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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.06.1895
- Erscheinungsdatum
- 1895-06-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189506101
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18950610
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18950610
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-06
- Tag1895-06-10
- Monat1895-06
- Jahr1895
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.06.1895
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Gröbere Schristru lant unserem Preis« verzeichniß. Tabellarischer und Zifsrrnsatz «ach höherem Tarif. Extra »Beilagen (gefalzt), nur ml» der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesördertmg SO.—, mit Postbrfördernng 7V.-1. Annahmeschluß für Anzeige«: (nur Wochentag«) Abend-Ausgabe: Bormittag» 10 Uhr. Margen«An»gabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestelle« je »in« halbe Stund« früher. Anreißen sind stet» an dt« Expedition zu richten. Druck «nd Verlag von E. Polz in Leipzig. ^ 278. Montag den 1v. Juni 1895. 88. IahrgaG Politische Tagesschau. * Leipziß, 10. Juni. Die ausführlichen Bericht« über den in Aachen geführten Proceß geben den Wirth Mellage und die übrigen muthigen Männer, welche die Zustände in dem Alextaner- kloster Martabcrg an» Tageslicht gezogen haben, liegen nun mehr vollständig vor unS. DaS bunte und krause Durchein ander aller Aussagen zu sichten und ein klare- Bild der thal- sächlichen Verhältnisse zu entwerfen, wird in den nächsten Tagen unsere Aufgabe sein. Aber schon jetzt must gesagt werden, daß die einzelnen Züge dieses BildeS nicht nur daS Gefühl der Empörung über unerhörte Vorgänge, sondern auch peinliches Erstaunen darüber erwecken, daß solche Vorgänge im Deutschland des 18. Jahrhunderts möglich waren. Beiden Empfindungen hat Prof. Geh. Rath Finkelnburg mit den Worten Ausdruck gegeben: .Ich finde keinen hinreichenden Ausdruck zur Mißbilligung der Zustände auf Mariaberg, die sich zu unserem größten Erstaunen ent hüllt haben. DaS sind Zustände, die wir nicht bloS bei uns in Deutschland, sondern überhaupt in jedem Staat in Europa für unmöglich gehalten haben." Staunen muß schon in weiten Kreisen die Thatsache erregen, daß nicht die von Mellage in seiner von unS längst, ja fast zuerst ausführlicher besprochenen Broschüre „39 Monate bei gesundem Geiste als irrsinnig eingekerkert" beschuldigten Personen auf der Anklagebank saßen, sondern Mellage, der Verleger jener Broschüre, und der Redacteur des „Iserlohner Kreisblattes", Scharre, der den Inhalt der Broschüre wider gegeben hatte. Aber größeres Staunen noch die weitere Thatsache, daS trotz dieser Broschüre und ihrer detaillirten Angaben lange Zeit in Mariaberg Alles beim Alten blieb und daß erst dem Verfasser und dem Verleger der Broschüre der Proceß wegen öffentlicher Beleidigung gemacht werden mußte, bevor es möglich war, einen klaren Einblick in die Zustände von Mariaberg zu erlangen. Dieser Einblick hat nun zwar die erfreuliche Folge gehabt» daß Mellage und Genossen, für deren Behauptungen der Wahrheitsbeweis als erbracht angesehen wurde, kostenlos frei- gesprochen wurden und der Staatsanwalt ein strafrechtliches Vorgehen gegen die eigentlichen Schuldigen in Aussicht stellte, aber dadurch wird das peinliche Staunen über die lange Schonzeit, die diesen Schuldigen zu theil geworden ist. nicht vermindert; im Gegentheil. Diese Schonzeit weist aus einen wunden Punct hin, auf den das Organ des Fürsten Bismarck, die „Hamb. Nachr.", den Finger legt, indem eö schreibt: „Die Hauptfrage ist die: wie ist es möglich gewesen, daß solche Zustände der Aufsichtsbehörde bisher entweder unbekannt blieben oder von ihr geduldet werden konnten? Hierüber muß volle Klarheit geschaffen werden. Es fügt sich glücklich, daß der Landtag noch nicht geschlossen ist. Das am Dienstag wieder zusammentretenve Abgeordnetenhaus wird eS — so nehmen wir an — als seine selbstverständliche Pflicht betrachten, im Wege der Interpellation von der Regierung Auskunft zu erbitten. In- zwischen aber darf die Presse mit dem Eindrücke, den die Aachener Gerichtsverhandlungen machen, nicht zurück- halten, und da wollen auch wir nicht verschweigen, daß nach unserer Meinung das Betrllbendste an der Sache die weitverbreitete Empfindung ist, daß die seit längeren Jahren beliebte Leisetretere gegenüber dem Centrum die zunächst verpflichtete Aufsicht- behörde zu ihrer Nachlässigkeit oder Nachsicht, wenn nicht veranlaßt, so doch in derselben bestärkt hat. Wenn man sich nicht mehr damit begnügt, die Grenzrcgulirung zwischen Staat und Kirche, wie sie in der Gesetzgebung der siebziger Jahre vorgenommen worden ist, vorsichtig, d. h. einer verständigen Erwägung aller in Betracht kommenden Verhältnisse entsprechend zu corrigiren, svndern von den leitenden Stellen im Staate aus den sogenannten Cultur- kampf rundweg verleugnet, wenn man die parlamentarische Ver tretung des Ultramontanismus in jeder Weise umschmeichelt und selbst den zweifellos unerfüllbaren Ansprüchen desselben gegenüber den staatlichen Standpunct nur mit einer anf allenden Schüchternheit vertritt — wie kan» man sich dann wundern, wenn die Nachgeordnete» Organe, wo sie dazu in die Lage kommen, jeden Constict mit den kirchlichen Behörden und den irchlichen Organisationen um jeden Preis zu vermeiden suchen? Was daran» entsteht, hat man hier nun einmal in einem besonders chreienden Falle gesehen. Man hat den haarsträubenden Miß- tänden in Martaberg gegenüber nicht nur dt» Augen zugr- drückt, nein, der AreisphystcuS unternimmt eS selbst dann noch, al» sie vor aller Welt aufgedeckt sind, sie zu beschönigen; ein Theil der Bürgerschaft steckt mit der verbrecherischen tranlcnpslegcr-Geselljckaft unter einer Decke und ist bestrebt, ihre Schanvthaten nicht anS Licht kommen zu lasten» und diejenigen, welche zur Aufhellung beitragen, werden boycotttrt und verfolgt. Ja, der Bertheidiger de» Mannes, dem das Haupt verdienst an der Enthüllung gebührt, wird von der CentrumSpreste mit dem Verlust seine» ReichStagSmaudate» bedroht! Ein Terrorismus schlimmster Art ist eS, den sich die Alrxianerbrüder und ihre Helfershelfer gestatten zu dürfen glaubten. Und dabei ist das Charakteristische, daß diese „Brüder" von drn sie betreffenden gesetzlichen Bestimmungen, z. B. von der Vorschrift de» Gesetzes vom 12. Mai 1873, wonach die Verweisung in eine Deme- rttenanstalt die Dauer von drei Monaten nicht Übersteigen darf, gar keine Ahnung zu haben scheinen. Die staatliche Autorität ist für diese Alexianer gar nicht vorhanden; ie lümmern sich auch nicht um die „Doeetersch", sie sind die Herren und damit basta I Dir „Brüder", welche, wie sich gezeigt hat, zum größten Theile auf einem recht niedrigen Bildungsniveau stehen, allein oder auch nur vorwiegend für diesen Zustand verant wortlich zu machen, ist unmöglich. Alle Welt wird mit Geh. Rath Finkelnburg einverstanden sein, daß eS dir Aufsichtsbehörde ist, und zwar die weltliche wie die geistliche, welche die schwerste Schuld trifft. Mit der geistlichen haben wir e» hier zunächst nicht zu thun. Wa» aber die weltliche anlangt, so erinnert man sich kaum, daß von einem Staatsbeamten gegen eine staatliche Behörde jemals eine so vernichtende Anklage erhoben worden ist, wie eS Geh. Rath Finkelnburg tn diesem Falle gethan hat. Welche Stelle hier recht eigentlich die Verantwortung trifft, wird die Regierung vor dem Lande klarzustellen haben. Außerdem sollte man meinen, die durch die Beweiserhebung im Proceß Mellage unanfechtbar klar» gestellten Mitzstände seien derart, daß die Regierung von ihrer Be- sugniß, die Niederlassung der Alrxianerbrüder in Mariaberg einfach auszuheben, Gebrauch machen müßte. Auch damit ober würde die Frage, welche durch Liesen Proceß ausaeworsen wird, nicht erschöpft sein. Als man tn dem preußischen Gesetz vom 31. Mai 187L die Krankenpflegeorden, allerdings aus Widerruf» bestehen ließ, ging man, wie aus den dem damaligen Gesetzentwurf bei gegebenen Motiven zu ersehen ist, von der Ansicht auS, sie verdienten «ine von derjenigen der übrigen Orden abweichende Behandlung wegen ihrer überall da rühmenswerthen Leistungen, wo sie sich, wie die» insbesondere auch tn den letzten Kriegen der Fall war, lediglich dem Gebot« der Erfüllung der Nächst»«- liebe gewidmet haben und ferner widmen. Nun, dir Beispiel« von „Nächstenliebe", wie sie dieser Proceß enthüllt hat, klingen wie Hohn auf die hohe Meinung, welche die vielgeschmähte „Cultur- kampfregierung" von den Krankenpflegerordrn hegte; man wird sich nicht wundern dürfen, wenn sich jetzt in den weitesten Kreisen von Neuem der Zweisel regt, ob auf der heutigen Culturstufe kirchliche Organisationen, deren Bedeutung in den politisch unentwickelten oder geradezu staatlosen Verhältnissen de- Mittelalters nicht verkannt werden soll, für die Krankenpflege, zum mindesten für einen so schwierigen Zweig derselben, wie den in Martaberg gepflegten, noch Berechtigung thaben, ob der moderne Staat mit seiner Pflicht der Gesundheitspflege es überhaupt verantworten kann, auf die Erfüllung dieser Pflicht zu Gunsten von kirchlichen Brr- rinigungen, welche so wenig Garantie für «ine zweckmäßige Be handlung der Kranken bieten, zu verzichten. Dir Sympathien für da- katholische Krankenpflegewesen, welche bisher in den weitesten Kreisen bestanden, haben jedenfalls einen starken Stoß erhalten. Und wenn man auch nach näherer lieber- lrgung nicht geneigt sein wird, das Kind mit dem Bade auSzujchüttrn, so wird doch mindesten» rin« ganz andere Regelung der staatlichen Aufsicht verlangt werben müssen Bor Allem müssen durchaus zuverlässige Bürgschaften geschaffen werden» daß die Mitglieder der Krankenpflegerorden eine genügende berufliche Ausbildung genoffen haben. Ob man gut thun wird, dies d«m besteht«».« Gesetz. ^-mSß °°^'n N.L d'.r S.U ..di..--, IZ°" sein; wenigstens schreibt heute d,e „Nat.-Ud. Gorr- . Die im Proceß Mellage enthüllten Thatsachen dürsten k Glossen machen. — Die Ansprache des Kaiser- Franz Joseph an d»e kundgeben, daß auch Graf GoluchowSk, die Politik d" M'anzen fortsitzen werde. Der HmwriS der Thronrede auf me fort schreitende Beruhigung und Consolidirung des allgemeinen Friedens wird in unterrichteten Wiener Kreisen dahin inter pretier, daß von den Vorgängen w, Orient keine Bedrohung des europäische» Friedens besorgt wird. DaS was der Kaiser über die Nothwcndigkeit sagte, d,e Wehrkraft der Monarchie aufrecht zu erhalten, widerspricht diesen Erklärungen nicht, sondern bedeutet nur eine Aneiferung für die Delegationen, den vom Krieg-Ministerium und der Plarmeverwaltung verlangten neuen Erediten zuzustimmra. Wenn auch keinerlei Gefahr für den Frieden besteht, so ist doch für keinen Staat die Notbwendigkeit geschwunden, gut gerüstet zu sein. Die- werden die Delegationen jetzt ebenso wenig ver- kennen, wie fte eS in der Vergangenheit niemals ver- kannt haben. Aebnlich sprechen sich auch die der Regierung nahestehenden römischen Blätter aus. — Die Uebrrzeugung von der Unannehmbarkeit derWahlresorm, wie da-Sub- comitü de» Abgeordnetenhauses sie entworfen, hat nicht allem die deutschlibrrale Partei, sondern auch den Polenclub ersaßt, ja selbst Graf Hohenwart ist zu der Ansicht gelangt, daß mindestens die Bemessung der Arbritermandate zu karg er folgt sei. Namen- der deutschen Linken erklärte Graf Kurnburg bekanntlich in der letzten Sitzung de» Wahlrrform> auSschusses, dieselbe trete nur unter der Voraussetzung wrsrnt sicher Verbesserungen des Entwürfe- in die Sprcialberathung ein. Sir verlangt u. A. Ausdehnung des Wahlrechts auf kleinere Leute von gewisser Bildung und auf Inhaber selbstständiger Jahreswohnungen, eine große Anzahl neuer Mandate, Un- thrilbarkeit der neuen Wahlcurie rc. Diese Entschlossenheit der Linken könnte imponiren, wenn diese selbst sich einen Erfolg davon verspräche. Aber eS ist nicht anzunehmen, daß auch nur ein Theil ihrer Forderungen von der Mehrheit de- Ausschusses angenommen wird. Die Vorlage, wie sie jetzt ist, stellt sich als daS Ergebniß einer Reihe von Com- promissen dar, welche von wechselnden Mehrheiten beschlossen wurden. Alle diese Beschlüsse wieder umzustoßen und die aesammte Vorlage nochmals umzuarbeiten, dazu werden dir Parteien sich schwerlich verstehen. E- ist auch nicht ersichtlich, worauf die Linke ihre Hoffnung stützt, daß sie, nachdem sie im SubcomitS unterlegen, nun im Ausschüsse mehr Glück haben werde. Ihr Entschluß, für das Eintreten in die Specialdrbatte zu stimmen, kann danach nur den Zweck haben, daS Odium und die Verantwortung für ein etwaiges Sckeit'ern der Wahlrrsorm und alle sich daran knüpfenden Folgen abzulehnrn. Auf die Verhältnisse und Gründe, welche den Rücktritt deS französischen Expräsidenten Ca simir-Perier ver« anlaßten, fällt jetzt ein ziemlich deutliches Licht. Bei seinem RegirrungSanlntt batte Perier bekanntlich erklärt, er werde der unerbittliche Gegner aller Politiker mit schmutzigen Händen sein; wer seine Stellung mißbraucht habe, um sich unredlich persönliche Vortheile zu verschaffen, werde an den Pranger gestellt werden, an den er gehöre. Das war ein sehr deutlicher Wink an die Adresse aller Derer, die, ohne von den Gerichten ver- urtbeilt oder bisher von den gesetzgebenden Körperschaften selbst gerichtet worden zu sein, doch in den Panama-, in den Südbabnscandal oder in sonst irgend eine üble Geschichte verwickelt waren. Zum Erstaunen Aller, die bis dahin auf Casimir-Perier'ö rücksichtslose Energie geschworen hatten, geschah aber nichts. Die Untersuchung in Sacken der Süd bahn ging zwar fort, aber sie wurde in engen Grenzen ge halten und von Maßregeln gegen gewisse Politiker, die alle Welt bei Namen kannte und nannte, war nicht die Rede. Da fiel das Ministerium Dupuy; Perier ging; es kam ein neues Regiment, und mit ihm gerieth allmäh lich — ob mit Zulhun der Regierung oder nicht, ist eine Frage, die zu untersuchen hier nickt hergchört, auch zu weit führen würde — ganz wie einst der Panamascandal so jetzt der Südbahnscandal auf die schiefe Ebene: eS wird, wenn nicht alle Zeichen trügen, in den nächsten Wochen zu gerichtlichem Vorgehen und, wo dieses nicht mehr möglich ist wegen der inzwischen eingetretenen Verjährung, zu parla mentarischem Einschreiten gegen die von der öffentlichen Meinung oder von dem Untersuchungsrichter Beschuldigten kommen. Nun will man aber, wie dem „Hamb. Corr." aus Paris geschrieben wird, wissen, und zwar in Kreisen, denen man unbedingtes Vertrauen schenken kann, daß — wie wir schon seiner Zeit, ziemlich alleinstebend, bervorhoben — einer der Hauptgründe, die Casimir-Perrier bewogen haben, die Prä sidentschaft niederzulegen, der gewesen ist, daß er in dcr Verfolgung Derer, die in die Schwindeleien der Südbahngesellschaft verwickelt sind, seinen Willen nicht durchzusetzen vermochte, daß er seinen damaligen Ministern wiederholt aufgegeben hatte, in der Angelegenheit den Gesetzen freien Lauf zu lassen, daß aber Dupuy ihm in diesem Puncte, auf dem Carnot'schen Standpuncte der möglichsten Vermeidung allen Scandales stehen bleibend, einfach den Gehorsam verweigerte. Als dann da- Ministerium Dupuy estürzt wurde, wollten die Freunde der in den Augen Perier's compromittirten Parlamentarier den Präsidenten der Republik noch obendrein zwingen, einige dieser com promittirten Leute unter seine berufenen Rathgeber aufzu nehmen, waS in seinen Augen Mitschuld an den begangenen Verbrechen oder Vergeben bedeutet hätte. Weil er sich hierzu nicht hergeben wollte, ist seiner Zeit Casimir-Perrier gegangen, nicht wegen sentimentaler Liebesgeschichten, auch nicht wegen allgemeiner Mißstimmung oder gar aus Angst vor Atten taten, aus Nervosität oder was sonst man ihm alles für unglaubhafte Motive untergeschoben hat. In der Türket hat sich plötzlich ein Regierungs wechsel vollzogen, der nach Lage der Dinge mit dem Scheitern des JnterventionsversuchS der drei Mächte Eng land, Rußland und Frankreich in der armenischen Frage in Zusammenhang gebracht werden muß. Wie an anderer Stelle mitgetheilt wird, wurde der Großvezier Dschevad Pascha seines Amtes enthoben, der frühere Großvezier, jetzige Minister des Aeußern, Said P ascha zum Großvezier, SI Feuilleton. Haus Hardenberg. Roman von Ernst von Waldow. Nachdruck »erdsten. (Fortsetzung.) „Nun ja", setzte der Hauptmann gleichmüthig daS Gesvräch fort, „und warum nicht? Dieser Hardenberg muß in seiner Jugend ein verteufelt hübscher Bursche gewesen sein, der den Frauen die Köpfe verdreht bat. Was mich aber an ihm am meisten interessirt, ist sein würdevolles, gehaltene« Wesen. Er ist kein Aristokrat, prätendirt aber auch nicht, es sein zu wollen. So denke ich mir einen Fugger, einen Welser, jene reichen Kaufherren von einst, welche noch nicht zur Börse gingen und von der modernen Beutelschneidrrei sich widerwillig abgewendct hätten. Wirklich, ich bin ganz vernarrt in diesen schlesischen Landsmann und habe ihm versprochen, ihn morgen nach dem Tattersall zu führen. Er will, glaube ich, ein paar Pferde kaufen, ich bin in der Lage, ihm gefällig sein zu können. Baron Soltenvorff br sitzt prächtige Rappen, die er zu verkaufen wünscht, um eine Spielschuld zu zahlen. Später wollen wir bei Hiller frühstücken. Deshalb kann ich auch nickt zu Dir kommen, um daS Resultat Deiner Be mühungen sofort zu vernehmen. Sollte eS sich um ErnsteS handeln, irgend eine Gefahr zu befürchten sein, dann habe die Güte, mich durch rin paar Zeilen davon zu benachrichtigen Anderseits, wenn Alles nach Wunsch geht, finde ich mich Abends bei Dir ein. um Siegfried'- Briefe iu Empfang zu nehmen. Einverstanden?" „Gewiß, lieber Onkel." „Hier — bald hätte ich vergessen — nimm die- Blättchen die Adresse Klotilde'S ist daraus notirt." Mit einem Seufzer schob ValeSka da- kleine Blatt, welche« jedenfalls aus dem Notizbuche des Herrn v. Erbach stammte, in die Tasche ihres Kleides. Sie war ganz nach denklich geworden, und als der Oheim von ibr geschieden und sie sich endlich in der Einsamkeit ihre- Gemaches er holen durste, drängte der Gedanke an die peinliche Scene, welche ihr morgen bevorstand, alle anderen Empfindungen zurück. HI. Im dritten Stockwerke eines der alteren Hauser Unter den Linden, nahe der Neustädtischen Kirchstraße, batte die verwittwete Professor Schneider «ine UoterrichtSanstalt für die weibliche Jugend errichtet, mit besonderer Berücksichtigung einer Handarbeiten. ValeSka zog am nächsten Tage um die Mittagsstunde etwa- zaghaft den Knopf der Glocke unter dem großen Messingschitde und wurde von dem freundlichen Dienstmädchen, nachdem sie ihr Anliegen kundaegeven, in ein großes Zimmer geführt, dessen Fenster nach dem Hofe sahen. Da die Be wohnerin im Momente nicht anwesend war, hatte ValeSka Muße, eine kleine Umschau zu halten. Doch WaS sie da sah, war eben nicht geeignet, sie froher zu stimmen, im Gegentheil. di« hier herrschende Unordnung verletzte ihr weib liches Gefühl. Kleidungsstücke, Hüte, Handschuhe» Bücher und Maler- geräthschasten lagen auf Tischen und Stühlen bunt durch einander gemischt umher. Aber da- war noch nickt da« Schlimmste. Die lichtblau« Wolldamastdecke, welche über den großen, runden Tisch gebreitet lag, per mitten im Zimmer stand, war durch Eigarrrnasche verunreinigt und auf der Untertasse de- noch nicht svrtgrräumten FrühstückSgesiyirrS lag eine zur Hälft« abgebrannt« Havanna-Cigarre. Klotilde rauchte also — oder hatte in ihrem Zimmer den Besuch eines rauchenden College» empfangen. Wa- würde Onkel Dietrich dazu gesagt haben, dem «mancipationSlüsternr Frauen so antipathisch waren. Zehn Minuten waren vergangen, ValeSka'« Unbehagen steigerte sich noch, da vernahm sie deftige Tritte im Corridor, die Stubenthür wurde ungestüm geöffnet, und auf deren Sckwellr erschien ein noch junges Mädchen mit Hut und Mantille, belastet mit einer Anzahl kleiner Päckchen, welch« e« in den unbehandschuhten Händen trug. Ohne schön zu sein, hatte Klotilde Saalfeldt etwas sehr Anziehendes. Sie war „pikant" und in den Augen der meisten Männer galt da« als ein großer Vorzug, zuweilen sogar für mehr denn regelmäßig» Schönheit. Große dunkle Augen belebten rin blasse« Gesicht, dessen Nase allerdings nicht- Griechische« hatte, aber fein geschnitten war. Auch der etwa« große Mund wurde durch volle Purpurlippen ge ziert, die, wenn sie sich öffneten, spiNe Zähne sehen ließen Auf den braunen, kurz geschnittenen Locken saß ein kleine- Hütchen, dem ein Eulenkopf und einige dunkle Federn zum Schmucke dienten. Wenn ein strenger Kritiker aber auch an sem Gesichte der jungen Dame etwas auszusetzen gefunden, die Gestalt, mit ihren junonischen Formen, hätte er als tadellos bezeichnen müssen. Ala Klotilde der Besucherin ansichtig wurde, färbte für einen Augenblick hohe Röthe die bleichen Wangen und ein Zucken machte ihren Körper erbeben. Doch schnell war sie wieder Herrin ihrer selbst, und der Freundin dir Hand entgegen- lreckend, rief sie leichten ToneS: „Du hier, ValeSka? DaS ist in Wirklichkeit eine Ueber- rafchung, denn wir haben uns recht — recht lange nicht »«sehen. Es ist sehr lieb von Dir, daß Du mich in meiner Junggesellenwohnung aussuchst — wenn Du nämlich au« eigenem Antriebe gekommen bist und nicht als — Abgesandte." ValeSka «rröthete unwillkürlich unter dem prüfenden Blicke der scharfen, schwarzen Augen, die fest auf sie geheftet waren, und ,« war chr sehr angenehm, daß Klotilde sie einer Ant- wort enthob, »ndrm sie schnell fortsuhr: „Aber Du stehst ja wir weiland Lot'S Weib mitten in der Stube — warum hast Du denn nickt Platz genommen? ich vergaß, daß hier ein« malerischeUnordnung herrscht. Da muß man sich eben zu helfen wissen — siehst Du — da« macht man s» —" Und hei diesen Worten raffte sie die sämmtlichen Gegen stände, welche einen der Sessel belasteten, mit beiden Armen zusammen und warf sie auf den zunächst stehenden Lehnstuhl. „Jetzt setz« Dich und lasse uns plaudern. Wir haben unS v,«l zu erzählen. Rauchst Du — bitte, bediene Dich." ValeSka schob mit einer Gedrrde de« Widerwillen« die Porzellanschale zurück, welch« di« Freundin vor sie bingerückt. Die junge Malerin bemerkte dies lächelnd, und während sie den feinen türkischen Tabak ans der Schale in ein Blättchen Tkidenpapier schüttet, und mit den schlanken Fingern eine Cigarette daraus formte, meinte sie; „Ja, den Erzieherinnen ist da« Rauchen noch nicht ae- stattet, und deshalb hast Du Dich nicht daran aewöbnt' sind wir Künstlerinnen besser daran. wirdürs.n7kun'w.. uns gefällt Schon der si.iere Verkehr mit d n Llich »» Gewohnheit,- - wolltest Du doch sagen" „Sei es drum, dafür mußt Du gelten lassen, daß die Untugenden amüsant und die Tugend im Allgemeinen lang weilig ist." „Aber Klotilde, wer Dich so sprechen hört, muß eine ganz alsche, ja eine schlimme Meinung von Dir bekommen." Sie blies den Dampf ihrer Cigarette vor sich hin. „Pah, WaS frage ich noch nach der Meinung der Leute!" „Ist eS Dir auch ebenso gleichgillig, was Deine Freunde tber Dich denken?" „Freunde? — ich glaube nicht mehr an Freundschaft, habe auch den Glauben an alle die schönen Gefühle verloren, mit renen die Menschen sich aufputzen und die sie sich und Anderen anlügen", versetzte Klotilde voll Bitterkeit. „Dann bist Du wahrhaft zu beklagen" Die junge Künstlerin hatte sich erhoben, wie von einer Feder emporgeschnellt, und die nur halb auSgerauchte Cigarette achtlos auf den Tisch werfend, rief sie mit blitzen den Augen: „Ich bitte Dich. ValeSka, lasse mir gegenüber den lehr haften Ton fallen und merke Dir, daß ich nicht beklagt, nicht bedauert sein will. Die Welt mag über die verlassene, die verrathene Geliebte spotten — das ist ihr Recht: Wehe dem Besiegten! Aber ich bin zu stolz, um Mitleid — dies Almosen — anzunehmen." ',! „Du hast mich nicht verstanden", fiel ValeSka begütigend ein, „eS lag mir fern, eine Anspielung aus ein peinliches Geschehniß zu machen, welches auch mich tief betrübt. Ich meinte nur im Allgemeinen, daß jene Menschen zu bedauern eien, die aller Illusionen bar sind." Ein spöttisches Lächeln verzog dir rothen Lippen Klotilde'S. .Wie man» nimmt. Vielleicht ist eö dock vorzuzieben, klar zu sehen. Ich mindestens habe stet- die Offenbeit, wenn sie selbst bi« zur Rücksichtslosigkeit ging, jener conventionellen Lüge, die mit der Heuchelei nahe verwandt ist, vorgezoaen. So hätten viele in meiner Lage jetzt eine artige Rübrkomodie gespielt. Du, dir Schwester de« Geliebten, der mich betrogen, suchst die Verlassene auf, um sie zu trösten. Welch prächtige Gelegenheit z», Thränrnrrgüssen. Umarmungen und tausenderlei albernen Sentimentalitäten. Ick, die Dulderin mit dem ge brochenen Herzen. Du, die großmüthige Trösterin — ha ba! — ^)ch dagegen, zwar ohne Illusionen, aber mit gesundem I Menschenverstände begabt, sage mir: dieser plötzliche Besuch t einer Freundin, welche sich in Jahr und Tag keinen Deut I um Dich gekümmert hat, muß irgend etwas zu bedeuten I haben, will sagen: wird einem egoistischen Grunde entspringen
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