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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.04.1894
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1894-04-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18940410020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1894041002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1894041002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1894
- Monat1894-04
- Tag1894-04-10
- Monat1894-04
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Abend-Ausgabe. Anzeiger. Organ für Politik, Localgeschichte, Handels- «nd Geschiiftsverkehr. Anzeigen.PrktL die -gespaltene Petitzeile -0 Pfg. Reklamen »ater demRedacttansftrtch (4aa» spalten) bO>H. vor den Famüienaachrichte» (Sgejpalten) 40 ^ Geohere Schrillen laut uajerr» Prri4- verjeichaib- Talxllanscher und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Rr»r«-Veila,kn (gesalzt), nnr mit der Morgen-Susgad« . ohne Postbesordernng 60-, mit Postbesorderung 70.-. A»u»h«eschluß für Anzeigen: Lbend-AuSgab«: Vormittag» 10 Uhr- Mo rge n-Ausgabe: Nachmittag» 4Uhr. Eon», und Festtag» früh '/,9 Uhr. Bei den Filialen und Anaadmestellea je ein» halbe Stund« früher. Anzeige« find stet» an die Ernrdtti«« zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig- ^-181. Dienstag den 10. April 1894. 88. Jahrgang. politische Tagesschau. * Leipzig. 10. April. Das Lebenslicht der Rctchstagssrffio» ist, wie bereits im Morzendlatle aus Berlin gemeldet worden, im Verlöschen. .Die Session wird" — so schreibt unser Berliner ris-Corre- spondciit — „höchst unrühmlich an allgemeiner Schwäche ftrrben, wahrscheinlich schon vor dem 20. April. DaS Hänschen Abgeordneter, das in dem „hohen Hause" noch zu sehen ist, stim nicht aus beträchtliche Verstärkung rechne», die Erreichung tttLeschlußsähigkei t gilt allgemein als ausgeschlossen. Las künftigen Montag, an welchem Tage Tie Steuer- comuiissio n Zusammentritt, geschehen wird, weiß man trotz- tun noch nicht mit Bestimmtheit. Daß die Regierungen die Tabak- und die Weinsteuervorlage zurückzieben werden, wird wohl von der einen und der anderen Seite in Aussicht gestellt, ,st aber nicht zu erwarte», da sich kein irgendwie plausibler Grund für eine solche Taktik entdecken läßt. Es mißte denn sein, daß die „hohe Politik" in die Angelegen- beit der Finanzresorm Gesichtspunkte trägt, die dieser Frage siemd sind. Mindestens von der Commission inüssen die Regierungen ihre „Quittung" baden; richtiger wäre eS Wohl gewesen, sie vom Plenum zu verlangen. Konnte dieses mangels der gesetzlichen Präsenz sie nicht ertheilen, so wäre da« .auch eine Antwort" gewesen und zwar eine solche, die im Lande Eindruck zu machen nicht verfehlt haben dürste. Der Commission ihr Nein zu schenken, haben die Regierungen keine Veranlassung. Sie kann c« ja auch leicht sprechen — zur Tabak- und Weinsteuervorlage. Bei der Finanzresorm wird die negative Entscheidung sehr viel unbequemer sei». Sic würde klipp und klar die Befür wortung der Erhöhung der direclen Steuern in den Einzrl- staaten bedeuten. Das gelhan zu haben, werden sich VolkS- oartei und Ccntrum doch kaum nachsagen lassen wollen. Man darf deshalb neugierig seui, wie sich diese Parteien aus der Asfaire ziehen werden. Wahrscheinlich durch eine Reso lution, für deren Abfassung die bewährte Geschicklichkeit de« Herrn Lieber im „Nicht so und njcht so sagen" nutzbar ge- »uckt werden dürste. Jedenfalls wird Mute der nächsten Wecke die große Tagesfraac für diese Session erledigt sein. Im klebrigen gedenkt der Reichstag in der kurzen Leit seine« „Beisammenseins" noch Fleiß zu zeigen. Es sollen außer dein Slempelsteuergesetz wenigstens die Vorlage über die Abzahlungsgeschäfte, die Novelle zur ConcurS- ordnung und der Viehseuchen-Entwurf fertig gemacht werten »nd der Jesuitenantrag des CentrumS in die dritte Lesung gelange». Alle Beschlüsse, die noch gefaßt werden, erkalten selbstverständlich ihre Giltigkeit nur vermäße der Tisciplin, welche vor einer Anzweifelung der Beschlußfähigkeit zurückschreckt. Wir bedauern es, dag nicht noch einmal acten- mäßig scstgestellt werden wird, bis zu welchem Tiefstand das Gefühl für Pflicht und Würde bei diesem Reichstag ge sunken ist. Aus der wnrttembergischen Hauptstadt hat bekanntlich der Tclegrapl, gemeldet, daß der Ministerpräsident Freiherr v. Mit inacht Verwahrung gegen die Verdächtigung ein- leqe, er stehe in irgend einer Beziehung zu den Angriffen dcS .Älakderadatsch". Ausfälligerweite Kat der Telegraph bei dieser Meldung einen Theil der Mittnacht'schen Erklärung unterdrückt, die wörtlich folgendermaßen lautet: „DaS „Berliner Tageblatt" in seiner Nummer 169 vom -t April 1894 schließt einen längeren Artikel zu der Kladdera datsch jache mit folgenden Sätzen: „Jetzt bleibt die Frage offen, wer ist die als Intrigant und Anzettler der Kladderadalschangrisfe verdächtigte Per,ünlichkeit in hoher amtlicher Stellung? Sollte ein Fingerzeig in dem Umstande liegen, daß man aus Rück sicht aus Bundesstaaten an eine Anklage nicht denken dürfe? Sollte wirklich an den Staatsmann gedacht worden sein, den man für den Rücktritt des Herrn v. Moser moralisch verantwortlich zu machen suchte?" Sehnliche Andeutungen finden sich auch in anderen Blättern. Ein Stuttgarter Blatt hat mich mit Namen genannt und auf das Ausführlichste über die gegen mich umlaufenden Beschuldigungen sich ausgesprochen. Nachdem „man" (unter den Ersten das „Berliner Tageblatt") für den Rücktritt des Herrn v. Moser mich „moralisch verantwortlich zu machen gesucht hat", wozu ich geschwiegen habe, sehe ich mich nun in einer Sache, in der ich amtliche Rücksichten nicht zu nehmen habe, veranlaßt, die Behauptung oder Verdächtigung, daß ich in irgend einer Beziehung zu den Angriffen des Kladderadatsch stehe, von Wem immer sie ausgehen möge, für «ine unwürdige Ver leumdung zu erklären. Mittnacht." In Stuttgart ist der Theil der Erklärung, der die Behauptung des „Berl. Tagebl.", Herr v. Mittnacht sei für die Entlassung des württeinbergischen Gesandten in Berlin, v. Moser, moralisch verantwortlich, in der offenbaren Ab sicht erwähnt, auch Liese Behauptung in die Kategorie der unwürdigen Verleumdungen zu verweisen, sicherlich vom Telegraphen nicht unterdrück worden. DaS kann nur in der Rcichshauptstabt geschehen sein, über die daS Stutt garter Telegramm den Weg genommen hat. Wem in Berlin mag wohl die Weiterverbreitung de- Protestes dcS Herrn v. Mittnackt gegen den Versuch, ihm die moralische Verant wortlichkeit für den Rücktritt des Herrn v. Moser, in die Schuhe zu schieben, unerwünscht gewesen sein? Die socialdcmokratische Feier de« ersten Mai wird sich dieses Jahr in Deutschland, da die Führer aus mancherlei Gründen — solchen, die sie öffentlich eingestehen. sowie solchen, die sie für sich behalten — einer Feier dcS 1. Mai durch Procla- iiiirung der allgemeinen ArbcilSruhe entschieden abgeneigt sind, aller Voraussicht nach äußerlich durch nichts von jedem anderen Werktage des Jahre- unterscheiden, außer, daß Abends in qualmigen, von Bier- und Tabakdunst erfüllten Räumen die üblichen agitatorischen Krastphrascn verzapft werden. Aehnlich wird cS wohl in Oesterreich aussehen, wo sowohl die staatlichen Werkstätten, wie die großen industriellen Etablissement« entschlossen sind, mit aller Energie gegen die an der Arbeitsruhe Theiluehmenden vorzugehen. In anderen Ländern mag die Geschichte minder harmlos ab lausen. In Pari- haben die Genossen den Freund und Gönner Liebknechl'S und des „Borwärls", Ehrcn-Vaillant, als „Reactionair" zum alten Eisen geworf^i, waS aus die Ent- wickelungssähigkcit der dortige» Sociaiisteu zu Anarchisten gerade kein sehr beruhigende-Licht wirft; in Belgien soll bekannt lich die Arbciterrcpublik proclamirl werden; in Spanien bereitet sich ein socialdemokratisch-anarchistischer Putsch vor, wobei daS Capitel der Sprenabomben-Atlentate noch gar nicht in Rechnung gestellt ist. WaS England betrifft, so dürfte da« Entgegenkommen, welche- die liberale Regierung den Forderungen der Gewerkvereinc gegenüber an den Tag legt und welches, weit entfernt, die Wunsche der Arbeiter zu befriedigen, vielmehr zu immer größerem Appetit reizt, Demonstrationen am 1. Mai eher provociren als hintan- haltcn. Die Arbeiter in den RcgierungSdockS zu PorlS- mouth und Plymouth z. B. sind mit dem von der Regierung bewilligten Achtstundentage schon nicht mehr zufrieden. Sie verdienen weniger als früher und dann geben ihnen auch die früher aus gewissen Anlässen bewilligten Halb- seiertageverloren. Sie beanspruchen jetzt die Löhne nach demTrabc- Union-Satze und Beibehalung aller früheren Vergünstigungen. DaS lehnt nun wieder die Regierung ab, und so wird man über kurz oder lang erleben, daß die Bewilligung des Acht stundentage« zu einer Quelle neuer und ernstester Zerwürf nisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sich gestaltet. Wie beabsichtigt, hat die UnabhängigkeitS- und 48er Partei in Ungarn gestern damit begonnen, im Parla ment lebhafte Beschwerden gegen die Regierung und den Präsidenten de« Abgeordnetenhauses Banffy vorzubringcn, weil sic sich an den Trauerfeierlichkeiten für Kossutb nicht betbciligt habe». Der erste Versuch, das Cabinel Wekcrlc über den Grabhügel Kossuth'S straucheln zu lassen, mißglückte vollständig, denn das von dem Abg. Hoitsy gegen den Vorsitzenden beantragte TadelSvotum wurde mit 67 Slimmezr Mehrheit abgclehnt. Trotzdem beabsichtigt die Unabhängigkeit-Partei, die Kossutbsrage noch nicht zur Rübe kommen zu lassen. Sie beschuldigt u. A. die Behörden, durch ihre Maßregeln die Ruhestörungen bervorgerufcn zu haben, so daß eine Ausdehnung nur durch „daS edle und pietätvolle Ver halten der Bevölkerung" vermieden worden sei. Die Rede Otto HermanS am Grabe Kossuth'S hat durch die Verkündung des Kampfes durch die Verwerfung jeder Versöhnung genügend gezeigt, welche Stimmung in der Partei herrscht, die sich durch den Tod des VolkStribuncn in ihrem Dasein äußerst bedroht fühlt. Sie hatte ja ihre Grundlage nicht in berechtigten Forderungen der socialen oder politischen Entwicklung, sondern nur in der Person Kossuth'S, dem seine geschichtliche Stellung einen Einfluß aus die Geschicke seines Vaterlandes cinräumte, der seine Verdienste bei Weitem überschritt. In ihrer starren Verneinung de« Ausgleichs zog die UnabhängigkeitSpartei immer neue Nahrung und Kraft au« dem Hasse de- frei willig Verbannten gegen das Herrscherhaus und die jetzige Gestaltung der Verhältnisse. Nur maßlose Erregung der niedern Schichten und LcS blinden Chauvinismus kann ihr nach dem Verlust ihres Spiritus roetor noch einige Lebens fähigkeit geben. Daher stammt denn auch ihr wohl vergeb licher Wunsch, Franz Kossuth ganz in ihre Bande zu schlagen. Von einer Betheiligung am politischen Leben er hofft sie Alles, weil er den Namen Kossuth trägt, dessen Macht auf die bcißblütigen Magyaren unbestreitbar ist. Die gemäßigten Liberalen verhalten sich immer kühl diesem Treiben gegenüber, daS nur den klerikalen Feinden der Kirchenvor lagen nüyrn kann, sie werden sich auch weiterhin um die Reg'erung schaarcn, um ihr gegen die oppositionellen Angriffe zur Seite zu stehen, wie sie eS gestern gethan und bereits in der am 8. April abgehaltencn Versammlung angekündct baben, in welcher Wekrrle auSsübrte, daß Präsident Baufsy in der Angelegenheit der Leichenfeier Kossulh's lediglich die Beschlüsse des Hauses ausgesührl und die Regierung den weitestgehen den Forderungen der Pietät Rechnung getragen habe. Mit der Ankündigung der Einbringung von Getreide zöllen hat daS junge belgische Ministerium de Burlet, wie nicht ander- zu erwarten war, in ein Wespennest gestochen und eine Bewegung hcrvorgerufen, deren Folgen vorläufig nicht abrusehen sind. ES ist klar, daß die nächste Folge der Gctreide- zöllc bei der ungenügenden Erzeugung dcS Lande« die Ver- tbcurung der Brodpreis« sein muß, und damit bat die Regierung den Socialisten die wirksamste Waffe für die Kammerwablen in die Hand gedrückt. Es versteht sich von selbst, daß die So cialisten dieses vortreffliche AgitationSmitlel sofort ausgegriffcn haben, wobei sie an den Liberalen und Radicalen schätzenS werlhe Bundesgenossen finden. Aber auch zahlreiche klerikale Abgeordnete schließen sich der Bewegung gegen die Getreidc- zölle an, so daß eS zweifelhaft ist. ob dir Regierung für ibrc Vorlage eine Mehrheit in der Kammer finden wird. — Die liberale Partei wird demnächst einen Antrag aus Theilung der bisherigen städtischen Wahlbezirke in der Kammer cinbringcn. Bisher sind die letzteren nämlich mit einer großen Anzabl von Landgemeinden verquickt, waS der bäuerlichen Bevölkerung einen zu großen Einfluß aus die städtischen Wahlen sichert. So sind die vollständig liberalen Städte Antwerpen, Gent und Charleroi entweder ausschließlich oder theilweise durch Klerikale vertrete». Die Liberalen verlangen nun Aushebung der bisherigen Listenwahlen und die Schaffung begrenzter Wahlbezirke, von denen jeder einen Abgeordneten wählen soll. Die Folge davon würde sein, daß die Kleri kalen einige Sitze einbüßtcn. Uedcrhaupt geht, wenn nicht alles täuscht, die klerikale Partei einem schweren Kampfe um ihre Existenz entgegen, denn was bisher nicht gelingen wollte, die liberalen Elemente unter «ine Fahne zu schaaren, da« scheint der ausgesprochen klerikal-reaclionairr Charakter des Cabincls de Burlet fertig dringen zu sollen. Wie gemeldet wurde, tagte am Sonntag und Montag in Brüssel ein Congreß von Delegirten aller liberalen Bereinigungen und nahm ein Programm von politischen und socialen Forderungen an, da« nach Absicht der Leiter des CongrefseS bestimmt «ft, alle gegenwärtig noch getrennten Liberale» zu vereinigen. Kommt da« Cartel thalsächlich zu Stande, so wird eS freilich sehr stark radikal gefärbt sein, wa» dem Lande vielleicht noch weniger zum Lortbeil gereichen würde, wie die ultramontan- reactwnäre Wirtbschast. Ein Rundschreiben de« serbischen Minister« de« Aeußeren Lozanilsch an die serbischen Vertreter im Aus land bestätigt, daß der eigentliche Grund dcrRcconstruirung dcS Cadinet« Similsch der gewesen sei, die im Sckooße des Ministeriums vorhandenen Meinungsverschiedenheiten be treffs der inneren Politik auSzuglcichc», wobei der Gedanke eines entschiedenen Vergebens den Wühlereien der Radicalen gegenüber daS Uedergewicht erhalten habe. Als der erste Versuch, eine schärfere Tonart anzuschlagcn, muß die Anord nung des Finanzministcr« Pelrowitsch gelten, daß zur Sicher stcllung der Stcuercingänge und zur Eintreibung der Steuerrück stände in den säumigen Gemeinden jetzt die Staatsbehörden die Steuern einhcden und dabei energisch und unparteiisch vorgeben sollen. Bekanntlich haben verfassungsmäßig die Gemeindebehörden die Eintreibung der Steuern zu besorgen. Diese sind durchweg rabical, und sobald es sich um eine »ichtradicale Regierung handelt, in der Pflichterfüllung sehr säumig. Wenn nun die Regierung die Steuereryebung aus einem anderen Wege versucht, so folgt sie einem Gebot der Nothwendigkeit, handelt aber nichtsdestoweniger ungesetzlich, und die Radicalen werden die Antwort nicht schuldig bleiben. Jeden falls wird der von dem Cadinet eingeschlagene Weg die Frage, wie weit der Widerstand der Radicalen gebt, zur schnelleren Lösung bringen. Die Staatsbehörden müssen Gendarmen oder Truppen haben, um die Steuern einzutreiben. Die kleine reguläre Armee wird man jedoch schwerlich im Lande zersplittern wollen, Milizen darf man zu diesem Zwecke nicht einzuderuscn wagen, die Gendarmen reichen nicht aus — wa« wird also gescheben? Entweder sucht der Finanzminisier dem AuSlaude Sand in die Augen zu streuen oder er drängt zur Entscheidung, deren Ausfall noch immer sehr ungewiß sein dürste und bei der die Dynastie eben Alles aus «ine Karte setzt. Deutsches Reich. 6. li. Berlin, 9. April. Das Ahlwardt'sche Blatt „Der Bundschuh" ist neu erschienen; eS ist ein Wochen dlatt. Aklwardt erklärt, daß er eine Tageszeitung deshalb nicht dcrauSgeben könne, weil er schon durch die Pflichten der ^euilletsn. Medea. Ein bürgerlicher Roman von Wilhelm WolterS. (Nachdruck »erdeten.) ISs (Fortsetzung.) XU. Jedes Mal, wenn Martha am Tage nach diesem ver- bängnißvollcn Spaziergänge sich in ihrem kleinen Budoir daran machte, die Absage an Herrn Rost zu schreiben, wurde sie gestört und sie mußte daS angefangene Billet cilendS in ihre Briefmappe verstecken. Vielleicht, dachte sie, ist eS doch besser, ich sage es Paul. Ader gerade in den letzten Tagen irar Paul so entsetzlich gereizt. Jede unwesentliche Kleinigkeit schon ärgerte ihn, jede Unannehmlichkeit in der Wirtbschast regte ihn auf; daß gestern Abend das Dienstmädchen, die Paulinc, ohne Erlaubnis bis zwölf Uhr forlgcdliedcn war, balle ihn so sehr erzürnt, daß er ibr gleich gekündigt. Seit sie zusammen in der Medea-Borstcllung gewesen, lag eine Schwüle über dem ganzen Hause, als ob jeden Augenblick der Blitz einschlagcn muffe. Nein, jetzt war daS ganz un möglich, es Paul zu sagen. Bon „erdolchen" hatte er damals gesprochen und wir hatte er sie dabei angeblickt! Nein, solche Eifersucht soll man nicht ohne jede Ursache wecken ... Wenn nun aber dieser Herr Rost ihren Widerruf ani Ende gar nicht annahm? . . . Sie halte sich ja in sein Buch eingeschrieben, verpflichtet gewissermaßen, den Unterricht zu nehmen. Und wenn sic nun nickt kommt, wird er sie vielleicht mahnen, Paul wird den Brief lesen, alle Briese, auch die an sie, werden ja m de» Briefkasten an der Thür gesteckt, zu welche», Paul den Schlüssel bat, »nd die Sacke wird dann noch viel schlimmer. Wenn sie lieber hin ginge und ruhig tbätr, wa« sie sich vorgenommen. Da- wäre vielleicht doch da« Ge scheidrste. Und wenn sie dann später mit dem Resultate ihrer heimlichen Gänge bcrauSrückt, untersuckt Paul in seiner Freude darüber gewitz nicht, wer der Schreidlchrer gewesen. »Herr Rost", das konnte sie ihm ja dann getrost der Wahrheit mäß sagen, wenn sie ibn mit der Thatsache überraschte, a» war ein bloßer Name, nicht» weiter. Er wird doch niemals mit ibm Zusammenkommen. Und viel später kann er sogar noch einmal die ganze Geschichte rrsabrrn, wenn er »»mal recht guter Laune ist, dann wird sie'« ihm sagen, und a »ird l«ch«», ja, ri»e Stund« guter Laune wird sie ad- warten, so eine wie neulich, wo er erst da« Kindl so merk würdig lange angeblickl hatte und dann sie und dann mit ibr in die Stadl gegangen war, sie ein prächtige- FrühjahrS- klcid auSsuchen zu lassen ... Ja, ja, so wird sic'S machen, sie tbut ja nicht« Böse«, im Gegentheil, daß dieser Herr Rost früher einmal mit ihr getanzt, na deswegen ... Paul'« grund lose Eifersucht auf diesen Herrn Rost ist auch eine Art Aberglauben, über den Paul immer schilt. Solchen Aber glauben- wegen braucht man nicht« zu unterlassen, waS an sich nicht schlecht ist!... Nein, wahrhaftig nicht!.. Sie ver zog da- Gesicht zu einem erkünstelten Trotze und nickte zur Bestätigung ihrer Gedanken mit dem Kopfe. Und diese Ucber- raschung! Diese Ueberraschung! O, e« wird himmlisch werden! Eines Tage«, vielleicht... nun, wie lange kann da« dauern? ... Mai, Juni, Juli, höchsten- Juli... ja, also im Juli wird er wieder einmal victircn. Noch oft wird er ihr dis dahin dictiren und gewiß jedeSmal schelten, jedcSmal die Stirn in finstere, döse Falten zusammenzieben ... nicht, weil sie ein Wort oder ein Komma oder ein paar AnsührungS- strichclchen vergessen, nein, da« wird gewiß nicht wieder Vor kommen, nein, sie will sich so zusammennehmcn, so, so... baß auch kein Tüpfelchen mehr in dieser Bezirdung auSzusctzen ist, aber eben wegen der schlechten Schrift. Sie wird sich nicht verrathen, bi» dahin wird sic immer noch die alten, ekligen, ihr selber so verhaßten Krähenfüße Hinmalen .. . Also im Juli... eS wirb ein schöner, sonniger Tag sein, nicht gar so sehr heiß, denn da arbeitet Paul nicht gern an seinen Romanen ... oder, wenn e» ein bcißer Tag gewesen, dann wird eS gegen Abend sein ... die Lampe brennt so gemütblick, da« Fenster ist offen, so eine scköne, milde, küble Lust strömt bewein, sie bat ihr hübschestes Kleid angrzogen, das lachs farbene, da« ihr so gut steht... oder nein, da» dunkle mit den gelben Puncten ... o. sie will sich so verführerisch machen wie nur möglich. . . und Paul geht im Zimmer bin und her und bebt einmal die rechte und dann die linke Hand in die Höhe und wettertz denn er ist sehr, sehr böse, er hält gerade Abrechnung mit einem rechten Hallunken, so einem richtigen Satan im Frack ... und wie er sich so recht in« Feuer, in eine richtige Wuth hineingearbritet bat, dreht er sich plötzlich um und ruft: „Nun, Martha, hast Du'« ? Ich bade Dir doch gesagt, daß Du immer da- letzte Wort wiederholen sollst!" Und ich mache eine ganz »erlegene Miene und seufze und lasse den Kops bangen und thue, al» ob ich vor Müdig keit nicht weiter könne. Und da verzieht er da« Gesicht zu einem so recht geringschätzigen MitleidSlächela oud zuckt mit den Asseln, al« ob er sagen wolle: „Natürlich die Weiber! Zu nicht« sind sie gut, nicht einmal ein bischen Nacbschreiden können sie länger als eine halbe Stunde vertragen." Und dann beugt er sich mir über die Schulter, um zu sehe». WaS ich geschrieben — und da — da springe ich auf und falle ibm um den Hals und küsse ihn und sage: „Siehst Du, Schatz, Du hast mir einmal von Jemandem erzählt, von Jemandem so im Mittelalter herum, der auS Liede Maler geworden — siebst Du. ich bin auS Liebe Schreiber geworden ... mit einer so schönen, so tadellosen Schrift, wie man sie schöner gar nicht finden kann!" Martha sprang vom Stuhle in die Höhe, lief strahlenden Gesicht- in'S Kindcrzimmer hinüber, hob Lore mit einem Ruck aus ihrem Bettverschlage, in welchem sie eben mit gc- rötheten Wangen von ihrem NachmittagSschläschen erwacht war, schwang sie ein paar Mal in der Lust herum und hielt dann ihren Mund dicht an der Kleinen Ohr: „Kindl, Kindl, weißt Du wa«?... Ein große» Ge- beimniß ... aber ja Niemandem sagen ... hörst Du «, Kindl, Kindl? . . . Niemandem . . . Deine Mutier ist auS Liebe Schreiber geworben ... bscht, bscht... still, still..." Sie legte den Finger aus ihren Mund. „Bah", jauchzte da« Kind. „Ach", ries sie und preßte es an sich, „Du bist ein Schaf!" Xlll. Martha war glücklich in dem Gedanken an ihr heimliches Uuternebmen. Nachmittags, wenn Paul arbeitete oder die Seinen drüben besuchte, schlüpfte sie davon, sic machte sich nickt» daraus, daß Paul allein zu Cläre ging, wenu er wußte, Anita Maxwell, die mit dem Westwinde über den C»nal zurückgekommen, sei dort Ein paar Mal batte sic diesen litlerarisch-pbilosopbisckeu Unterhaltungen der Drei deigcwohnt, sie freute sich, wie angeregt Paul mit der ge- scheidrn jungen Amerikanerin sprach. Wie er dic-mal weniger unter dem Uedrrgangc vom Winter zum Sommer litt, der ihn sonst immer krank machte, den er mit seinen rellen Farben, mit seiner allgemeinen Erregung nicht leiden onnte — wie er ordentlich verjüngt au«sah, gerade wieder so, wie sie ihn keuneu gelernt in jener schönen, allerersten Zeit, als er um sie ward, wie ihn diese Unterbaltungrn über Welt und Gott und da- Schöne und da- Wabre ganz die Sorten vergessen ließen, in di« er fick so sehr dineinaegrübclt. Sie war nicht im Geringsten eifersüchtig, auf diese Fremde oun gar nicht, «riu, sie konnte ja ganz ruhig sein. Zweifel an ihrem Paul, daS wäre Verbrechen. Ja, auf Mutter Förster und Tante Lina und besonders aus Cläre war sie eifersüchtig gewesen, sehr eifersüchtig sogar, aber aus eine Andere, nein, solche Eifersucht überließ sic Paul, da konnte sie ganz ruhig sein Rasch huschte sie an dem Glaskasten vorüber in'S Hau« hinein. Die Treppe, daS war da« Allersckstimmstc bei der ganze» Sache, diese Treppe, aus welcher ibr schon öfter« ein paar eben mit ihrer Stunde fertig gewordene Mitschülerinnen oder gar Mitschüler cntgegcngekomnien Einmal sogar fataler Weise einer von den Herren des Geschäfte«, in welchem sie ibrc Kleiderstoffe zu kaufen pflegte, derselbe, der ihr erst neulich Paul S kostbares Geschenk abgemessen Aber Gott Lob, sie hatte sich rasch noch in eine dunkle Ecke drücken können, und die Gefahr de« Erkennen« war glücklich an ibr vorüber- gegangen. Und dieser -Herr Rost, da« mußte sie ihm zu gestehen, benahm sich durchaus correct, ganz und gar corr^ct, sie hatte ibm Unrecht gethan, als sie ibn mit Mephisto ver glichen. Keine einzige Anspielung mehr auf die VoluptaS, leine größere Freundlichkeit, alS wenn er eine Fremde vor sich gehabt, ja, er war ordenstich zurückhaltend. Nun, sie hätte eS ihm auch nicht rathen wollen, ander« zu sein! Und sie schmunzelte, wenn sie ihre Fortschritte sab, wenn sie ver glich, wie sic früher geschrieben und jetzt schreiben konnte. Konnte; denn sie büteie sich wohl, zu Hause anzuwcodeo, WaS sic gelernt. Eine Ueberraschung wird eS werden, eine köstliche Ueberraschung! Und Marlha strahlte wie die FrüblingSsonnc. Anita batte ihren Literaturnntcrricht bei der Freundin wieder ausgenommen. Eläre weigerte sich zuerst, sie wußte ja sehr gut, daß sie Anita nicht- mebr zu lcbren vermochte, selbst in der deutschen Sprache nickt mehr, die Jene sich mit ihrer ganzen Leidenschaftlichkeit, mit dem rastlosen Fleiße ihrer nimmerniükcn Lcrnbegicrde, ihrer unerbittlichen Selbst kritik fast vollkommen zu eigen gemacht — allein Anita drang in sie. sie ncußte Gelegenheit haben, täglich zur bestimmten Stunde mit der geliebten Freundin zusammcnzukommen, und da deren Zeit dem Unterrichte gewidmet war, wollte sie diese ibr aus keinen Fall wegstedlen ; endlich gab Cläre nach. So gingen sie denn miteinander wie früher in der Stadt ober aus den Höben spazieren, oder sie saßen in Mutter Förster«, eigentlich Cläre« Salon bei einem Buche. Die Balcontbür war geöffnet, von den Bergen strömte die frische Lenziust herunter. Eine balde Stunde la« man, da kam Paul: „Nun, wen baden Sie beute vor ?" „Wir lesen Schiller « Leben von Pallt<k«."
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