Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.10.1894
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1894-10-08
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18941008027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1894100802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1894100802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1894
- Monat1894-10
- Tag1894-10-08
- Monat1894-10
- Jahr1894
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Ve-»g«.Vret» tz« Haaptegpedittoa «der de» t» Stadt» be»irt and dä> Vororten «richtet«,, Sa», aabestellea abg« holt: vierteljährlich X 4.ÜÜZ bei Weiwaliger täglich« Zuftellvng iu« Haas bckL Durch die Post bezogen für Tevtfchlaad aad Oesterreich: vierteljährlich ^4 H.—. Direct« tägliche Sreuzbanditiiduug ia» Lailaad: moaatüch ^4 7.SV. Dt, Llorgea-La-gab« «scheint täglich '/,? Uhr. di« Lbend-AusgsK« Wochentags 5 Uhr. Marti»« a«d Lrpeditioa: A<hanneSgasse 8. chitioa ist Wochentag« anuntecbrochr» >et »o» früh 8 bi« Abend» 7 Uhr. Filiale«: vtt» Me«« » Parti«. <«fre» UaiversilLtsstrabr 1, Laut« Lösche. Katharinenstr. 14, pari und KSnlgSplatz 7. ^-A5. Abend-Ausgabe. Anzeiger. Lr-an für Politik, Localgeschichte, Handels and Geschäftsverkehr. II uzcigcu.Preis die «gespaltene Petitzeile 20 Psg. Neclame» >»t« dem Redactioasstrich (4g»> spalten) dO^, vor den F-uniliennachrvtzte» skgespaltea) «ü^. Gröbere Schriften laut uns«rm Prri». aerzeichmß. Dabellarischer und Zistrrniatz nach höherem Tarif. Extra-veilagr» sgesalzt). nur «tt der Morgen-Ausgabe, ohne Postbelörderung ^4 60.—, mit Poftbesvrdeeuag ^4 70.—. Aunalsmetchluß für Anzeigen: Abrad-Ausgabe: Bormittag« 10 Uhr. Morgen-Lusgabe: Nachmittag« 4 Uhr. Eoan- und Festtag» früh '/,S Uhr. Lei den Filialen und Annahmestelle» je ein« halb« Stund« früher. Aaieige« sind stet« au die Erpehithsa zu richten. Druck «ad Verlag von E. Pol» ia Leipzig Montag den 8. Oktober 1894. 88. Jahrgang- politische Tagesschau. * vei-zig, 8. October. Die „Bossische Zeitung" beliebte vor einigen Tagen die grabe Fälschung einer'MeinuiigSäu ßc rung des „Leipziger Tageblattes". Wir liegen sie unbeachtet, sind wir doch von dem Berliner Fortschritt und seinen Organen längst das Gegenlheil eines anständigen BerhaltenS gewohnt. Da aber die falsche Darstellung deS Blattes von einer Reihe von Zeitungen („Post", „Bert. N. N." rc.) über- nomine» wurde, erscheint cS angezeigt, den Sachverhalt richtig zu stellen. Es handelt sich um unsere Auslassungen zur Röß ler'scheu Sckrisl „Die Socialdcmokratic". Die „Boss. Ztg." entnimmt diesen Auslassungen einen einzigen Satz und folgert aus ihm, das „Leipziger Tageblatt" scheine „dem Staats streich nicht ablehnend gegenüber zu stehen." Daß wir Herrn Or Rößler euren unberufenen Rathgeber ge nannt und uns das Urkbeil der „Boss. Ztg.", der Staats streich wäre nichts Anderes als die sichere Zerstörung des deutschen Reiches und der Triumph des Umsturzes, vorbehaltlos an geeignet hatten, verschweigt das frei sinnige Blatt seinen Lesern. Die Gedanken, die rS wiedergiebt, daß nämlich hauptsächlich die ewige Regalien des Freisinns eö sei, was Männer wie Rößler auf solche Ideen brächte, und daß, wenn jemals das unermeßliche lln glück des Staatsstreiches über Deutschland bereinbrächc, die fortschrittliche Politik die Hauptschuldige wäre, diese Gedanken ballen wir natürlich fest und berufen u»S dabei auf die — „Bossische Zeitung". Ter Staatsstreich wäre eine Revolution von oben, die „Bost. Ztg." hat aber unzählige Mate Len Satz ausgesprochen, daß alle Revolutionen der Geschichte durch die Fehler oder Verbrechen der Träger der bestehenden Ordnung verschuldet worden seien, daß oftmals die staatliche Existenz nur aus Kosten deS geltenden StaalS- rcchlS Kälte gerettet werden können. Nun, auch der Reichs tag ist ein Factor der bestehenden deutschstaaltichcn Ordnungen, und wenn er durch Maiigel an Einsicht oder Pflichtgefühl oder an beiden, LaS Dasein des Reiches gefährden sollte, so wären nach der Lehre der „Boss. Ztg." die anderen staatlichen Factoren aus Acte der StaatScrhal- ttmg. welche dem formalen Rechte zuwider lausen, hingewirsca. Den Satz, daß Regierungen, nicht aber Parlamente durch eigene Schuld zu Grunde gehen können, wird man weder theoretisch beweisen, noch geschichtlich belegen können. Daß aber die Negation des Freisinns, die dem Reiche seit seinen, Bestehrnpolitisch und materiell das tägliche Brod vor- zuenthallen trachtet, vor Allem für eine gewaltsame Umwandlung der Volksvertretung verantwortlich wäre, davon hat auch die „Voss. Zcitg." eine Vorstellung. Sie beschwichtigt sich nämlich unsere — für die Gegenwart übrigens gar nicht bestehende» — Besorgnisse mit dem Hin weise aus die geringe Slimmcnzaht ihrer Partei im Reichs tage. Aber dieser sclbstverleugnendc Trost ist keine Recht» scrligung für den Fortschritt. Dieser hat seine frühere Stärke m nachhaltiger Weise gegen das Interesse des Reiches zur Geltung gebracht und trägt die Hauptschuld, daß heute andere »cgirende Parteien — deren nationaler Nihilismus aus ihrem Wesen rcsultirt unv darum als etwas Unabänderliches (»igcnommcn werden muß — im Reichstage ausschlaggebend geworden sind. Schließlich thut sich die „Vossische Zeitung" uns gegenüber darauf etwas zu Gute, daß man auf der einen Seile dem Freisinn zum Vorwurf mache, er unterstütze den Grasen Caprivi byzantinisch, auf der andern, er treibe gewerbsmäßig Opposition. Aber Beides geschieht thatsächlich seitens deS Freisinns, und daß es geschehen kann, daß Parteien — der Freisinn steht hier nicht allein — für die Person eine- Minister- zittern, den sie in allen großen politischen Fragen bekämpft haben und bekämpfen werden, das eben ist das Unerhörte und Widersinnige au unseren öffentlichen Zuständen. Wenn die dem „Hamb. Corr." zufolge zu Ende dieser Woche beginnenden Berarhungcn dcö preußischen StaatS- ministeriumS über die „vorliegenden Entwürfe" zur Bekäm pfung der Uin sturzbcwegung beendet sei» werden, kommt für die Lssiciöse» und ihre demokratischen und ultra- montanen ml lioe-Verbündeten der große Moment, in dem sic der Welt verkünden können, daß die gegen den Reichs kanzler gesponnenen Intrigue» niedergeschlagen seien und Gras Caprivi aus der von seinen Gegnern hcrausbcschworencn .Iaiizlcrtrisis" unversehrt und gefestigter als je hervor- gcHangen sei. Es ist Lader erfreulich, daß die conservative „achtes. Ztg." die Geschichte der „KanzlerkrisiS" und das Wesen dieser „Intrigucn" folgendermaßen klarstellt: „Ter Kaiser spricht zündende Worte, in welchen er zwar den llebereiser agrarischer 4>eisifporne tadelt, dennoch aber die Nothwen- digkeit der Solidarität und Zusammengehörigkeit des Trägers der Krone mit de» alten vreusiischen Geschlechtern, welche in den Kriegen und Siegen miseres Fürsiensiamincs tausendfältig und freudig ihr Blut verspritzt baden, ausdrücklich hervorhebt Er fordert zu ein- inütbigem Kampfe wider die Parteien des Umsturzes aus, er betont feine Hingabe an den deutsch-nationalen Gedanken, er richtet ein zorniges und gebietendes Herrschern»»» an die kecken Vertreter deS Polenthums, welche bereits meinten, die ihnen gegen über a» den Tag gelegte Nachsicht und Milde des deutschen Kaisers zu Gunsten ihrer nationalen Aspirationen ausnutzen zu können. Ist es nicht natürlich und erklärlich, daß diejenigen Kreise und politischen Gruppen, welche sich immer als Vertreter der hier von dem Kaiser ausgesprochenen Ideen gesühlt haben, freudig ausjubeln, dasi sie der Hoffnung Ausdruck geben, es werde nun endlich eine politisch« Richtung ausgegeben werden, welche so wenig den hoch- herzigen und echt nationalen Anschauungen entspricht, die der Monarch soeben als seine eigensten ausgesprochen hat? Ist es nicht durchaus gerechtfertigt, wenn die Vertreter der alten preußischen Traditionen, wenn die Befürworter einer straffen nationalen Politik die Erwartung kundgeben, daß nun endlich rin Ende »ehmcii werde die zaghafte Concessionsbereitschast aus colonialem Gebiet, das lieben», würdige Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Pole», die zarte Rücksicht aas dir wirthschafttichen Bedürfnisse der fremden Staate«, mit denen Deutschland handelspolitische Uebereinkünste zu treffe» für geboten und gcrathca hält ? Und nur weil solche Hoffnungen und Erwartungen ausgesprochen werden, sind die klerikale und die demokratisch« Presse schnell bei der Hand und erklären, daß alle derartigen Auslassungen keinen anderen Zweck verfolgen, al« den „Sturz" deS Grafen Caprivi. DaS ist die ganze Ge- schichte der angeblichen Kanzlerkrisis! So wird im Hand umdrehen aus einer gewatlsaincn und sophistischen Schlußsolgerung eine Thatsache, die Thatsache des Bestehens einer „Ka nz terkri stS '. Triumphirend verkünden dann die Organe der eben bezeichnet«» Presse, daß die Jntriguen niedergeschlagen seiea und Laß Gras Caprivi nicht gehe, sondern bleibe, zum Nutzen d«S Reiches und zum Trutz seinen Feinden!" In Wahrheit haben, wenn eS zu Gesetzentwürfen zum Zwecke der Bekämpfung der Umsturzbcwcgung kommt, gerade diejenige» Parteien gesiegt, die auf die Ausarbeitung solcher Entwürfe drangen. Und am wenigsten haben Diejenigen, die ein solches Drängen zur „Intrigue" gegen den Kanzler stcinpeltcn, Ursache, den letzteren zu beglückwünschen. Tenn gerade sie haben durch ihre Verdächtigungen unter den Parteien, deren Unterstützung die Regierung am nötbigsten bedarf, den heillosen Wirrwarr erzeugt, dessen Zeugen wir sind. „Sieben Katzen schlugen sich In der dunklen Kammer Mit 'nein blanken Hamm«." Mit diesem KinderverS charakterisirt die Rößler'sche Broschüre treffend diese» Wirrwarr, den die Anwälte der bisherigen schlaffen Politik angerichtct haben. Es wird schwer genug sein, die Schläge des „blanken HainmcrS", den die Ordnungsparteien gegen einander schwinge», ans den gemeinsamen Feind zu lenken. Jedenfalls ist diese Ausgabe schwerer, als die ankere, einer vom Kaiser gegebenen An regung zu folgen. Und scheitert infolge des in so iböricbter Weise provocirtcn Wirrwarö der Versuch, die „Ordnung- Parteien" zum Kanipse gegen den Umsturz zu führen, da»» wird man wahrscheinlich mit Recht von einer „KanzlerkrisiS" reden können, die mau jetzt kindischer Weise an die Wand gemalt hat. Die Lage in China bat, wie schon an anderer Stelle gemeldet wurde, zu Verhandlungen zwischen England, Deutschland und den übrigen Mächten geführt, um gemein same Maßregeln zum Schutze ihrer Staatsangehörigen in China zu vereinbaren. Daß Deutschland an den Ver handlungen thcilnimmt, ist selbstverständlich. Deutschland bat nächst England die zahlreichsten und wichtigste» Interessen in Ostasien zu vertreten und muß taker in erster Linie um seine Meinung befragt werden. Man würde aber irren, wollte inan in dem gemeinsamen Vorgehen der europäischen Mächte lediglich die Belbätigung deS europäischen SolidaritätSgcsühlS er blicken. DaS gegenseitige Mißtrauen siebt dem ein fettigen Eingrcisen einer einzelnen Macht ebenso im Wege wie separate» Abmachungen zwischen zwei Mächten, mögen cö nun Frankreich und England oder Frankreich und Rußland kein. DaS Organ der französischen Regierung, der „TcmpS", hat in einem schon erwähnten Artikel kiese Seite der Angelegenheit klar und treffend erörtert. DaS Blatt führt u. A. auS: Alle Nachrichten aus Asien bestätige», daß die Lage aller in China befindlichen Europäer sehr bedroht sei. Somit gelangt die Interessen-Gemeinschaft sämmtlicher Europäer den Beteiligten zum Bewußtsein. Daher gereicht jede Schuyvorkebrung, die eine europäische Macht für ihre Angehörigen trifft, ipso facto zum Vortheile der Ange hörigen anderer Staaten. Wenn beispielsweise, wie ange nommen werden darf, England sich entschließt, eine Anzahl seiner indischen Bataillone nach de» chinesischen Häsen zu schiuen, seine EScadre in jenen Meeren zu verstärken und dem commandircnden Admiral die Bewachung der be drohtesten Puncte zu befehlen, so liegt darin eine neue Garantie für die Fremden, wofür deren Regierungen dem Cabinct von St. James Dank wissen werden. Aber wenn auch diese Solidarität vor der Gefahr zugestandcn und von vornherein der gute Glaube in diesen wenigstens jetzt ohne Hintergedanken getroffenen Schuymaßregeln anerkannt wird, so ist es doch unmöglich, die Uedel stände des isolirten Vorgehen- einer Macht nicht herauSzu- sühlcn. Die Völker dcö Ostens glauben zu lassen, daß nur eine einzige Nation einen so langen Arm hat, um Tausende von Meile» weit wirksamen Schutz auSzuüben, hieße sich selbst eine moralische Niederlage bereiten und absicht- ich zu Gunsten einer einzigen Macht aus da« Ansehen der Welt verzichten. Augenblicklich giebt e« im äußersten Osten einen neuen kranken Mann: China scheint in den Grundlagen erschüttert. Wenn ein Erbonkel sich niederlcgl, duldet man nicht, daß ein einziger Erbe sich an seinem Bette sesisetzc. Freilich lehrt die Erfahrung, daß der kranke Mann am Bosporus auch noch munter lebt, und China könnte leicht unvermulhete Widerstandskräfte entwickeln. Aber diese conservative Lösung, die im allgemeinen Interesse die wünschenSwcrthcste wäre, ändert die Pflicht der Mächte nicht, jetzt gemeinschaftlich vor- zugchen und pari passu die Scyutzmaßregcln zu treffen, um jeden Verdacht, jede Möglichkeit einer isolirten Acticu zu egoistischen Zwecken zu descitigeu. Um für die französische Weltausstellung von tW>» rechtzeitig Reclame zu machen, batte der Pariser „GauloiS", wie erinnerlich sein wird, eine Schnurre erzählt, deren Held der deutsche Kaiser war. Der Kaiser habe gegenüber einem Franzose», der sich socialpolitischer Studien halber in Berlin aufhiclt, letzthin den festen Entschluß knndgegebcn. im Iakre l9«n> Paris mit seinem Besuche zu beehren. Als der Franzose ihn verwundert und fragend anblicktc, soll er die Unterredung mit den Worten geschloffen haben: „Ich kenne die Franzosen und weiß, was ich zu thun habe; also auf Wiedersehen in Paris!" Diese Meldung deS „GauloiS" ist natürlicher Weise von Anfang bis zu Ende erfunden und von deutscher osficiöser Seite auch so gekennzeichnet worden. Trotzdem verlohnt eS sich, über die Aufnahme der Tatarennachricht in der Pariser Presse zu berichten. Die vornehmeren Pariser Journale hatten die Notiz entweder ganz ignorirt oder mit kühlster Reserve kurz verzeichnet -, zu einer beifälligen oder ermunternden Bemerkung suhlte auch nicht ein einziges sich bewogen. Diejenigen Blätter aber, welche aus Massenabsatz berechnet sind und aus die große Menge Einfluß üben können oder wollen, er klären rund heraus, daß da- Volk von Paris den kaiserlichen Besuch sich verbitte. Herr Cugöne Mayer — rin Rhein prcußc von Geburt, also ein nationaler Renegat und als solcher ein Erz-Cbauvin — erklärte in seiner „Lanterne", daß cS die Franzosen und die Pariser beleidigen heiße, wenn man ihnen zuninthe, den Enkel Wilhelm'« l. iu ihrer Milte zu empfangen. Wohl würden im Jahre llwtt drei Dcccnnien seit ^cta» kahingcgangen sein, aber die damals dem französische» Volk gesivlagenc Wunde könne auch in dreißig Jahren nicht vernarbe», der glühende Haß nicht der Gleich giltigkeit oder gar der Sympathie weichen. Im „Rappel", einem anderen v,clgetese»cn radicalen Blatt, bemerkt Auguste Vacqucrie, daß der Kaiser inmitten der Franzosen nur er scheinen dürfe, wenn er in der einen Hand Elsaß, in der anderen Lothringen mitbringr und offen erkläre: „Sie gehören euch, hier habt ihr sie zurück!" So lange er sich dazu nicht ausraffen könne, möge er jenseit» der Grenze bleiben. Ganz ähnlich äußert sich das „Petit Journal", das Tausenden von Parisern die politische Kost liefert. Es erkennt an, daß Kaiser Wilhelm ll. jede sich bietende Gelegenheit benützt habe, um seine fried liche und versöhnliche Gesinnung zu bekunden und den Franzosen ein gewisse« Entgegenkommen zu beweisen. Aber mit platonischen Geschenken sei Frankreich nicht gedient; wolle der oberste deutsche Kriegsherr dessen Sympathien wirk- lich gewinnen, so wisse er ja, was er zu thun habe. Die Rückerstattung de« Raube« von l87l werde auch die Ungläubigsten überzeugen und die kältesten Herzen erwärme». Schön klingende Phrasen, FriedcnSworte, denen die Ver mehrung der deutschen Heere nicht entspreche, verhallten in Frankreich wirkungslos und könnten nur das Mißtrauen ver mehren. Entweder Elsaß-Lothringen oder nichts, auch kein Kaiserbesuch! — so müsse die Parole lauten. — Wer sich durch die Acußcrungen dieser Volksblätter über die VolkS- stimmung nicht belehren läßt, ist offenbar jeder Belehrung unzugänglich. Die Verwerfung des Gesetzes über die freie Religion-- Übung durch daS ungarische MagnalenhauS wird von österreichischen liberalen Blättern vorläufig als ein „Fehler" angkschcii, der »och reparier werden kann. Man hofft, die Majorität, welche das Civilehcgcsetz votirl hat, werde an die FrniHets«. Der goldene Mittelweg. 21s Roman von Erich Rott. Nachdruck vkrbotcii. (Fortsetzung.) XX Ein wonniges Lächeln spielte um Erichs Lippen, als er nun wieder leichtbeschwingten Fußes in die eigentliche Dorf- slraßc einlcnkte. An dem Schulhause vorüber führte ihn der Weg und schon von Weitem suchte er daS kleine, epheu- »msponnene Häuschen, in welchem sein verklärtes Müttcrlcin die schönsten und auch die traurigsten Stunden ihres kurzen Mcnschendascii's verlebt batte. Aber das friedliche Häuschen wollte nicht erscheinen, so sehr der Verwunderte auch ausspäbtc, und als er näher kam, gewahrte er, daß da« alte kleine HauS einem stattlichen Neubau, der sich glatt und geleckt in tic Lüfte streckte, gewichen war. Die Einwohnerzahl des Dorfes batte sich in der Zwischenzeit verdoppelt, und da hatte eS das alte Hau- mit seinen eng beschränkten Räumen nicht länger gctban. Wehmüthig betrachtete der Hcimgekehrte den Neubau Ia, eS war doch nicht Alle- beim Alten ge blieben. Jetzt eben fühlte er eS auf's Neue, daß er al« ein Fremder heimgckchrt war, und zum ersten Mal beschlich ihn mit leisem Bangen der Gedanke, wie er eS wohl in dem großväterlichen Gedöst antrcffcn und mit welchen Empfindungen der alte, strenge Mann, den er so wenig verstand, ihn wohl aufnebmen werde. Wenige Minuten später stand deS Heimgekehrtea Fuß schon vor dein Thorbozen des großväterlichen Gedöst«. Der Hos stand noch gerade so trotzig und massig La wie damals, als der zagende -Knabe zuerst durch ihn den scheuen Blick auf die Dorsstraße batte gleiten lasten. Freilich, die Hütte mit dem großen bissigen Caro war verschwunden, im Hosraum selbst zeigte sich ebenfalls manche Veränderung Da war ein Lagenschuppen erbaut worden.„wie der Heimgekehrte aus den ersten Blick sab, und inmitten des Hofe- erhob sich nun ein gar zierliches Taubenhaus, in dessen geräumigen, von außen eine Ritterburg darstellenden Verschlägen e,n« Menge buntscheckiger Tauben Unterkunft gefunden hatte. Dort war auch noch der alte Lindeobaum, grün und schatten» spendend wie ebemal«; auch die Bank unter ihm befand sich noch am alten Fleck. Der Heimgekehrte beschattete unwillkürlich die Augen mit der einen Hand, eine tiefe nachhaltige Wehmuth überkam ihn plötzlich; eS war ihm nicht anders, als ob nun gleich der Lene bärbeißige Stimme laut werden müsse. Oben aber, im einsamen Stübchen, sah er sein Mütterchen wieder, die immer so liebreich die Arme nach ihm ausgestreckt und ihn so willig aus den Schooß genommen batte . . . Vorbei! Vorüber! Die treuen Seelen, die ihn so lieb gehabt, deckte der Rasen. DaS alle Gemäuer aber, das der Flucht der Zeiten getrotzt hatte, konnte ihm keinen Ersatz mehr für das Ver lorene gewähren. Mit dem immer bitterer sich in ihm regenden Gefühl, daß er nimmer in den Hos gehöre, durch schritt Erich den Thorbogen und lenkte seine Schritte dem eigentliche» Gehöft zu. Da aber erschien auch schon in einem offenen Fenster der Wohnstube im Erdgeschoß ein wunderlieblicher blonder Mädcbcn- kopf. „Erich, bistDu'S?" rief eine glockenreine, süße Stimme, die ikn wundersam heimathlich anmuthete, und bevor er sich noch zurecht finden konnte, da kam schon die schlanke liebliche Gestalt Eva'S die Treppe herab, aus ihn zugeflogcn und lag ihm, weinend und lachend, in den Armen. „Mein großer, bärtiger Bruder, Hab' ich Dich wieder ?" jauchzte da« liebliche Geschöpf, saßt« ihn beim Kopf, zog diesen zu sich nieder, so daß sie ihn auf den Mund küssen konnte, „willkommen, tausendmal willkommen daheim!" Da traten dem Heimgekrbrten die Thränen in die Augen, gerührt schaute er in daS süße, liebreizende Gesicht Eva'S und gern erwiderte er den trauten BegrüßungSkuß. „Schau, schau, was ist mein Schwesterchen schlank und schön geworben, wie ein wonniger Maientraum", rief er auS »od blickte wie verzückt das holdselige Mädchen an, welche» wie ein licht- umsloffenrr Engel vor ihm stand. „Ich sah im Geist noch immer Klein Evchen, da- schmollend mit dem verzogenen Plappermäulchen im Hofe herumzutappeln pflegte, vor mir... und nun finde ich eine so große schöne Dame." „Du vergißt, daß ich jüngst zwanzig Jahre alt geworden bin", lachte dabei daS junge Mäpchen, wahrend e» an seinem Arme hing und mit ihm der HauSthnr zuschritt. „Und da wir Frauen früh alt werden» so bin ,ch eigentlich viel älter al- mein großer stolzer Herr Bruder, der nur vier Jährchen älter ist. Aber laß Dich nur betrachten. Du bist der Alte noch und doch ein Anderer. Ich kann mich noch enau aus Dich erinnern, wie Du mit den geflickten Hosen erumliesst und mit Großvater immer in Fehde lagst, wer mich eigentlich herumtragen sollte. Dieselben Augen sind eS noch; und dennoch hast Du auf der anderen Seite so etwas ResprcteinflößendcS an Dir, Du bist braun geworden, hast vieler fremder Herren Länder gesehen, da wirst Du erzähle» können." „Und dann habe ich Dir Verschiedenes mitgebracht, was Dich erfreuen wird", sagte Erich, „laß nur erst meine großen Koffer da sein." „Nun aber komm herein", lachte Evchen, „denn auch die Uebrigen warten schon lange aus Dich und auch Deiner harrt manche Ueberraschung. Du mußt nämlich wissen, aber sage eS noch nicht gleich laut, sonst schäme ich mich furchtbar, ich biu seit voriger Woche Braut!" Noch che der junge Mann seiner Ueberraschung Ausdruck verleiben konnte, batte sich die Wohnstubentkür geöffnet und in ihrem offenen Rabmcn erschien Lebrcchl Winkler. Großvater und Enkel standen sich im nächsten Augenblick Auge in Auge gegenüber und schauten sich eine kurze Weile, aber mit festen, ernsten Blicken an. Dann streckte Winkler seine Hand au«: „Willkommen in der Heimath, Erich!" sagte er, und tiefe Bewegung Nang dabei aus seiner Stimme. „Dank für den frommen Gruß, Großvater", sagte der junge Mann darauf, indem er die Hand de« Alten ergriff. „WaS an mir liegt» mich rinzugcwöhnen, eS soll geschehen!" „Komm mit zur Großmutter", versetzte Winkler. Roch einmal faßte er de« Enkels Hand und schüttelte diese kräftig, als ob er im Druck mehr zu sagen gedächte, als weitläufige Worte die- zu thun vermochten. Im nächsten Augenblick kniete Erich vor der vor Freude und Erregung zitternden Großmutter, die im Lehnstuhl saß. Er hatte seinen Blick nur aus die Matrone gerichtet unv so waren ihm dir beiden Herren entgangen, die sich bei seinem Eintritt diScret in den Hintergrund zurückgezogen batten. „Gott segne Deinen AuSgang und Eingang, lieber Erich", sagt« die alte Frau, während sie mit zitternden Händen den Kopf de» vor ihr Knienden emporhob und thräneuden Blickes ikm in die Augen schaute. Gott sei Lob, daß ich die- noch erleben konnte. Schau m«in Kind, ich habe so gebangt um Dich, und in all' Len langen Jahren verging keine Stunde, wo ich nicht an Dich dachte und zu Gott betete, daß er Dich an Leib und Seele segnen «möge. Und nun bist Du wieder birr, ein schöner und stattlicher Mann. Sieh', dir Freude überwältigt mich. Willkommen in der Heimath, lieber Erich!" Sie b«»gte ßch zu ihw nieder» und wahrend di« Thränen von Neuem den Blick verdunkelten, küßte sic ihn auf Stirn, Auge» und Lippen. „Herzinnigen Dank, Großmütterlein, jetzt weiß ich, daß ich wieder daheim bin", versetzte der junge Mann weich, während er einen warm cinpsundencn Kuß auf die welken Hände der alten Frau preßte. „Und hier erneuerst Du alte Bekanntschaften, die hoffent lich jetzt in Dir angenrbmerc Empsindungcn erwecken werden, wie srüker", sagte der Großvater, der schweigend dabei- gestandcn Halle. Er faßte Erich gleich beim Arme und zog ihn nach der Mitte des Zimmers, wo Baron von Thumar mit seinem Sohne stand. „Wir sind alte Bekannte, ganz recht, alte Bekannte", sagte der Baron, der ein verlegenes Lächeln nicht zu unterdrücken vcrinocktte. Er streckte dem jungen Manne, dessen Gefickt plötzlich ganz fahl und tiefernst geworden war, die Hand kin. „Herr Baron von Tbumar, wenn ich nicht irre", versetzte Erich in kühlem Tone, sich weltmännisch verneigend, wäkrciiv zugleich eine Blutwellc ihm bis unter die Schläfen ins Gefickt schoß. Die alte Abneigung, die er als Knabe vor dem vor ihm Stehenden empfunden hatte, überkam ihn wieder und eS offenbarte sich vor seine,» geistigen Blicke jener fürchterliche Austritt im Walde, dessen unfreiwilliger Zeuge er geworden war. Wieder hörte er den Knall der Feuerwaffe, wieder sah er Thumar vor dem von ihm Niebcrgcschoffen knien, die Kleidung desselben durchstöbernd. Eine peinliche Pause erfolgte im Gespräch. Thumar ließ endlich die vergeblich bargebotene Hand sinken unk hüstelte leicht „Also immer noch unversöhnlich?" versetzte er. „Uebcrtragcn Sie, lieber, junger Freund, Ihre Feindschaft nickt auck aus meinen Sohn, der doch Ihr zu künftiger Schwager sein wird!" Ei» leises Zucken ging durch Erich'-Gestalt; eS schauerte ihn eine Sekunde hindurch, während er den sich vor ihm gemessen verneigenden (urigen Baron ansab. Dann wendete er den fragenden Blick an Eva, aber die biog ihm schon lachend am Hals«. „Wirst mir doch nicht den ersten Augenblick de« Wieder sehen« verderben", bat sie. „da komm her, gieb meinem Ver lobten eine Hand, ihr sollt die besten Freunde werden, da» will und befehle ich!" (Fortsetzung folgt.)
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite