Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 09.03.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-03-09
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18950309025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895030902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895030902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Bemerkung
- Images teilweise schlecht lesbar
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-03
- Tag1895-03-09
- Monat1895-03
- Jahr1895
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
BezugS-Prei- I» der Hauptexpedition oder den im Stadt bezirk und den Bororten errichteten Au», nabestrllea abgeholt: vierteljährlich »n zweimaliger täglicher Zustellung in« Lau- 5.50. Durch di« Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteliäbrlich >1 8.—. Direct» tägliche Kreuzbandiendung in» Ausland: monatlich 7.50 Die Morgen-Ausgabe erscheint täglich V«?Uhr, dt» >»»ud-Au-gabe Wochentag» 5 Uh:. Le-artton und ErpeLitio«: I«daane»,afie 8. DielkrpeditioN ff »eölfnet »o Abend-Ausgabe. Filialen: vtt« Me««'» Sartim. (Alsre» HahnX Universitätöstravr 1, Laut» Lösche, Katharinenstr. 14, pari, und König-Platz 7. WMrIagMatt Anzeiger. Organ für Politik, Localgeschichte, Handels- nnd Geschäftsverkehr. Nnzeig-rr-PreiS die N gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reklamen unter dem Redactionsstrich l4ga» spalten) üO^. vor den Familiennachricht«, »K gespalten) 40 Größere Lchiisten laut unserem Prei». tzerzeichnitz. Tabellarischer und ZN'ernsatz nach höherem Takts. Extra-Beilage» (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbrsörderun» 60.—, mlt Posibesvrdciung 70.—» Aunahmelchlub für Anzeigen: »bend.Ausgabe: vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Sonn- und Festtags früh '/,9 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen ;r ein« halbe Stunde früher. Anreise» sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig ^126. Sonnabend den 9. März 1895. 89. Jahrgang. Politische Lagesschau. * Leipzig, 9. März. Zn der gestrigen Sitzung der Bud getcommission ist der Rücktritt des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, Frei herr« von Lchcle, zur Sprache gekommen. Ter Direktor des EolonialamtS. Geh. Nath Kayser, hat hei dieser Gelegen heit eine wichtige Erklärung abgegeben, der auch von Seiten der Regierung sichtlich große Bedeutung beigelegt wird, da die halbamtliche „Berl. Corr." sie verbreitet. Aus der Erklärung geht hervor, daß Herr von Schele in der Thal unerfüllbare Forde rungen gestellt hat: er lehnte es ab, von der Colonial-Abthei- kung Weisungen anzunehmen, verlangte aber andererseits, daß ihm die freie Verfügung über die Etatsmittel gewährt würde. Die Unhaltbarkcit eines derartigen ZustandeS hat Geh. Nath Kayser, der im klebrigen den militairischen Verdiensten des Obersten von Schele volle Gerechtigkeit widerfahren ließ, wie uns scheint überzeugend »achgewiesen. Von unserem HK-Correspondentcn wird uns über den Verlauf der Sitzung ausführlich das Nachstehende berichtet: 88 Berlin, 8 März. In der Bndgetcommission wurde heute die Beralyung des Colvnialetats fortgesetzt. Der Referent Prinz Arenberg beantragte znnächsl folgende Resolution: „Der Reichstag wolle beschließen, 1) die verbündeten Regie rungen zu ersuche,>, unter Aushebung des Gesetzes vom 22. März 1891 eine anderweitige Organisation der Schutz- truppc in der Richtung herbeiznführen, daß die europäischen Officiere und Unterofficiere zur Colonialabtheilung des Aus wärtigen Amtes coiiimaiidirt werden; 2) auszusprechen, daß eine Bewilligung für die Schutztruppe in Kamerun und Südweslafrika nur unter der Bedingung eintreten kann, daß deren Organi sation nach den unter Nr. 1 angeführten Grundsätzen stattsindct." In längerer Ausführung reserirt Geh. Rath Kayser über die Verhältnisse in den afrikanischen Colonien. Die preußischen Reglements seien im Allgemeinen bei der Schutztruppe nicht ein geführt, wenn auch eine gewisse stramme Haltung bei derselben Geltung habe. An de» Küsten seien Schwarze eingestellt und Seren berechtigten Cigeiithüintichkeitcn sei Rechnung zu tragen, namentlich in Bezug auf das Gerichtswesen. Die bisherige Organisation habe sich, namentlich in mititairischer Beziehung, bewährt, man möge sic daher bestehen lassen. Abgeordneter von Podbielski (conservativ) befürwortet die Resolution des Prinzen Arenberg, während Graf Arnim (Reichspartei) noch nähere Auskunft über die gegenwärtigen Verhältnisse wünscht, da die Darlegungen der Denkschrift nicht genügen. Redner wünscht ein bestimmtes wirthschaftiiches Programm für unsere ColonialpoUtik. An die Spitze müsse ein Mann gestellt werden, der über große wirthschafttiche Kenntnisse vertilge; der könnte auch, analog den englischen Verhältnissen, die Schutz truppe commandiren und „mit dem Hut" die Parade abnehme». Wir müßten sparsamer sein und nicht Alles dem Militarismus opfern. Der Vertreter des Reichs-Marineamts, Graf Baudtssin, theilt mit, die Organisation sei unter Mitwirkung von Director Kayser erfolgt und die ausgearbeitete Vortage dem Major v. W,ss- mann zur Begutachtung vorgelcgt worden, und dieser habe keine Einwendungen erhoben. Das Marineamt habe sich grundsätzlich jeder Einmischung in Bezug auf die Truppen enthalten, hier habe das Aus wärtige Amt zu befinden. Was dieRang- undAltersvcrhältnisse betreffe, so sei man geneigt, ans Anregung von Oslasrika unsere einheimische» einzuführen. Die ostafrikanische Truppe sei nur ein Theil, der nicht selbstständig reagiren könne. Jeder Officier, der nach Afrika gehe, müsse das orientalische Seminar besucht und einen Ber- meffungseursus durchgemacht haben. Was die Resolution anlange, so sei es wohl kaum, möglich, an Stelle der Truppe eine Potizci- truppe zu setzen, wenn auch die Polizei jetzt nicht ausreiche und bald militairisch organisirt werden müsse. Die indischen Ve» hältnisse könnten für uns nicht maßgebend sein, denn dort seien die Weißen an Zahl überlegen. Prinz Arenberg will für dieses Jahr für die ostafrikanische Schutztruppe nichts fort gestrichen haben. Im Ucbrigen befürwortet er nochmals seine Re solution. Auch habe er nichts dagegen einzuwenden, daß der Gou verneur in Ostafrika eine mititairijche Person sei, aber er müsse auch für clvite Verhältnisse Verständnis; besitzen. Abg. l)r. Ha in mach er lnl.) theilt durchaus die Ansicht des Referenten, der Reichstag müsse vor Allein eine genaue Controte über die Ausgaben haben, für die jetzt Niemand eine Verantwortung tragen wolle. Es frage sich daher, wo liegt das liebet und wie ist ihm beizukommen? Dies« Klärung solle die Resolution bringen. Der bisherige Gouverneur v. Schele schien den kulturellen Aufgaben nicht gewachsen zu sein, sein Standpunct zeuge nicht gerade von Wohlwollen in Bezug aus die Entwickelung der kvirthschaftlichen Verhältnisse. Staatssecrrtair v. Marsch all verwahrt das Reichsmarineamt gegen den Vorwurf der unberechtigten Etatsiiberschreitung, die Mehrausgaben seien vom Reichskanzler, als der zuständigen Instanz, genehmigt worden. Abg. Richter hat gegen die Fassung der Resolution Bedenken. Die militairischen Zwecke kämen erst an zweiter Stelle, vor allen Dingen seien die wirthschastlichen Interessen hoch zu halten, und wenn diese nicht genügend gewahrt würden, sei eben die militairische Organisation untauglich. Wer habe denn eigentlich die große Expedition, die Millionen koste, veranlaßt? Darauf sei noch keine Antwort ertheilt worden, es sei aber sehr wesentlich, das zu erfahren. Abg. v. Massow (deutsche.) wünscht, daß Herr v. Schele als Commissar der Regierung in die Com mission delegirt werde. Geh. Rath Kayser giebt darauf folgende Erklärung ab: „Ursprünglich hat das Schwergewicht in der localen Verwaltung gelegen, da die Interessen dort noch in ihren ersten Anfängen waren und die Centralstelle selbst keine Jnsormattonen haben konnte. Allmählich hat sich das geändert; die deutschen Unter nehmungen mit ihrem Schwerpunkt in der Heimath sind gewachsen, der Colonialabtheilung siehe» für alle Gebiete Sachverständige in reichstem Maße zur Verfügung. Selbstverständlich ist es, daß die Angelegenheiten der Schutzgebiete der Colonialabtheilung und dem Reichskanzler unterstellt sind. Nur in Ostafrika hat das Gouvernement dies bestritten und Freiherr von Schele den Anspruch erhoben, unmittelbar dem Rei chskanzler unterstellt zu sein. So hat er noch in letzter Stunde gewünscht, daß ihm ohne Controle der Colonial-Abthcilung die freie Verfügung über die Etatsmittel mit directer Anweisung an die Legationscasse gewährt werde; das Reichs-Schatzamt hat dieses Ersuchen ver fassungsmäßig, finanziell und wirthschaftlich für u n in ü g l i ch erklärt. Die Allerhöchste Ordre vom 12. December 1894, welche die Unter stellung der Schutzgebiete unter die Colonial-Abthcilung verfügt, ist eigentlich selbstverständlich gewesen; sie hat aber Herrn v. Schele eine goldne Brücke bauen wollen, weil es keinem Menschen zur Unehre gereicht, sich einer Allerhöchsten Ordre zu fügen. Der bis herige Gouverneur hat es aber abgetehnt, Weisungen der Cotonial-Abtheilung zu erhalten. Der Zustand ist unhaltbar: auf der einen Seite ein unabhängiger Gouverneur, der lediglich nach seinem Ermessen handelt, auf der anderen Seite die Colvnial-Abtheilung, welche alljährlich von dem BundeSrath und Reichs tag die erforderlichen Mittel erbitten muß, der öffentlichen Meinung, den Interessenten und dem Reichstag gegenüber die Verantwortung tragen, aus die ostafrikanischen Verhältnisse aber ohne Einfluß sein soll. Ungeachtet der großen militairischen Verdienste deS Freiherrn von Schele, der bei Beginn seines Amtes die Zustände wenig tröst lich vorgefundcn und bei seinem Weggang Dank seinen mühevollen und glücklichen Expeditionen das deutsche Ansehen überall wieder- hergestellt hat, hat der Herr Reichskanzler das Abschiedsgesuch des Oberste» von Schele nur befürworten können. Uebcr die wirthschafttiche Entwicklung ist die Auffassung zwischen diesem und der Colonialabtheilung ebenfalls entschieden gewesen; das wirthschastliche Programm für den Gouverneur von Ostäsrika ist in wenige Worte zusammengefaßt. Da nicht das Reich, sondern das heimische Capital große Unternehmungen in Lstafrika betreibt, so besteht das ganze Programm darin, diese Unternehmungen nach allen Kräften und mit allen Mitteln zu fördern. Für das kleine Capital ist noch nicht die Zeit gekommen; Plantagen können mit kleinen Mitteln nicht betrieben werden; wo aber Land vorhanden ist zur Besiedelung mit Bauern, bedarf es noch sehr eingehender Vorstudien über die meteorologischen, klimatischen und Bodenvcr hältnisse und der Herstellung besserer Berkehrsverbindung. Vor. läufig muß das Großkapital die Wege ebnen. Uebrigens ist die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft verpflichtet, Land gegen mäßige Bedingungen Jedermann zu verkaufen, und im Streitfall entscheidet der kaiserliche Oberrichter über den Preis, so daß von einer Mono polisirung des Großcapilals — zu der sich keine deutsche Regierung hergeben würde — keine Rede ist." — Darauf zieht Prinz Aren ,'erg de» zweiten Theil seiner Resolution zurück. — Wegen Beginns der Plenarsitzung wird die weitere Debatte und die Abstimmung über die Resolution aus morgen vertagt. Zu den Blättern, die schon oft durch unzeitgemäße Offen herzigkeit die Kreise des Centrums gestört und dadurch der ultramontancn Presse schweren Aerger bereitet haben, gehört die vatikanische „Voce della Veritfl". Dieses Blatt hat auch letzt wieder den Zorst der „Germania" erregt, da es nach einer Uebersehnng deS „Berl. Tagrbl." Folgendes schreibt: „Die vatikanische „Voce della Berits" setzt der deutschen Reichsregierung in einem eingehenden Leitartikel die großen Vorthrile auseinander, welche aus der Aushebung des Jesuitengesetzes durch den Bundesrath für Deutschland resultiren würden. Wenn die Regierung den guten und weisen Impulsen des Centrums folge, so werde sie mit Leichtigkeit rin praktisches und wirksames Umsturzgesetz erzielen, ja sie werde auch das Zedlitz'jche Schulgesetz wieder aufs Tapet bringen können. Ein neues mächtiges Princip werde alsdann die gesammie innere Politik durchdringen, ein Princip, das die Conservaliven und Katholiken zu brüderlicher Arbeit vereinigen werde. Nicht nur würden dann auch dir Forderungen der Regierung für Heer und Marine gern be willigt werde», sondern auch für die Landwirthschast würden schützende Maßnahmen getroffen werde». Kurz und gut, die Sache der Jesuiten schließe so viele große Principien in sich, daß die Reichs- regierung eine hohes Interesse daran habe, hieraus Capital zu schlagen. Außerdem werde sic ein gutes Werk vollbringen." Hierauf erwidert die „Germania" gereizt: „Nicht zum ersten Mal kreuzt und erschwert die „Voce della Berits", die übrigens nicht „vattcanisch" (!) ist, die Politik des deutschen Centrums. Früher Erfahrenes läßt bedauerlicher Weise die heutige Mittheilung des Tageblattes nicht von vornherein als unwahr scheinlich behandeln. Ob aber die „Voce" wirklich schreibt, was das „Berliner Tageblatt" sie sagen läßt, oder ob dessen Inhalts angabe ganz oder theilweise freie Erfindung ist. so soll nicht einen Augenblick gezögert werden, wozu wir von zuständiger Stelle ausgefordert sind, auch jetzt wieder aufs Klarste und Bestimmteste zu erklären, das; die Fraktion des Centrums im deutschen Reichstag der in den: angeblichen „Leitartikel" vertretenen Politik vollkommen sernsteht, sie verwirft und sich verbitten muß,daß nngeschtckte(I) auswärtige „Gönner" ihre grundsätzlich« Haltung durch die Erregung des Scheins von Handrlschasten, die dem deutschen Geiste widerstreben, bei Freund und Feind im Vaterland verdächtigen und vollkommen entwcrthen." Das Zugeständniß, daß Handelschasten dem deutschen Geiste widerstreben, ist besonders erfreulich, wenn es in einem Blatte wie die „Germania" ausgesprochen wird, die im November 1892, als Graf Ballestrem den Zesuitenantrag einbrachte, nach Jesuitenlogik schrieb: „Auch die größte Geduld wird doch endlich einmal erschöpft Wir können manche Repressalien ergreifen, wenn wir in geeig neten Fällen unsere parlamentarische Macht eine Zeit lang vorzugsweise als Zwangsmittel gebrauchen, fall? man uns nicht endlich freiwillig (!) gerecht wird. Ein politischer Handelsartikel ist die Aufhebung des Jesuitengesetzes nicht. (!) Wir haben ein Rech darauf, und Rechte kauft man nicht, sondern man straft, wenn sie verweigert werden!" Und dieselbe „Germania" wirft der „Voce della Verits" die Erregung des „Scheins" von Handelschasten vor „Ungeschickt" freilich verfuhr das vaticanische Organ, als es feinen Leitartikel schrieb; daß es aber nur einen falschen Schein erregte, wird außerhalb des Centrums wohl kein Einziger glauben. Die Volksabstimmung, welche letzter Tage im Schweizer Canton Tessin über die Revision des 1886 erlassenen Kirchengesetzes stattfand, hat, wie schon kurz gemeldet, mit einem entschiedenen Siege der ullramontanen Partei, mit einer Niederlage der Liberalen geendet. Das Jnitiativ- begehren war seitens des radikalen Flügels gestellt und wurde nach langer, leidenschaftlicher Agitation mit 13 400 gegen 11500 Stimmen verworfen. TaS Kirchengesetz, um welches sich der Kampf drehte, stammt aus der Zeit kleri- alen Uebennuthes, als mit allen Mitteln versucht wurde, den Canton Tessin zu einer Hochburg der Reaktion zu machen, Mittel, welche schließlich zu der bekannten Revolution von 1891 führten. Es ist ein wahres Monstrum von einem Gesetz, nnd darum sollen sich auch die gemäßigteren Führer- unter den Ultramontauen für seine Beseitigung ausgesprochen »aben. DaS Ganze verfolgt den Zweck, die Rechte des Staates gegenüber der Kirche unv dem KleruS zu vermindern oder ganz zu beseitigen» ohne dem Staate doch die Cultus- asten abzuncbmen So bestimmt das Kirchengesetz, daß die Zerwaltung der Kirchengüter, welche bis dahin in den Händen der politischen Gemeinde» lag, diesen entzogen unv den neu gegründeten Pfarrgemeinden übertragen werden solle. Dafür ollten aber die Kosten für Pfarrer und Kirche bei den politische» Jemeinden verbleiben. Ferner wurde das Recht des Volkes, sich einen Pfarrer selbst wählen oder einen mißliebigen Geistlichen ab gerufen zn dürfen, aufgehoben. An Stelle des Volkes trat das Kapitel. Aber auch das Wahlrecht des Capitels war kein freies: ür den Fall, daß in einer Gemeinde eine Vacanz eintrat, wurde nämlich dem Bischof die Befugniß gegeben, von sich aus, ohne vorherige Befragung des Capitels, einen Stellvertreter zu ernennen. Natürlich wählte dann das Capitel diesen gischöflichen Vertrauensmann aus „freien" Stücken definitiv zum Pfarrer. Aber nicht genug damit, griff daS Kirchen gesetz auch in das gemeine Recht ein und schuf für die Geist- ichkeit eine Ausnahmestellung. So schließt im Tessin der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte nicht den Vertust des Pfarramtes in sich, der Bruch deS Beichtgeheimnisses bleibt trassrei und dergleichen. Man wird begreifen, daß solche Gesetzesbestimmungen nicht dazu beilragen konnten, den Friede» zwischen Ultrainontanen und Liberalen zn befestigen, und so trevten schon seit zwei Jahren die letzteren nach einer Revision derselben. Die im englische» Unterhaus«: eingebrachte SchiedS- gericktsbill wird in den dem praktischen Gewerbsleben nahestehenden Kreisen, sowohl der Arbeitgeber als der Arbeiter überwiegend abfällig beurtheilt. Man erkennt den guten Willen an, daS ist aber auch so ziemlich alles. In der Sache selbst gebt die Meinung der Leute vom Fach dabin, daß bei dem Einflüsse, den die socialdemvkratischen Trade-Unions in der englischen Arbeiterwelt gewonnen haben, jeder Ver such, Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern auf gütlichem Wege zu schlickten, von vornbcrein anS- sichtslos sein werde. Einigungsämter würden ihren Zweck nur erfüllen können, wenn ihre Berufung erstens obligatorisch gemacht und sie zweitens in den Stand gesetzt würden, die Durchführung der von ihnen erlassenen Entscheidungen im Weigerungsfälle zu erzwinge». Von beivcm aber könne keine Rede sein. Die in früheren Jahren gemackten Erfahrungen bilden übrigens ein kräftiges Gegengewicht gegen über triebene Illusionen. In massenhaften Gewerbcstreitigkeiten der Vergangenheit, welche einer schiedsgerichtlichen Behandlung zugcführt wurden, geschah cs, das; wohl die Arbeitgeber sich der getroffenen Entscheidung fügten, die Arbeiter aber nur, wenn sie in allen Puncten Recht erhielten. Geschah dies nicht, so wurde die Entscheidung einfach ignorirt und Mühe und Arbeit der Schiedsgerichte war weg- geworsen. In einigen Fällen, insbesondere, als Lord Skand zum Obmann deS Schiedsgerichts in dem AuSstand der Bergleute fungirte, gingen die Streikenden und ihre Führer so weit, daß sie den Obmann und das Schieds gericht verböbnlen und insuttirten, noch ehe cs überhaupt seine Tbätigkeit begonnen hatte. Da bedarf es freilich keines Beweises, wie aussichtslos bei einem derartigen Ver- hetzungSzustand der Arbeiter jeder Versuch sein muß, den Fettilleton. Ei» Lecher Lethe. 21j Roman von R. Teilet. Nachdruck verboten. (Fortsetzung.) DaS Haar der Frau war sehr phantastisch gekräuselt und mit rothen Bändern geschmückt. Der Mund war groß, das Kinn sehr stark; aus der Oberlippe bemerkte ich einen leichten Schnurrbart. Ich glaube, ich babe nie wieder ein so kläglich weibliches Gesicht gesehen. „Kläglich", weil das Gesicht ein mißlungenes Frauenantlitz war. Ein weibliches Gesicht soll nur Liebe und Zärtlichkeit ausdrücken, dies aber war so widerwärtig bäßlich, daß es von vorn herein die Möglichkeit, seine Besitzerin könne je Liebe ein- slößen, ausschloß, und vielleicht halte eben dies Bewußtsein die traurige Veränderung in ihr, die früher eine edle Natur gewesen sein mochte, bewirkt. Diese Betracktungen zogen mit Blitzesschnelle durch meinen Geist, während ich ibr Gesicht anschaute. Dann wandte ich mich wieder dem kleinen Mädchen zu und wiederholte ihr mein Gesuch. Sie antwortete schüchtern: „Ich habe Angst, zu ihr zu gehen, mein Herr." Ich warf einen Blick nach oben. Das Gesicht war nicht mehr da. „Ist daö Wohnzimmer oben?" fragte ich. „Ja, mein Herr." „Rechts oder links ?" „Rechts, mein Herr." „Ist Ihre Herrin dort?" „Ich glaube eS, mein Herr." „Gut, dann will ich mich unangemeldet zu ihr begeben." Ehe sie noch gegen mein Vorhaben protestiren konnte, batte ich sckon die halbe Treppe erstiegen. Ich klopfte an die Thür rechts. Eine Frauenstimme hieß mich eintreten. Ich leistete der Aufforderung Folge. Ich trat in ein kleines, einfach möblirteS Zimmer, an dessen einzigem Fenster der Vorhang herabgelassen war. Aus einen, Stuhl am Tische saß dieselbe Frau, die ich oben auf der Treppe gesehen hatte. Und doch, obgleich sie unmöglich zu verkennen war, sah sie jetzt ganz anders als vorher auS. Ibr Gesicht trilg einen vollständig anderen Ausdruck, es zeigte jetzt weder Neugierde noch Wuth, sondern war ruhig und gefaßt. Sie hatte eine Stickerei in der Hand, an der sie arbeitete, oder zn arbeiten schien, als ich eilitrat. Ich glaubte, klar zu blicken. Diese Frau war wahrschein lich irrsinnig — in jedem Falle aber excentrisch und leicht erregbar. Aber sie besaß auch die Schlauheit des Wahnsinns und verstand, sobald sie sich beobachtet wußte, Komödie zu spielen. Da sie eine Frau war, so hatte selbst der Wahnsinn ihr nicht den mächtigsten weiblichen Instinkt zu rauben ver mocht, deS Wunsches, sich einem Fremden im besten Lichte zu zeigen. Sie stand bei meinem Eintritte auf von ihrem Platze und verbeugte sich in einer Weise, die mich schließen ließ, daß sie sich in guter Gesellschaft bewegt haben mußte. Als sie vor mir stand, erstaunte ich über die an dieser Frau entwickelten Muskeln. Sie mußte eine enorme Kraft besitzen, dafür sprachen auch die, wenn auch gutgeformten und weißen, doch riesigen Hände. „Habe ich die Ehre, Mrs. Darvill vor mir zu sehen?" fragte ich. Als Antwort verbeugte sie sich abermals. „Ich bitte Sie meines Besuchs wegen um Verzeihung", fuhr ich fort und sckwieg dann bestürzt, nnd zwar aus dem Grunde, weil ich selber nicht wußte, was ich sagen sollte. „Was stellt ihnen zu Diensten?" „Ich hoffe von Ihnen eine Aufklärung in einer mich sehr interessirenden Sache zu erhalten, daher wagte ich es, Sie aufzusucken." Sie sah mich verwundert an. „Was kann das sein?" fragte sie. „Mr. Darvill ist. wenn ich nicht irre» todt?" In einem Moment veränderte sich ihr ganzes Wesen. „Wer hat Ihnen das gesagt?" fragte sie mit blitzenden Augen. „Bitte verzeihen Sie, daß ich diesen Punct berührt habe." Ich erkannte zu spät, wie unvorsicktig ich zu Werke ge- gangen war. Ihr Gesicht arbeitete ausfallend — eS schien mir, als tonne in jeder Secunde eine Explosion stattfinden. Ich wollte sic gern abwende», aber da ich die ganzen Ver- kältnissr nicht kannte, war ich wieder in der Wahl meiner Bemerkung unglücklich. „Bitte, verzeihen Sie", sagte ich, „daß ich unabsichtlich einen schmerzlichen Punct berührt habe." Sie sprang auf; ihre Bnist keuchte. Sie ballte ihre Fäuste, sie starrte mich an wie eine Tigerin. „Sie wollen mich Wohl verspotten?" schrie sie. „Sie kommen von ihm, dem Schurken, dem Meineidigen — dem Mörder. Gehen Sic zu ihm zurück, sagen Sie ihm, daß ich früher oder später Racke an ikm nehmen werde — Rache, Rache. — Sagen Sie ihm daS!" Auch ich hatte mich erhoben und überlebte schweigend, was ich thun sollte. Meine Anwesenheit schien sie immer mehr zu erregen. Sie näherte sich mir. „Machen Sie, daß Sie hinauskommen, Sie niedriger, verächtlicher Spion! Gehen Sie zu Ihrem Herrn zurück und sagen Sie ihm, er möchte eö wagen, selber hierher zu kommen. O, ick würde mit ibm fertig werden." In dieser Weise tobte sie eine ganze Weile fort und über schüttete mich mit einer Flmh von Schmähungen, ohne mir Gelegenheit zu geben, ein Wort daraus zu erwidern. Ick stand schweigend da und wartete darauf, daß der Sturm sich auStobte. Dabei wandte ich kein Auge von der Tobenden, denn ich verhehlte mir nickt, daß das Zusammensein mit ihr ein gefäbrlickeS werden könnte. Ob es mein — freilich unfreiwilliges — Schweigen war, daS ihre Leidenschaftlichkeit mehr und mehr erregte, weiß ich nicht, aber plötzlich kam ein neuer Wuthanfall über sie und sie stürzte aus mich zu. Im selben Moment steckte sie ibre rechte Hand in die Tasche und zog etwas Blitzendes aus ihr hervor. Mit Blitzesschnelle ergriff ich ibr Handgelenk und hielt eS mit all' meiner Kraft fest. Dabei gaben ibre Finger DaS, was sie verborgen hielten, frei und ein offenes Messer mit blanker scharfer Klinge fiel zur Erde. „Frau", sagte ich, „wollen Sie mich tödten?" „Ja. Sie und den Elenden, der Sie beschickt bat." „Mich bat keiner geschickt", antwortete ich. „Sie verkennen mich vollständig. Seien Sie ruhig und vernünftig. Ich meine eS gut mit Ihnen." Sie sah mich starr an. Dann kam ein Stimmungswechsel, wie er bei Seclenkranken oft vorkommt, über sie, und sie brach in Thränen auS. „Mit mir meint eS Niemand gut", schluchzte sie, „keiner Jeder Mensch ist niein Feind. Jeder haßt mich." „Ich hasse Sie nicht", sagte ich sanft. Damit führte ich sie zu ihrem Platz zurück. Sie setzte sich, stützte die Arme auf den Tisch und barg, bitterlich weinend, ihr Gesicht in beide Hände. „MrS. Darvill", sagte ich, „ich gebe Ihnen mein Ehren wort, daß mich Niemand geschickt bat. Ich kenne Ihre Ge schickte nicht, aber nach Ähren eigenen Aeußerunqen ru schließen, muß sie sehr traurig gewesen sein. Wollen Sie sie mir nickt erzählen?" Sie sah mich mit ihren in Thränen schwimmenden Augen an, mit einem Blicke, wie wenn ein stummes Thier um Mit leid fleht. „Ich glaubte, Sie seien nur gekommen, um mich zu höhnen", sagte sie endlich; „die Menschen sind so hart." „Ich glaube nicht, daß ich zu Jemanden hart sein kann", erwiderte ich, „und am allerwenigsten zu einer Frau." Meine Slinime, meine Worte schienen sie zu beruhigen. Ich behandelte sie wie ein Kind, mir ein wenig respektvoller. Sie trocknete ihre Tbränen und sagte: „Jetzt kann ick Sie sehen. Als Sie ins Zimmer traten, waren <sie ganz in Nebel gehüllt, so daß ich Ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Jetzt erst sehe ich, daß Sie gut und freundlich sind, wenigstens sehen Sie so aus. Aber warum sprechen Sie von dem schrecklichen Mann?" „Ick wollte gern etwas von ihm hören", erwiderte ich, „ich weiß sehr wenig über ihn." „Was gebt er Sie an?" fragte sie. „Wer sind Sie? Ich weiß nicht einmal Ihren Namen." „Mein Name ist Lindley", sagte ich. Sie schien nachzudenken. Dann sagte sie: „Ein mir gänzlich unbekannter Name." „Das glaube ich. Aber der Name tbut nichts zur Sache. Lassen Sie mich Ihnen meine Angelegenheit, soweit ich cs vermag, erklären. Setzen wir den Fall, Sie hätten eine Tbat begangen, um derentwillen Sie gefangen genommen werden könnten; setzen wir den Fall, ich wüßte um Ihre Tbat, aber anstatt Sie verhaften zu lasten, sei ich zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen über die Sacke zn sprechen. Würden Sie mich in diesem Falle als Ihren Feind oder Freund betrachten?" Wieder sah sie mich mit einem halb ungläubigen, halb flehenden Blicke an. Mir war cs, als könnte ich bis auf den Grund ihrer vordringenden Augen blicken und den Kampf ihres armen Innern deutlich erkennen. „Ich würde Sie für meinen Freund halten", antwortete sie endlich. Ich bückte mich zur Erde und nahm das Messer, das vor meinen Füßen lag, auf. Schon auS der Ferne hatte ich bei aufmerksamem Hinblicken etwas an ibm zu entdecken geglaubt daS mir in meinem augenblicklichen Unternehmen dienlich sein konnte. Jetzt betrachtete ich es aufs Neue und erkannte, daß ich mich nicht geirrt hatte.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite