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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 24.09.1894
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1894-09-24
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18940924020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1894092402
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1894092402
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1894
- Monat1894-09
- Tag1894-09-24
- Monat1894-09
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Bezvg».Preis M d» »der de» t» Stadt. ' irk «d de» «or»7tra errichtete» >»«- lle» «bgeholt: vieNetlährlich^I4.S<X naliger täglicher Zustellung in» Haut ^l LLL Durch die Post bezog«» für Deutschland aud Oesterreich: vierteljährlich ^ll S.—. Direct« täglich« Kreu-bandsendung tut Nutlaud: mouatlich ^4 7.S0. Die Morgeu-Au-gab« erscheint täglich '/,7Vye. dt« Lbeud-Autgab« Wochentag« k Uhr. Lr-action und ErZe-ilioi»: Jahaunetgass« 8. »o, früh 8 btt «beud« 7 Uhr. Dt« Expedition ist Wochentag» anuuterbrochr» Soffnet Filiale«: Dtt» Me«»'s S«rlt«. (Alfred Uuiversitättstraße 1. La«»«« Lösche. , . , «»chartnenstr. 1«. pari, und »SnigSvla» 7. Abend-Ausgabe. tWigcr.Tagtblall Anzeiger. Organ für Politik, Localgeschichte, Handels- «nd Geschäftsverkehr. Montag den 24. September 1894. An zeigen-Preis die 8 gespaltene Pentzeilr 20 Psa. Neclameu unter demRedactiou«strich <4q«, spalten) b0-^, vor den Familienaachrichle» (6 gespalten) 40 Größere Schriften laut unsrem Prei». Uerjeichniß. Tabellarischer und Zissernsatz noch höherem Taris. Extra-veilagrn (gesalzt), nur mit de, Morqen - Ausgabe, ohne Postbeiörderuag 60—, mit Postdesorderung 70.—. Annahmrlchlvß für A«)eigra: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Marge a-Bu»gabe: Nachmittags 4 Uhr. Sonn- und Festtags früh '/,S Uhr. Lei de» Filialen und Annabmestellen je eia« halbe Stunde sruher. Anzeigen sind stets an die Srtzedtttl«» zu richten. Druck and Verlag von S. Polz in Leipzig 88. Jahrgang. Die Sismarckfahrt der Westpreußen. * Varzt«, 23. September. Keine Sonnengunst schien den westpreußischen Pilgerfahrern bescheert zu sein, lieber Barzin war seit gestern Mittag Regen gefalle», endlos, hoffnungs los. Die Wege um Barzin und die Chausseen, Dorsstraßcu und Plätze waren tüchtig aufgcweicht worden. DieFestdecoration, die noch vom vorigen Sonntag an den Häusern geblieben, bängt traurig herab. In der Festausschmückung des Dorfes gab'S nur ein Reues. Ueber der Thür des neuen GasthofcS war ein provisorisches Schild angebracht worden mit der vielsagenden Aufschrift: „Gasthof zum alten KurS". Gegenüber dem Gasthof ist in der fürstlichen Molkerei eine Wurstküche etablirt. Im Gutshof ist der sandige, durchnäßte Boden zunächst der Schloßterrasse mit Segeltuch und Brettern bedeckt. Hier sind Holzbänke für die Damen aufgestellt. Die Rednertribüne befindet sich wieder an derselben Stelle, wie vor acht Tagen. Tie Tische der Zeitungsmänner sind wieder rechts und links von der Freitreppe angebracht. Ueberhaupt ist Alles im Arrangement ganz wie am vorigen Sonntag. Eine halbe Stunde vor Ankunft des Zuges trat der Fürst, wie vor acht Tagen, auf die Terrasse heraus, um die Correspondenten der deutschen und ausländischen Journale zu begrüßen. Er bedauerte das schlechte Wetter und sagte, daß der Hexenschuß noch immer nicht ganz gewichen sei. Er er innere sich an eie militairischc Präciston, mit der vor acht Tagen die Posener einmarschirt seien. Diesmal könne man daS nicht verlangen, da die Damen milkämen. Er bedauerte die schlechte Eisenbahnverbindung von Barzin, man käme hier wie zu den Hinterwäldlern. Fürst Bismarck kehrte dann inS Schloß zurück, um noch ein Weilchen zu ruhen. Kurz nach halb elf Uhr treffen die ersten beiden Extrazüge auf dem Bahnbofe Haminermühlc ein. Sämmtliche verfüg baren Leiterwagen der fürstlichen Güter, mit Bänken und kleinen Treppen verseben, sind blumengeschmückt am Bahnhof vorgefabren. Ter Fürst hatte Morgens schon den west preußischen Hultiguttgöfahrern ein Telegramm entgegengesandt und ihnen angebolen, er wolle ihnen bis Hammermühle ent- gcgenkommen und sie dort empfangen, um ihnen den bei dem trübseligen Wetter schlechten, und für die Meisten zu Fuß zurück- zulegenden Weg nach Barzin zu sparen. Dir Wcstpreußen hatten mit herzlichstem Danke abgclchnt; sie wollten Barzin sehen. Nachdem sie auf dem Perron Aufstellung genommen, wo noch ein Hoch auf den Kaiser ausgcbracht wurde, begann also der Marsch nach Barzin. Die Damen und die bejahrten Herren bestiegen die Leiterwagen, die jungen Leute mar- jchirten herzhaft durch den ganz respcctablcn Schmutz bis ins Torf. Hier wurde nur kurze Rast gehalten, bis die In sassen des zweiten Extrazuges eingetroffcn waren, dann wurde Alles zu langem Zug in der Dorfstraße rangirt. Im Ganzen fünfzehnhundert Herren, rwei- b u n d e r t f ü n f z i g Damen. Manchen hat daS schleckte Wetter noch in der letzten Stunde adgeschrcckt. Diese Furcht samen haben sehr Unrecht gebabl. Gerade jetzt nach dem Einmarsch inS Dorf börle der Regen auf. Mit dem Glockenschlag zwölf begann der Aufmarsch aus dem GutSbos. Boran das Hcrrcncoinitö mit schwarzweißen Sckärpen, dann das Musikcorps der Eolberger Neuner. Dann die Damen, dann Herren, immer zu sechsen in einer Reihe. Die Musik spielte den Pariser Einzugsmarsch. Die Damen machen von den Bänken keinen Gebrauch und blieben während der ganzen Zeit „standhaft". Hinter ihnen, den weiten Hof füllend, die Männer. RccktS von der Terrasse die Gruppe der Elbingcr, die Fahnen tragen mit der Inschrist: „Die Getreuen aus Elbing." Aus der Terrasse befindet sich die Fürstin Bismarck, die wieder sehr leidend aussiebt, Graf und Gräfin Wilhelm Bismarck und Gräfin Rantzau mit ihren beiden Knaben, die an Matrosenblouscn stolz die Fcstschlcisc tragen, Baron von Stumm, der ehemalige Madrider Gesandte, und seine Gemahlin. ES dauert wohl drei Minuten nach dem Aus marsch, bis der Fürst mit vr. Schweninger erscheint. Während dieser Zeit singen Westpreußcn nach der Melodie der „Wacht am Rhein" daS Lied: „Bon der Ostwacht", das der Ehefrcdactcur des Graudenzer „Geselligen" gedichtet: AuS Deutschlands Ostmark zieh'n wir her, Vom Weichselstrom und Balten- meer, AuS deutscher Nied'rung grünen Au'n, Wo Ritterburgen niederschau'n. Ob Slawenslurm uns witd umtost, Wir halten fest die Wacht im Ost. Durch deutsche Herzen zuckt es schnell Und Aller Bugen leuchten hell Zum Hauptmann, der mit Deichen stark Bewehrt' deS Reiches ferne Mark. ObSIawenslurm uns wildumtost rc. DaS schwarze Kreuz im weißen Feld Trugst Du — ein OrdeuSritterheld, Jin Schild führst Tu eia Drei- blatt traut, ür undeutsch Volk ein Wegekraut! bSlawensturm un- wildumtost rc. Ein Eichbaum ragst Du stolz und stark. Vom Wipfel deutsch bis in daS Mark. Dem Vaterland zur Freud' und Zier: Hell — Fürst und Vorbild — BiSmarck, Dir! ObSlawensturm uns wildumtost rc. Als der Fürst erscheint, empfängt ihn langes stürmisches Hurrabrnsen. Der Fürst, der eine Brille trägt und wohler aussieht als am vorigen Sonntag, sich auch gerader hält und nicht so schwer aus den Stock stützt, dankt, den schwarzen Schlapphut in der Hand. Er setzt sich aus die Kante des Tisches, der auf der Terrasse steht, während der Vorsitzende des ComitS«, Herr v. Fournier-Koczielec, seine schon gemeldete Ansprache begirult. Nachdem das jubelnde Hoch aus den Fürsten ver- klungen war, läßt sich dieser von Schweninger aus einer kleinen Sectsiasche ein Glas vollgießcn, leert es, und dann, zunächst den Hut in der Hand, an die Tischkante gelehnt, beginnt er seine Rede. Er spricht lauter, fließender, ersicht lich müheloser und frischer, als vor 8 Tagen zu den Poscnern. „Meine Herren und Damen! Ich fühle mich hochgeehrt durch Ihre Begrüßung und erfreut, daß Eie die Weite des Weges, die Unbilden des Wetter- nicht gescheut haben, um heut« mich hier zu begrüßen, lediglich angezogen durch daS Gefühl deS gegenseitigen Wohlwollens und der beiderseitigen Liebe zum gemeinsamen Vater- lande. (Großer Beifall.) Keiner von Ihnen hat von mir etwas zu hoffe», zu fürchten oder zu erwarten, was ihn irgendwie dazu treiben könnte, mir die hohe Ehre zu erzeigen, die mir heute widerfährt. ES ist lediglich daS Gefühl der gemeinsame» Liebe zum Vaterlande, was uns heule hier zusammensührt (Beisall), und deshalb um so erhebender für mich, daß meine Person zur Adresse dieser Aeußerung gewählt wird. Es ist das eine Auszeich nung, die, so viel ich weiß, noch keinem meiner Vorgänger und Collegea im preußischen Ministerium widerfahren ist, daß im Dienste oder sünf Jahre nach Ausscheiden aus dem Dienste ihm eine Aner- kennung derart zu Theil wurde, wie sie mir von Ihnen schon im vorigen Jahre zugedacht war und heute zu Theil wird, wie sie mir vor acht Tagen von unseren Posener Landsleuten zu Theil wurde und wie ich sie auS Lein Westen und Süden Deutschlands säst aus nahmslos ersahrcn habe. ES ist sür mich erhebend, zugleich auch etwas beschämend, daß meine Leistungen «ine so hohe Anerkennung finden; ich habe nichts gethan, als meine Schuldigkeit, im Dienste eines Herrn, dem ich gern diente und mit dem mich das Gefühl gegenseitiger Treue verband. Es sind acht Tage her, daß unsere Landsleute mich an derselben Stelle hier besuchten, und wir halten seitdem Gelegenheit, in der deutschen und in der polnischen Presse mannigfache Aeußcrungen unserer Freunde und unserer Feinde über diesen Vorgang zu lesen. Im Ganzen kann ich wohl sagen — verzeihen Sie, wenn ich mich bedecke, meine Damen, ich bin noch nicht ganz so gesund, wie ich gern sein möchte, und wenn die Herren (Nein, nein!) dies auch thun wollten, so würde ich mich berechtigter fühlen —, eS ist mir eine Freude gewesen, zu sehen, daß die meisten Aeußerungen in der deutschen Presse, auch selbst von Seiten her, bei denen ich sonst nicht immer Wohlwollen finde, doch in dieser unserer Begegnung von vor acht Tagen einen Ausbruch nationaler Gesinnung erkannt haben, gegen den das Uebelwollen der Partei- unterschiede nicht Stand hielt, sondern sie habe» sich unbedingt dazu bekannt. Tie polnische Press« natürlich nicht, sie drückte bei dieser Gelegenheit in erster Linie ihre Verwunderung aus, daß ich mich nicht stärker ausgedrückt hätte heute vor acht Tagen (Heiterkeit, mit anderen Worten, daß ich mich gegen die Bestrebungen des polnischen Junkerthums nicht gröber ausgesprochen Hab« (lebhafte Heiterkeit); sie haben also doch daS Gefühl, daß das zu erwarte» gewesen wäre (Sehr gut! Beisall). Es ist das schlechte Gewissen, da- auS ihnen spricht; sie waren aus schärfere Kritik »och gefaßt, ein Bewußtsein ihrer eigenen Thaten, die sie kürzlich in Lemberg bethätigt und ausgesprochen haben. Di« polnische Slachta — ich beschränke meine Kritik aus den polnischen Adel — hat mit der Socioldemokratie das ge- gemein, daß sie ihre letzten Ziele nicht offen darlegt, aber e- ist doch offenbar wieder ein Unterschied: die Socialdemo kratie verschweigt sie, weil sie sie wirklich nicht kennt und nicht weiß, was sie darüber sagen soll, die Polen wissen eS aber ganz genau und können doch nicht dicht halten; das klingt überall heraus, jetzt neuerdings in Lemberg, und sonst auch bei uns in Posen schwebt ihnen immer vor die Wiederherstellung der alte» polnischen AdelSrepublikin einer Ausdehnung vom Schwarze» Meere bis zum Baltischen Meere, 33 Millionen, das ist ihnen ganz ge läufig, und wenn es auch einstweilen nur kleine Anfänge sind von einem Pufferstaat«, wie sie eS nennen und mit dessen Eventualität sich manche deutsche Polenfreunde befreunden. Also entweder ein polnisches Königreich oder eine Republik, wie die alte Bezeichnung lautet, bestehend aus dem heutige» Congreßpolen mit Warschau als Hauptstadt und Lemberg als Zubehör. Ich weiß zwar nicht, wie auch diese geringere und anfängliche Etappe sür ein Großpolen erreicht werden sollte ohne einen vollständigen Zusammenbruch aller europäischen Verhältnisse. Ich will mich in das Wie nicht verticscn, ebensowenig wie die Polen sich darüber klar sind, wie dies gemacht werden soll. Aber nehmen wir einmal an, daß es ohne große europäische Convulsionen möglich wäre, ein vergrößertes Herzogthum Warschau, ein Königreich Polen mit Warschau und Lemberg als Hauptstädten hinzuftelle» — wa- wäre dann sür uns die Folge davon? Ich will gar nicht sagen sür Oester- reich. ES wäre ein Pfahl im Fleisch sür Oesterreich und vor allen Dingen eine Verdeckung unserer neuen und. wie ich hoffe, dauernden Bundesgenosseaschaft mit Oester reich, wenn unter österreichischer Aegid« ein solches neues Congreßpolen geschaffen werden sollte. Die Schwierig keiten der österreichisch.ungarischen Monarchie würden in einem solchenFalle bis zur Unmöglichkeit complicirt werden durch die nie zu befriedigenden Ansprüche dieser dritten Macht in der Trias Ungarn, Cisleithanien und Polen. Aber ich spreche von einer Utopie, die ja ganz unerreichbar ist. Wie sollte man dazu kommen ? Aber wenn es erreichbar wäre, selbst im Frieden, so wäre eS sür uns ein Unglück. UnS war meiner Ueberzeugung nach, und ich stehe seit Vierzig Jahren in der großen europäischen Politik, die russische Herrschost, die russischeNachbarschast zwar ost unbequem und bedenklich, aber doch lange nickt in dem Maße, wie es eine polnische sein würde eLebhasler Beisall), und wenn ich die Wahl zwischen beiden habe, so ziehe ich immer noch vor, mit dem Zaren in Petersburg zu verhandeln zu haben, als mit der Slachta in Warschau. Es liegt das ja nicht im Bereiche der Wahrscheinlichkeit und Möglichkeiten und ich spreche von phantastischen Coujecturen, aber die Polen rechne» damit, sprechen davon und glauben daran und werden zuweilen ermuthigt durch deutsche Gutmüthigkeit und deutsches Wohlwollen. (Zustimmung und lebhafter Beisall.) DaS ist -, was ich hauptsächlich betone, wogegen ich kämpfe, gegen den Rest von Glauben an Las polnische Iunkerthum, der sich bei manchem deutsche» Liberalen »och immer vorfindet. Es ist-immer ein Irrthum; ein Lchutzsiaat gegen russische Invasion ist selbst das starke Großpolen von vor 1772 nie gewesen. Tie russischen Armeen uiarjchirlen »ach Zorndors und Kunersdorf nach ihrem Belieben quer durch Polen durch und Niemand hielt sie aus. Und die Franzosen, wie sie sich "i, Kncge mit Rußland befanden und aus den Rückzug geriethen, haben bei ihren poluischea Freunden kein RcpliS und keinen Halt gesunde», sie haben sich nicht ausbalten taffen. Tie Polen haben sich lavier geschlagen im Jahre 1830 und 1v3l» aber das war eine geschulte polnische Armee unter Leitung des Großfürsten Konstantin, der sich innerlich freute, wenn die von ihm vorzüglich rinexercirte rein polnische Armee den Russen gegen über Siege gewann, und der sich die Hände darüber rieb, daß seine Polen dies thaten (Hört! hört!). Ohne eine solche, rin halbes Mcnschenalter dauernde Vorbereitung, wie sie die polnische Armee damals hatte — und sie war wirklich eine gute Truppe damals —, wären selbst die Leistungen von l83l nicht möglich gewesen. Und sie waren doch nicht einmal nachhaltig. Sie konnten sich selbst i» dieser Nothlage unter einander nicht vertragen. Im Frieden sind sie schon einig, so lange sie dem geduldigen Deutsche» gegenüber stehen; aber sowie sie frei sind, das Terrain sür sich allein haben, sind sie uneinig. So würde es auch später sein. Nun, ich spreche nicht in der Hoffnung und in der unfruchtbaren Absicht, den polnischen Adel zu gewinnen und zu bekehren, sondern ich spreche nur in der Hoffnung, bei unseren deutschen Landsleuten den letzten Rest von Polen-Sympathie, von Sympathie sür Feuilleton. Der goldene Mittelweg. 91 Roman von Erich Rott. Na-truS »irboteu. (Fortsetzung.) Aber der Knabe schüttelte den Kopf, warf sich auf» Neue mit Thränen besäeter Miene zu der Tobten nieder und drang schluchzend in sie, doch wieder aufzuwachen und ihren kleinen Knaben lieb zu haben. DaS ging stundenlang fort. Als Lenc ibn endlich halb gewaltsam von der Todtcn genommen und in ein Neben zimmer geführt hatte, begann Erich nur um so lauter und jämmerlicher zu weinen. Seine Klagen klangen durch daS still gewordene Haus und schnitten dem verzweifelnden Groß vater tief inS Herz. DaS HauS wurde nicht leer von Leidtragenden und tbeil- nahmSvollen Nachbarn, die gekommen waren, Nähere» über den grausigen Vorgang zu vernebmen. Alle aber traten, so rücksichtslos sie sonst durchs Leben schreiten mochten, nur aus den Zehenspitzen inS Gehöft und dämpften ihre Stimme nach Möglichkeit. Die bange Scheu, welche den Lebendigen vom Tobten trennt, erfaßte ein jede» Herz schon beim Eintritt in daS Gehöft. Nur wortkarg und verdrossen gab Winkler Bescheid. WaS sollte er auch den neugierig Fragenden sagen, wo er seinem eigenen so web und bang pochenden Herzen keine Antwort zu crtheilen vermochte ? Die Tage über, während welcher die Tobte über der Erde lag, ging Lebrecht Winkler wie tiefsinnig im Hause umber. Die erste furchtbare Aufregung angesichts de« entsetzlichen Geschehnisse« hatte ihm immer noch einen Rest seiner sonst so unbeugsamen Willenskraft erbalten gehabt; jetzt aber, wo die stillen, der Trauer und Selbsteinkehr geweihten Stunden sich endlo« aneinanderreihten, wo im Trauerhause, besonder« die langen Nächte über, eine solche unheimliche Ruhe herrschte, daß man daS Pochen der Herzen zu kören vermeinen mochte, jetzt litt e» den Bauer nimmer an einem Ort. Wohl zehnmal ,n der Nacht erbob er sich, und trotz der Abwehr seiner Krau, welche ebenfalls schlaflos in ihren Kiffen sich wälzt«, zündet« er Licht an und ging mit ihm die Treppe zum Ober stock hinauf. Dort trat er dann in da» Todtenzimmer rin, in welchem die geweihten Kerzen brannten und, in dem mit Blumen geschmückten Schrein geborgen, die Hände friedvoll über der Brust zusammengesaltrt, die Tobte lag. Nun drängte eS den plötzlich alt gewordenen Mann, seinem Kinde noch einmal ia das toderstarrte Antlitz zu schauen. Er wußte wohl kaum clbst, WaS Alle» er zu der Tobten sprach, WaS er ihr gelobte, venn sie noch einmal ausschauen würde, damit er ihr noch äaen könne, wie'S künftig zwischen ihnen sein solle ; aber daS ühltc er, daß er den übrigen Nest seine» Lebens gern für einen solchen Preis dabingcgeben haben würde. Einmal als er wieder mit herber, öder Verzweiflung mit einem Herzen voll selbstquälerischen Jammers aus dem Tcdtenzimmer ging, da hörte er ein leise», seines Weinen; eS kam auS der Kammer, in welcher die Magd nun mit den beiden Kindern der Heimgegangenen gemeinsam schlief. Winkler blieb einen Augenblick zögernd auf dem Flur stehen, dann ging er kurz entschlossen in den Raum, um nach der kleinen weinenden Eva zu sehen. ES brannte ein Nachtlicht in der Kammer. Weiter hinten ruhten die alte Magd mit Erich. Ter kleine Bursche mochte bis zum letzten Augenblick geweint haben, denn er lag, halb vom Arm der Schlafenden umschloffen, mit gcrothetem, schmerzlich verzerrtem Antlitz da. In der Wiege aber bewegte sich unruhig die kleine, kaum zur Welt geborene Eva. Winkler trat eben an die gerade mit Weinen Aufhörende heran. Bisher hatte er sich die Mühe nicht genommen, auch nur einen Blick auf daS winzige Geschöpf zu Wersen, dessen Existenz er seiner zur Verzweiflung getriebenen Tochter beute noch zum Borwurfe machen zu müssen glaubte. Jetzt, zum ersten Mal in seinem Leben, beugte er sich über die Wiege, und da blieb er plötzlich wie gebannt stehen, während er fühlte, wie sein Herz sich zu- lammcnkrampfte, dann wieder, wie von einer freudig mahnenden Empfindung durchzittert wurde. DaS Kind lag nun still in seinem Bettchen, und bei dem Scheine der brennenden Kerze, welche Winkler in der Hand hielt, öffnete eS weit die Augen. Es waren wunderliche blaue HimmelSaugen. Dem alternden Mann war es plötzlich, als ob die trübe, von Gewissensbissen durchsetzte Gegenwart verschwunden und eine freundlichere, glückverheißende Vergangenheit an deren Stelle getreten sei; Winkler sah sich um etwa ein Viertel- jahrhundert verjüngt. Da batte er in demselben Hau-, an derselben Wiege gestanden und ebenfalls in ein himmelblaue« Kinderaugenpaar geschaut. Da« war damals gewesen, al« sein Weib ihm nach harter SchmerzenSnoth ElSbeth geschenkt hatte Seltsam, eS lag rin Birrteljabrhundert zwischen jenem Augenblicke und der traurigen, öden Gegenwart — — und doch fühlte der einsamtraurige und wie gebannt in da« volle Kinderantlitz schauende Mann die Empfindungen von Neuem, die damals mit mächtigem Drange sein Herz durchbraust hatten. Wie hatte er doch ElSbeth geliebt, welche Vorsätze waren beim Anblicke seines Kinde» in ihm angesacht worden, und mit welchem liebevollen Drange hatte er die allmählich Größer werdende umfaßt, bis endlich sie, zur Jungfrau berangereist, Ich von ibm abgewendet hatte, um dem ihm noch im Tode verhaßten Mann anzuhängen. Die aber eben in der Wiege lag, daS war die kleine ElSbeth wieder, mit denselben holten, süßen Augen hatte sie ibn angeschaut, dasselbe rosige, winzige Gesicht hatte seinen Blick verklärt. Da kam plötzlich ein schluchzender Seufzer über die erzitternden und wie von einem inneren Kampf dnrchschüttclten Lippen deS Mannes. „Ja, jetzt weiß ich, wie ich Dich versöhne. Du armes Weib", stöhnte er. „Dein Kind, daS Du geboren, um auS der Welt zu scheiten, ich will eS hegen und pflegen bis an den Tod. In diesem kleinen armen Wurm sollst Du mir von Neuem geboren sein, meine arme ElSbeth!" Seine Stimme brach; er wandte sich ab und verließ die Kammer. Von hier lenkte er den Schritt nach dem Tottcn- zimmer, und wiederum sank er in stillem, innigem Gebet neben der Leiche auf die Knie nieder. Ein heiliges, un veräußerliches Gclöbniß stieg in diesem Augenblick zum lichten Ursprung aller Wellen empor. Da schien eS ihm, als ob die Todte lächele, und zugleich war e» ibm auch, als ob der Friede, der zwischen ihnen im Leben gefehlt, nunmehr zwischen der Tobten und ihm wieder erstanden sei. Freilich, nur der durch den offenstehenden Fensterflügel hcreinsiuthcnde Windhauch, der die Kerze bewegte, war es gewesen, der die seltsamen Schalten über daS Todtenantlitz geworfen hatte. Aber die fromme Selbsltäuschiing genügte Lein sich wunderbar gckrästigt und getröstet fühlenden Mann; er ging zu seinem Weibe hinunter, faßte dessen Hant und sagte tief empfunden: „Ich habe meinen Friede» gemacht mit der ElSbeth, sie hat uns i» Evcken ein heiliges Pfand hinterlaffen. Ich will da» Menschenblümlein hegen und pflegen, so wahr mir Gott belse in meiner letzten Noth!" Frau Barbara weinte still vor sich bin, den» ihr Mutter berz konnte sich durch die Auffassung de« Gatten nicht getröstet fühlen. Vor wie nach leckte mit empfindlichem Stachel der Gedanke in ihrem Herzen, daß es nicht zu solchem Ende hätte kommen muffen, wenn mehr LicbrSsonnenschein früher im Hause gewesen wäre. X Der alte Geistliche hielt Wort: «in ehrliche», schönes Be- gräbniß war eS, welches er der Tobten veranstaltete; nicht in ungeweihter KirchbosSccke wurde ElSbeth zur Ruhe bestattet, sondern neben dem Hügel de« so heiß und innig geliebten Gatten durste sie schlafen. Wenn sie auch durch eigene Hand au« dem Leben ge schieden wäre, führte der alte Mann in seiner ergreifenden Leichenrede auS, hätte sie ihre Tkat doch nicht bewußt voll bracht, sie wäre krank, in irrem Wahn dabingegangen. Der aber über allem Irdischen steht, hätte ihr sicherlich auch ver geben. Im Baterbause riß der Tod der Frau ElSbeth keine nachhaltige Lücke. Dar sic doch auch im Leben dein Wirken und Treiben auf dem Hof nicht näher getreten. Der erste Schmer; vernarbte allgemach i» dem Herzen des tiefgebeugten BatcrS. DaS Lieben und Fühlen de« Mannes ist, wie eS stürmischer als dasjenige des Weibe» ist, wohl auch kürzer und nicht so innig, wie dasjenige de» letzteren. Der Mann vermag eher zu vergessen als die Frau; während Frau Barbara vor wie nach keinen Ersatz sür dir Tahingeschicdcnc sinken konnte, fühlte sich Lebrecht Winkler wunderbar getröstet, wenn er in die blauen HimmclSstcrne des kleinen EvchcnS blickte und an der Wiege des Kinde- verweilen durste. Winkler war überhaupt ein ganz Anderer geworden; während er früher höhnisch aufzclackt hätte, wenn ihm sein Weib zugemuthct baden würde, die Wartung des eigenen KindcS zu übernehmen, konnte er jetzt stundenlang an der Wiege hocken und den Schlaf deS kleinen Wesens überwachen. Ia, er litt eS nicht einmal, daß die kleinen Verrichtungen, welche die Abwartung eines kleinen Säuglings nöthig macht, von einer dritten Person bewirkt wurden. Es machte 'einen geradezu rührend komischen Eindruck, den rauben, wcttcrharten Mann mit den feste» Fäusten, die eigentlich nur zum Dreinschlagen geschaffen schienen, mit läppischer, unbeholfener Zärtlichkeit um jenes winzige Geschöpf besorgt zu sehen. Ter kleine Erich batte jetzt freilich eine doppelt trübe Zeit. Er war, obwohl den Jahren nach »och ein zartes Kind, durch das neue Unglück, das mit so erschütternder Ge walt in sein Dasein cingegriffen hatte, plötzlich gereist ge worden. Hatte cr dein, Vater »och nicht begriffen, was eS heißt, Abschied fiir'S Leben nehmen, so wußte er eS nun, daß sein Mutterte todt war. Die Lenc hatte nicht viel Noth mit ibm; cr saß, leis« vor fick binwcincnd, in irgend einem Winkel, mochte nimmer essen, noch spielen; eS hals auch nickt», wenn die Lene, ihrer früheren Gewohnheit treu, ihm Märchen erzählen wollte. Er wurde immer erst gesprächig, wenn die Nackt bcran- kam. Dann wußte er so lange zu bitten, bi- die Lene mit ihm an? Fenster trat. An dieses stellte er sich einen Stuhl und schaute durch die Scheiben zum Himmel aus. (Fortsetzung folgt.)
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