herrn Neumann-Heiberg sich zum Nachbarn e>koren. Links neben Paul Krau Langlotz, zu deren Linken Martha. Wunderbar. Da saß er nun zwei Plätze weit von ihr, nach der er sich Wochen hindurch gesebnt, zur Seite einer Anderen, kaum im Stande, Jener einmal zuzutrinken, Stunden vor sich, bis er da- erste trauliche Wort mit ihr tauschen sollte, und doch ebne jede Ungeduld, mit der heiteren Rübe des Besitzenden. Wunderbar. Zwei Schritte von der Ge liebten, ui» ihn herum eine fremde lärmende Menge und er, die Augen lächelnd aus die Tafelkarle gebestct, als ob er jede- ihrer Worte lies in sein Gedäcktniß prägen wollte, mit seinen Gedanken weit fort in vergangener Zeit, in philosophischen Betrachtungen versunken. Er weiß es selbst nicht, wie er plötzlich daraus gekommen, aber er muß daran denken, wie oft er damals, als er in der Fremde umberzog, mit fiebernder Bangigkeit Nachricht hcrbeigewünscht auS der geliebten Hei matb, Nachricht von seinem alten Mütterchen, und wie er den Brief, wenn er kam, zufrieden in die Brusttasche gesteckt, ibn am andern Morgen zu lesen. Ja, ja, so ist« . . . nun ha« es ja keine Eile mcbr. nun man - in den Händen hält, da« Glück, nun laßt uns schwatzen und scherzen, da» scheue Edel wild ist eingesangen, und eS nutzt ihm nickt«. daß eS den Kops wendet, wenn zufällig mein Blick eS streift . . . nun ist nichts mebr rückgängig zu machen, mein Lieb, mein Glück. Ja. mein Glück, eS gekört mir, mir ganz allein, und ick allein weiß c«, weiß allein, woraus ich jede- Glas leeren werde. Und der egoistische Paul scherzte und lackte, nur an sein Glück denkend »nd nicht an das der armen unglücklichen, glückliche» kleinen Häßlichen »eben ihm, deren bescheidenes, von der Frau Präsident um seine Ruhe gebrachtes Herz bei jedem seiner Blicke zitterte — er lachte und stieß mit ihr und mit den Nachbarn in der Runde aus Alles an, worauf an zustoßen von höherer Stelle besohlen, und hörte mit Andacht auf Alles, was von höherer Stelle gesprochen wurde. Und daS war nickt wenig. Präsident Horn zwar, dein die vorlaute Schwatzhaftigkeit seiner Doppelsohlc» die ohnehin an solchen Abenden ein wenig gedrückte Laune sehr verdorben, da ein Blick seiner Gattin ihm angedeutct, welche Belohnung ihn zu Hause erwarte, mäßigte sich in seiner Begrüßung cinigcrinaßeii, und der dies malige Vergleich des Verein« mit einem sich aus Kinderschuhen glücklich berauSentwickeltcn Jünglinge, der hoffentlich zum kräftigen Manne reisen werbe, fiel trotz aller möglichen drohenden Gefahren, denen man ans dem Wege bis dabin noch werde trotzen müssen, weniger umfangreich auS als jener neulich mit der Pflanze; dafür ergriff aber zwischen Fisch und Rehkeule ein Ernsistorialratb a. T. da« Wort in des Worts verwegenster Bedeutung, um an der Hand der Geschickte die Existenzberechtigung teS BereinS mit klassischen Borbiltcrn zu beweisen. Als er nach Verlauf einer reichlichen Viertel- liunde beim siebenten Jahrhunderte post OkriKum »ntum an gelangt war, ging ein Stöhnen durch den Saal, welches ver mutblich der Befürchtung Ausdruck verlieh, da« Reh möchte nach Wiederherstellung des Deutschen Reicks nicht mcbr genießbar sein, wcSbalb der Herr Eonsistorialratb sichtlich gekränkt, mehrere zweifellos sehr wichtige Epochen verschluckte und mit nickt mebr zu verfolgender Logik aiis die Gäste übersprang, denen er sein Glas widmete. Die Gäste rächten sich in Ge stalt de« JnstitutSdirectorS Lehmann, welcher die Gesellst ast zwanH, daS Geflügel kalt hinunter zu schlingen. Maler Zondi, welcher der zweiten Tafel präsidirte, feierte in Versen und mit einem (unverstandenen) Blicke aus die Frau Präsident die Damen, die Damen erwiderten durch den Mund der Frau Präsident mit einem Hoch aus die Künstler, welche daS Fest verschönten; die Künstler, (Herr Neumann-Heiberg mit bescheidener Abwälzung seiner eigenen Verdienste aus da« Talent seiner Schülerinnen) ließen den Bereinsvorstand leben; der Vorstand die Mitglieder, bis schließlich nach erneutem Kreisläufe und nach einem Zwischenspiel-Tumulte an der Nachbartasel, an welcher man mit dem Eis zu kurr gekommen, weil die diesseitige Linie sich doppelte Portionen a„zeeignet, Herr Bergrath a. T. MöbiuS, der Humorist der Gesellschaft tVatcr der blassen KönigZdallade), unter tosendem Hurrah den Anlrag stellte, laß bei Strafe der Ausschließung kein Mitglied der Gesellschaft bei beabsichtigter Verlobung au« dem Kreise der VoluptaS etwa abzuirren sich cinsallcn lassen solle. „Himmlisch", schnaufte die Frau Präsident nach dem Polonaisenwalzer, „Sie tanzen wie ein Gott . . „Himmlisch", dachte die kleine Jda, während sic an Paul S Schulter ding. Mit langfamcn, gleichgültigen Schritten gebt Paul in der Zwischenpause durch den leeren Saal aus Martka zu, die drüben allein neben einer Säule sitzt. Von oben, vou, anderen Enke kommt auch Jemand, die Augen aus da« gleiche Ziel gerichtet . . . cS ist dieselbe knöcherne Gestalt mit dem glatt rasirten Gefickte, der Walzcrtänzer von »enkch . . . Die Sckritle der Beiden werden rascher. „Mein Fräulein . . sagt Paul, sich verbeugend. Ter Andere verbeugt sich gleichfalls. „Darf ich um den nächsten Tanz bitten?" „Darf ich ... ?" wiederbott Jener. Sie errölhet. „Herr Förster war der Erste.. / Der Andere verbeugt sich mit zusammengckniffencn Lippen wieder, dreht sich ui» und gebt. Tic Musik beginnt. Abermals Walzer. Sie sprechen Beide kein Wort, öS ist, als ob zwischen ihnen irgend etwas geschehen sei, dessen sie sich Beide schämen müßten, das ihnen den Mund verschlösse ... Und sie fliegen tabi». »nd die Welt versinkt, Pfeiler, Spiegel, Menschen kreisen uni sie herum in immer raschere», Wirbel, kleiner und kleiner wertend, vcrschwimmend in »nbestimniter Ferne . . . „Wer war der Herr?" flüstert Paul „Ich weiß nickt." „Sic kennen ibn nicht?" „Nein." „Sie sind die Einzige, die mir kein Wort gesagt über die Gedickte, die ick gesprochen." „Wollen Sie ein Compliment kören?" „Ja. ich bin Com- plimenle so gewöhnt." „Und ich verstehe keinS zu machen." „Und weiter nichts?" Es war schon", baucht sie, und er fühlt, wie sie in seinen Armen bebt. „Ick tanke Ihnen." Und sie schweigen wieder, und Himmel nnd Erde und Ver gangenheit und Znkunst sind nickt mcbr, losgelöst schweben sic im unendlichen Raume, frei von Allem, waS sie bisher gefesselt, um wa- sie sich gesorgt, was sie geliebt, untcrge- gangen Alles in der Gegenwart, der süßen, berauschenden Gegenwart . . . „Ein nette» Mädchen, diese Reiche," sag» die Frau Präsiden
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