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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 15.05.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-05-15
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18950515027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895051502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895051502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-05
- Tag1895-05-15
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Die trüben Erfahrungen, welche dir Wähler deS jetzigen Reichstags machen, in dem das Ventrum bald mit den reaktionären Elementen der äußersten Rechten, bald mit der demokratischen Linken den Ausschlag giebt und entweder wünschenswerthe Reformen verhindert oder dem bildungsfeind- lichen UltramontaniSmuS erhöhten Einfluß sichert, haben in weiten Kreisen die Ueberzeugung befestigt, daß wir nicht eher wieder zu einer gedeihlichen Fortentwickelung unserer Reichs- aesrtzgebung gelangen, al- bis in den Reichstag wieder eine Mehrheit aus gemäßigt conservativen und liberalen Elementen einzieht, der wir in den ersten fruchtbaren Jahren nach der Wiederaufrichtung des Reiches die großen grundlegenden Gesetze verdanken, von denen wir noch jetzt zehren. Vor läufig muß man ja mit dem jetzigen Reichstage auSzu- kommen suchen; immerhin wäre es die Pflicht Aller, denen jenes Ziel klar vor Augen steht, den Weg, der zu demselben führt, schon jetzt zu ebnen und Alles zu vermeiden, waS dem Centrum und seinen Helfershelfern bei Wahlen Wasser auf die Mühle treibt. Nichts ist aber mehr geeignet, die Wählermassen des CentrumS, der Demokratie und der Social demokraten fester an die Männer ihres Vertrauens zu knüpfen und dadurch der Wahl eines neuen Reichstags vorzuarbeiten, in dem daS Centrum mit der radicalen Rechten und der radikalen Linken dominirt, als das Rütteln an dem be stehenden Reichstagswahlrechte. Nichts liefert der ultramontanen, der demokratischen und der socialdemokratischrn Presse so willkommenen Agitationsstoff, als die auf einzelne Auslassungen liberaler oder conservaliver Blätter gegründete Behauptung, dieselben Parteien, die für ein Gesetz zur Be kämpfung revolutionärer Umsturzbestrebungen eingetrelen sind, planten den Umsturz des bestehenden Wahlrechts oder wohl gar der ganzen Reichsverfassung. Ein gefährliches Spiel mit dem Feuer treibt daher die „Schles. Ztg.". Sie ist mit dem bestehenden Reichstagswahlrecht nicht zufrieden, eine Arnde- rung sei absolut unabweisbar, könne aber voraussichtlich nur auf einem anderen als dem verfassungsmäßigen Wege ge schehen. Und wie soll der gordische Knoten zerhauen werden? Die Einzelstaaten, so ungefähr schildert die „Schles. Ztg." die Entwickelung der Sache, müßten das Reich und damit auch den Reichstag aufheben und gegen Proteste und Resolutionen des Reichstags antworten, daß er „zugleich mit dem Reiche ansgehört habe zu existiren, daß er, ver> strickt in Parteidebatten und Partelgezänk, gar nicht bemerkt habe, Laß ihm selbst der Lebenssaden abgeschnitten und er nur noch ein» häßliche Erinnerung sei an eine betrübende Phase der deutschen Geschichte. Hat aber das Reich nur auf eine Stunde aufgehört zu bestehen, so können sich die früheren Glieder desselben, die doch zu bestehen sortsahren, in der nächsten Stunde zu einem neuen Bunde vereinigen. Und daß in diesem neuen Bunde für daS gleiche all- gemeine und geheime Wahlrecht Platz sein würde, erscheint unwahr, fchrtnlich." DaS ist nicht nur die kühle Erörterung deS Verfassung-. brucheS und des ConflicteS, sondern auch die Negation des Reiches selbst. Es ist wahrlich eine Leichtherzigkeit sonder Gleichen, zu glauben, die Verträge von 1866 und 1870 aufzulösen und neue zu schließen, sei so ein Spiel im Handumdrehen. Auf diesem Wege wäre allerdings die Beseitigung deS Wahlrecht- zu erreichen, aber gleichzeitig ginge das Reich selbst in die Brüche. Man könnte ja über solche Extravaganzen kaltblütig zur Tagesordnung übergehen. Merkt man denn aber nicht, wie wenig e» zu sammenpaßt, scharfe Waffen gegen den Umsturz von unten zu verlangen und gleichzeitig den Umsturz oben zu predigen? Solche Pläne und ihre Erörterung untergraben die Achtung vor Gesetz und Recht, erschüttern daS Vertrauen auf da- Sckwerste und müssen dazu führen, daß Centrum, Demo kratie und Socialdemokratie nicht nur als Stützen der an geblich bedrohten Volksrechte, sondern auch als Schirmer der ganzen Reich-Verfassung und deS Reiche» selbst eine Agitation entfalten, die jede Aussicht auf einen den gemäßigt conserva tiven und liberalen Elementen günstigen Ausfall der nächsten RrichStagSwahlen vernichtet. Bei Gelegenheit des tnternattonalen Bergarbeiter-Eon- greficS, der im vorigen Jahre in Berlin tagte, ist die Socialdemokratie zu so unbequemen letzten Folgen ihrer internationalen Grundsätze gelangt, daß ohne eine herzhafte Verleugnung derselbe» an eine Fortsetzung solcher Berg- arbeiter-Congrefse nicht zu denken war. Die Verleugnung ist nun erfolgt, und gleichzeitig damit ergeht die Einladung rum sechsten „internationalen" Bergarbeiter-Congreß in Paris. Die internationale Firma ist, wie man sieht, äußerlich beibehalten, — mit welchem Rechte, mag auS dem Bericht des GcneralsrcretairS Pickard über die vom Aus schuß festgesetzte Geschäftsordnung des Pariser CongressrS entnommen werden. Der Bericht verweist auf die Erfahrungen des vorjährigen Berliner Congresses. Dort hatte jeder Deleairte so viel Stimmen in die Waagschale zu werfen, als organisirte Bergleute als Auftraggeber hinter ihm standen. Niemand wird bestreiten, daß dies die allein folgerichtige Anwendung deS internationalen Princips war. Bergleute sind, wenn man dieses Princip voll gelten läßt, Bergleute, ihre Jnteressensragen sind, wenn man zugleich das demokratische Princip in voller Reinheit wahren will, von der Mehr heit aller Bergleute zu entscheiden. Nun sind allerdings die Bergleute des JnselkonigreichS am besten organisirt und sind der Kopfzahl nach gegenüber allen organisirten Bergleuten deS europäischen Festlandes die Mehrheit. Sobald also die Delegirten von jenseits deS Wafserstreifens unter sich einig waren, konnten sie allein gegenüber den Genoffen vom Fest lande die Jnteressensragen der Bergleute mit Mehrheit ent scheiden. Und sie waren einig und entschieden Alles kraft ihrer eigenen Mehrheit. Das war den revolutionairen Füh rern vom Festlande inSgesammt ein fortwährende- Aergerniß, zumal da die Engländer immer noch die Eierschalen ihrer ehe mals praktischen Gewerkschaftsbewegung noch nicht ganz abstreifen möchten. Da nun einige „reine" Forderungen der socialiflischen Parteipotitiker deS Festlandes damals nicht durchdringen konnten, begann ein Murren über — „Majori, strunz" der übrigen Nationalitäten durch die Engländer. Jetzt mit einem Male waren Bergleute nicht mehr Bergleute, Bergmannsinteressen nicht mehr Bergmannsinteressen, sondern die „Weltbrüder" wurden scharf unterschieden als Engländer, Belgier, Franzosen, Deutsche, Oesterreicher rc., und wenn der Gegensatz unter den Deutschen noch leidlich überbrückt erschien, so war doch bei den Oesterreichern schon von Böhmen und Oesterreichern als gesonderten Interessengruppen die Rede; und demgemäß hatten sich auch die Interessen deS Bergmanns je nach dem Landeswappen in zwei- oder drei farbige regionale Interessen aufgelöst und als solche wider einander gruppirt. Der Ausschuß, der den Pariser Congreß vorbereitet, hatte denn ein Einsehen, er schaffte das Abstimmen nach der Kopfzahl der ver tretenen Bergleute ohne Unterschied der Nationalität wieder ab und läßt die anwesenden Delegirten nach i h r e r Kopfzahl als Mehrheit entscheiden. Damit ist natürlich die Situation gerade umgekehrt: die festländischen Delegirten sind auf jeden Fall in oer Gemeinschaft den englischen nach der Kopfzahl überlegen, und schon die Vereinigung einiger Gruppen, z. B. der Deutschen mit den Franzosen und Belgiern, dürfte stark genug sein, dem Congreß ihren Willen aufzuzwingen. Die drei Viertel Millionen britischer Bergleute, denen nur etwa eine halbe Million festländischer gegenübersteht, wird stets majorisirt sein. DaS nennt auch der „Vorwärts" eine rath- ame Maßregel. ES geht doch nichts über die Gleichheit und Brüderlichkeit, — wenn sie nämlich den Sociatiften in den Kram paßtl In Lesterreich-Ungarn gestalten sich die parteipolitischen und die parlamentarischen Verhältnisse immer trostloser. Wie schon gemeldet wurde, haben bei der Bürgermeisterwahl in Wien die Antisemiten über die Liberalen gesiegt. Der antisemitische Abgeordnete vr. Lueger ist zum ersten Vicebürgermeister gewählt und auch die Posten des zweiten Vice- bürgermeister« und deS Bürgermeisters werden sie erhalten,nach dem Matzenauer und vr. Gruebl unmittelbar nach der Wahl Lueger'S zurückgetreten sind. Die gestrige Bicebürgermeisterwahl nahm folgenden charakteristischen Verlauf. Zunächst wurde beim ersten Wahlgang der bisherige liberale Vicebürgermeister Richter mit 70 Stimmen wiederaewählt, Lueger erhielt 66. Von den Wilden stimmten 9 für Richter, 2 für Lueger. Trotzdem er klärte Richter, die Wahl nicht anzunehmen, da die liberale Majorität im Gemeinderathe nicht genügend gesichert sei. Der zweite Wahlgang verlief resultatlos. Lueger erhielt wieder 66 Stimmen, also nicht die Majorität, da 69 Stimmzettel leer abgegeben wurden und 2 auf Richter entfielen. Der dritte Wahlgang ergab dasselbe Resultat. Beim vierten Wablgang, der engeren Wahl, wurde schließlich Lueger mit 65 Stimmen zum ersten Vice bürgermeister gewählt, vr. Lueger nahm die Wahl an, in dem er erklärte, er wolle dem bisher politisch recht losen Theile der Bevölkerung Wiens zu seinem Rechte verhelfen. Er schloß mit den Worten: „Ich ver traue auf Gott den Herrn, welcher daS christliche Volk nicht verlassen wird." Die Antisemiten auf der Galerie nahmen diese Rede natürlich mit stürmischem Beifall auf, der sich unter der Menge fortsetzte, welche die Gänge und Treppen des Rathhauseö füllte, lieber die Stimmung, welche in der liberalen Bevölkerung Wiens herrscht, giebt uns folgender Drahtbericht Ausschluß: 8. Wien, 15- Mai. (Privattelegramm.) Große Auf regung herrscht in den bildungsfreundlichen Kreisen der Stadt darüber, daß die antisemitische Partei nunmehr von der Verwaltung der Reich-Hauptstadt Wien Besitz ergriffen hat, was ein Unieum unter allen europäischen Hauptstädten bildet. Die liberale Partei billigt emschiedea den Entschluß deS bisherigen Bürgermeisters vr. Gruebl und der Vicebürgermeister, auf ihre Ehrenstellen zu resigniren, den Gegnern das Feld zu räumen undkeinEompro- miß einzugehen. Nächste Woche findet Neuwahl statt. Zweifel loS wird vr. Lueger zum Bürgermeister gewählt werden. In antisemitischen Kreisen glaubt man an di« Auflösung des Gemeinderaths, dir Einsendung eines landeSsürstlichen Eom missair» und Ausschreibung von Neuwahlen. Es besteht allerdings auch unter den Liberalen die Hoffnung, daß die Regierung ein Machtwort sprechen, die Wahl von Antisemiten in die ersten Verwaltungsstellen der Reichshaupt stadt nicht sanctioniren und den Gemeinderath auflösen werde, ja gerade das wollten Richter, Gruebl und Matzenauer im Ein vernehmen mit der liberalen Parteileitung provociren, und eS ist möglich, daß die Regierung, welcher eS nicht gleichgillia sein kann, daß wüste, professionsmäßige antisenutische Hetzer die Sradt Wien im internationalen Verkehr repräsenUren, fürst liche Gäste empfangen und die communale Politik einer so einseitigen Parteirichtuna ausgeliefert wird, wie der Anti semitismus eS ist, den liberalen Wunsch erfüllt. Jedenfalls würde in Wien die Aera Lueger den Beginn beispielloser con- fesstoneller Bedrückung und Unterdrückung und den kom munalen Rückschritt auf allen Gebieten bedeuten, denn gerade gegen die fortschrittliche Tendenz, welcher daS liberale Regime ,n der Stadtverwaltung seit 35 Jahren gehuldigt hat, gegen die großen Errungenschaften dieser Periode deö Aufschwungs, gegen die Donauregulirung, die Wasserleitung, die Ver einigung Wiens mit den Vororten rc., richtete sich die antise mitische Agitation, welche auf die niedrigsten Leidenschaften der Menge speculirend, dem Kleinbürgerthum, dem Kleingewerbe- tand und nicht in letzter Linie der Arbeiterschaft plausibel u machen wußte, daß bei all' den großen Reformen nichts für diese Kreise herausgekommen sei, ja daß jene Errungenschaften in Verbindung mit dem Großgewerbebetrieb, der sich hauptsächlich in den Händen von Juden befindet, zwei Drittel Wien» an den Rand des wirthschastlichen Bankerottes gebracht hätten. Es konnte nicht fehlen, daß bei einer Jahrzehnte lang getriebenen derartigen Hetze alle unzufriedenen Elemente den Antisemiten sich anschlossen und es dahin brachten, daß gegenwärtig neben 62 Liberale», 64 „Antisemiten" und 12 Parteilose, d. h. zwischen beiden Parteien hin und her Schwankende im Wiener Gemeinderath sitzen. Aber es darf nicht verschwiegen werden, die Hauptschuld an dieser beklagenö- werthen Entwickelung tragen die Liberalen Wiens selber, denen es an Scharfblick und Energie gefehlt hat und denen der Wahn verhängnißvoll geworden ist, daß Wien, die „Hochburg des Liberalismus", uneinnehmbar sei. Leider compticirt sich die Sache iu ungünstigster Weise noch dadurch, daß der Sieg des Antisemitismus gleichzeitig einen bedeutenden Machtzuwachs des Klerikalismus involvirt, dem jener Schleppendienst leistet: an der Spitze des Comitös, welches die Wiener Bürgerschaft zu einer Ausfahrt beim Nuntius Agliardi auffordert, um „aus dem Cbristenvvlke heraus dem Vertreter des heiligen Vaters für die ihm zugefügten Unbilden eine eclatante Genugthuung zu bieten'^ steht — vr. Lueger, der ehemalige Radikale, der Jahre lang stolz gewesen ist, daß er eine Busennadel mit den zwei Gesetzestafeln tragen durfte, die er von einem — Juden für einen gewonnenen Proceß geschenkt be kommen hatte. Zweifellos wird der Gang der Dinge in Wien auf die Krise in Ungarn zurückwirken und auch dort die Gegensätze noch verschärfen. Kaiser Franz Joseph's heißestes Bemühen »st eü gerade, diese Gegensätze zu mildern und zu überbrücken, aber wenn auch bas Cabinet Banffy den guten Willen dazu zeigen sollte, die Klerikalen werden, in ihrem Macklgefühl jetzt mehr bestärkt als sonst, alle der artigen Hoffnungen zu Nichte machen. Wenn mitgetheilt wird, daß die Abberufung Agliardi'S beschlossene Sache, ja vielleicht schon geschehen und der Papst also der ungarischen Re gierung, die Reklamation des Ministers des Auswärtigen gar nicht abwartend, weit entgegengekommen sei und die Erhebung von Recriminationen, sowie die Forderung einer Genug thuung für Baron Banffy sich mithin erübrige: so bleibt noch abzuwarten, ob diese Nachrichten sich bestätigen. Aber wenn dies auch der Fall sein sollte, WaS ist damit gewonnen? Lediglich ein unter Duldung Kalnoky's und mit Hilfe der Wiener Hofcamarilla durchgeführter echt römischer Schachzug. Agliardi allerdings wird geopfert, aber kein Mensch ist berechtigt, zu behaupten, daß er über den Stein des An stoßes gefallen sei, den er auf seiner staatSgefährlichen Reise »n Ungarn sich selbst in den Weg gelegt hatte; er wird seinen Posten unter einer ganz anderer, jeden falls für die Sache aleichgiltigen Motivirung, und wahr scheinlich mit Ehren überhäuft, verlassen. Höchstens läßt sich sagen, der Papst habe formell nachgegeben, aber auch dies nur, um die beabsichtigte Demarche und die vom ungarischen Ministerium verlangte Genugthuung zu Hintertreiben. Sachlich ist die Curie nicht um eine Linie zurückgewichen, der Fürstprimas Vasary hat zweifellos im vollsten Einverständniß mit Leo XIII. und Fer»Nletsn. Die Erbin von Abbot-Castle. i>j Original-Roman von F. Klinck-LütetSburg. Sta-druck vndoti,i. (Fortsetzung.) Und wieder lächelte Mary Connor traurig. „Ich bade gar kein Verlangen, von hier fort zu gehen, MrS. Gray, aber Sie selbst werden wünschen, daß ich Sie verlasse, wenn Sie nur meinen Worten Glauben schenken wollten. O, MrS. Gray, ich sagte eS Ihnen damals gleich, ich bin nicht Lilian Smith — Ihre Enkelin — ich bin wirklich —" Sie brachte den Namen nicht über ihre Lippen und Thränen rollten über ihre Wangen herab. Ein Blick auf die alte Frau sagte ihr schon, was nun kommen würbe. MrS. Gray saß wie erstarrt, sie machte einen beinahe furchtbaren Eindruck mit den weitaufgerissenen Höhlungen, aus welchen die glanzlosen Augen hervorzuquellen schienen. Mary Connor täuschte sich aber über die Ursache ihres Entsetzen-, es fand seinen Grund in der Besorgniß, daß die Enkelin abermals krank ge worden war und ihre Ficberwahnvorstellungrn sie aufs Neue beimsuchten. Doctor Donald hatte ihr gesagt, daß cS zu nichts führen könne, wenn man einem so jungen Ge schöpfe so viel zumutbe. Sie mußte an Edith Smith denken. Sie hatte damals nicht geklaubt, daß sie krank sei. Der Jugend fehlte jede Berechtigung krank zu werden. Und doch war Edith gestorben. Der Gedanke, daß Lilian ein gleiches Schicksal haben könne, regte sie furchtbar auf. „MrS. Gray, wollen sie mich einige Augenblicke anhören? fragte Mary, ihren ganzen Muth zusammennrhmrnd, denn sie durste und wollte nicht wieder zurückwcichrn, gleichviel, welchen AuSgang daS Bekennen der Wahrheit nehmen würde. „Sie werden so leicht begreifen, waS Ihnen jetzt so uner klärlich scheint, daß Sie e» für die Phantasien einer Krankheit halten möchten." Die verhältnißmäßig ruhig gesprochenen Worte machten ersichtlich Eindruck auf die alte Dame. Es zeigt« sich rtwa- UnsichereS an ihr, in ihrem Gesicht war etwa» Fragende-, zugleich aber macht« an ihr eine wachsende Unruhe sich be merkbar. „Ich wünsche, ja wirklich, ich wünsche, daß eS nicht Wahrheit ist, waS Du sagst, dann wäre es ja viel, viel besser, Du wärest krank und müßtest Deiner Schwester Edith in- Grab folgen." Mary Connor's Thränen flössen reichlicher. Ach, sie wußte ja selber, daß ihr der Tod ein Erlöser sein würde. „Und dennoch ist e« Wahrheit, MrS. Gray. Ich habe kein Fieber, keine Wahnvorstellungen. Ich bin in der Thal Mary Connor." „Und Sie wagen — Sie haben gewagt", brauste die alte Frau auf, und ihr fahles, faltenreiches Gesicht nahm einen schrecklichen Ausdruck an. ^ „Mrs. Gray, wollen Sie mich nicht anhören? Bedenken Sie, daß eS nicht mein Wille war, als man mich hierher brachte, daß ich Ihnen sogleich meinen wahren Namen ge nannt habe; aber Sie wollten nichts davon wissen und glaubten mir nicht. Dann aber, o Gott — ich hoffe, er wird mir meine Schwäche vergeben, und Sie auch, wenn Sie meine traurige Lage bedenken. Ich wußte nicht wohin, mein Name war jedem Menschen ein Schreckniß —" „Mit Recht. Sie hätten zu Ihrem Großvater gehen sollen. Der alte Mann und seine Tochter haben viel auf dem Gewissen, daß Sie Ihnen eine so schlechte Erziehung gegeben haben —" „MrS. Grav — Sie sprechen von meiner verstorbenen Mutter, und ich dulde nicht, daß Sie dieselbe beschimpfen", sagte Mary hobeitSvoll, und ihre Thränen waren in dem selben Augenblick versiegt. „Sie war eine Mutter, auf die jede Tochter stolz sein kann. Was aber meinen Großvater anbelangt, so entbehrt er mich nicht, und dort —" sie schauderte zusammen — „.dort, wo ein Jeder mich kennt, kann ich nicht leben. ES ist mir unmöglich." Mrs. Gray hatte inzwischen vollkommen begriffen, daß in der Thal die als Mörderin angeklagt gewesene Mary Connor seit nahezu drei Viertel Jahren unter ihrem Dache gelebt hatte und sie deren Pflege anvertraut gewesen war. ES befremdete sie selbst, daß dieser Gedanke sie nicht mehr aufregte, sondern sie nur darüber nachdachte, wir da» Alle» o hatte kommen können. Daneben fühlt« sie rin große« Inbehagen, indem sie erwog, daß da« Leben, daS ihr eigen»- I ich in der letzten Zeit, so lange dieses Mädchen bei ihr war, weniger Anlaß zur Unzufriedenheit gegeben al» sonst, nun sein Ende erreicht haben würde, denn e« war ja selbst verständlich, daß eine Mary Connor nicht ferner mit ihr zusammen leben konnte. Doch noch einmal kam ihr der Ge danke, ob die Behauptungen deS jungen Mädchens nickt trotz alledem auf eine Geistesverwirrung zurückzuführen sein würden. Marv Connor'S Leiche war von dem Rechtsanwalt Primrose, der sie ganz genau gekannt hatte, recognoScirt und nach Abbot-Castle gebracht worden. So forderte sie daS junge Mädchen mit kurzen harten Worten auf, ihre alle Einzel heiten jenes Vorganges mitzutheilen. Mary Connor folgte der Aufforderung mit fester Stimme. In diesem Augenblick fühlte sie erst, wie schwer sie von ihrem Geheimniß bedrückt worden »var und welche Erleichterung eS ihr gewährte, davon befreit zu sein. Sie konnte ohne Zögern jede Einzelheit wiederholen und nur, als sie von Lilian und ihrem traurigen Ende sprach, als sie die Worte erzählte, welche das junge Mädchen noch gesprochen, wurde sie von ihren Gefühlen ubermannt und brach in Thränen aus. „Also Lilian hat Ihren Mantel getragen? Wie kamen Sie dazu, ihr einen solchen zu geben? E« ist doch gar nicht anzunebmen, daß meine Schwiegertochter das Kind an einem kalten Decembertaae ohne einen Mantel aus dem Hause ge schickt hat", sagte MrS. Gray, als Mary jetzt schwieg. „Lilian trug eine Jacke, aber sie war sehr dünn und sie fror so sehr." „Aber Sie hatten offenbar nicht zwei Mäntel", beharrte die alte Frau. „Nein, aber rin sehr warmes Winter-Jaquet." Darauf trat eine längere Pause ein, während welcher Beide ihren verschiedenen Gedanken nachhingen. Mary dachte, daß die letzte Zeit, seitdem sie Will Gullham begegnet war, eigentlich dir allrrschwrrste gewesen war. „Sie werden jetzt nach Abbot-Castle gehen?" fragte MrS. Gray endlich. „Ich weiß eS nicht, vielleicht finde ich doch nur dort rin Unterkommen." Wieder wurde eS still in dem Raum. „Sie sagten, Ihr Großvater gebrauche Sie nicht." „Er hat meiner nie bedurft." „Aber man wird Sie nirgend- aufnehmen." „Ich fürchte eS." „Ich glaube nicht, daß Sie schlechten CbarakterS sind. Sagen Sie mir, wie ist eS gekommen? Wie konnten Sie sich dlnreißen lassen —" Ein qualvolles Aufstöhnen de« jungen Mädchens ließ die Greisin nicht vollenden. „Haben Sir eS wirklich nicht gethan?" „O, MrS. Gray, können Sie glauben, daß ich einen Mord habe begehen können? Wie eS möglich war, daß man einen solchen Verdacht auf mich werfen konnte, ich weiß es nicht." Bon der Erinnerung überwältigt, brach sie in ein krampf haftes Schluchzen aus. MrS. Gray sagte kein Wort. Viel leicht hörte sie nicht einmal die herzzerreißenden Töne, welche von der Oual eines schwerverwundeten Herzens Kunde gaben. Sie war mit ihren Gedanken beschäftigt, die ungewöhnlich lebhaft arbeiteten. Endlich sagte sie: „Geh' auf Dein Zimmer, Lilian und — höre auf mit Weinen. ES ist eine sonderbare Geschichte, ich kann mich nicht durchsinden — noch nicht — ich weiß auch noch nicht, was ich thun werde — aber eS bleibt heute noch wie es ist. Laß Niemanden etwa- von dem Vorgefallenen merken — Du hast doch nicht etwa?" „Nein", entgegnere Mary, aber sie dachte an Lord Ruth- bert, dem sie Aufklärung versprochen. „Sieh einmal nach, ob nicht Jemand gehorcht hat. Der Haushälterin kann ich immer nicht trauen. Sie hat etwas Hinterlistiges." „Sie ist im Kllchengarten, die Magd ist über Land, Bertie und Johannie sind im Hofe beschäftigt." „Es ist gut so — geh! Ich will allein essen und Du kannst es Du auf Dein Zimmer bringen taffen." Mary Connor wandte sich zum Gehen. Sie hatte ein Gefühl, als müsse sie MrS. Gray dafür danken, daß sie nickt härter auf sie eingrsprochen und sie nicht auf der Stelle sortgejagt batte. Sie wagte aber nicht, sich derselben zu nähern, weil die alte Dame keinen Widerspruch vertragen konnte und sie dieselbe zu reizen fürchtete. Die kleinen Hände auf der Brust gefaltet, verließ sie das Zimmer, um sich in ihrem kleinen Gemache ganz der Beruhigung hinzugeben, von welcher sie für den Augenblick durchdrungen war, wenn sie sich auch nicht verhehlte, daß neue Stürme ihrer warteten. Mrs. Gray batte keineswegs aus zarter Rücksicht für das junge Mädchen in Schweigen sich gehüllt, sie hatte noch nicht einmal das Grauen überwunden gehabt, welche- ihr der Gedanke rinflößte, eine, eines furchtbaren Verbrechens ver dächtigte Person in ihrer Nähe als die einzige zu haben, der ihre Gesundheit anvertraut war. Wenn sie nicht gleich Mary Connor den Befehl gegeben hatte, ihre Sachen zu packen und das HauS zu verlassen, so dankte dieselbe die» nur dem Umstand, daß Niemand zur Stelle war, der sie hatte ersetzen können, und MrS. Gray keines wegs von der Zuverlässigkeit ihrer Haushälterin durch drungen war. Wenn Mary Connor ging, so würd«
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