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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.07.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-07-19
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18950719029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895071902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895071902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-07
- Tag1895-07-19
- Monat1895-07
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Aus kleinstem Bürgerstande erwachsen, wurde er schon in frühester Jugend in die revolutionären Wirren seines Landes hineingezogen, und die formelle Bildung, die er zun, Theil in Rußland erhielt, war recht unbedeu tender Natur. Wie viele seiner Landsleute hat er sich aber aus sich selbst heraus weiter gebildet, nicht indem er sich zu einem ihm allgemein vorschwebenden Zwecke zum Autodidakten machte, sondern indem er dem ausgesprochen praktischen Zuge seiner Natur folgend an die Nothwendigkeiten der jedesmaligen Zeit anknüpfte und sich mit erstaunlichem Geschick in jede neue Lage hineinarbeitete. Seine politische Laufbahn war eine unglaublich schnelle. In den politischen Wirren bis zur Zeit des serbisch-russischen Krieges war er nur ganz wenig bervorgetreten. Als dieser Krieg auSbrach, war er eben zum Kaminerpräsidenten gewählt worden, aber er wurde nie unter den Männern genannt, die üi den ersten Stellungen standen. Sein Horizont ging damals noch nicht viel über das bulgarische Parteitreiben hinaus, und das Ausland war ihm, der außer Bulgarien nie etwas anderes als Rumänien und Rußland gesehen hatte, recht unbekannt. Er sprach ausschließlich bulgarisch, denn die paar Brocken französisch, über die er damals schon verfügte, kamen kaum in Betracht. Im AuSlande wußte man bis zum Jahre 1886 nichts von ihm und im Inlande verband man mit seinem Namen auch nicht viel mehr als die Vorstellung eines leidenschaft lichen und überaus wirkungsvollen VolkSredners. Er ge hörte auch nicht zu den Männern, die durch ihre Aeußerlich- teit von selbst in den Vordergrund traten. Kaum mittelgroß und unansehnlich, würde er zur Zeit seiner ersten politischen Anfänge in der Menge kaum ausgefallen sein, und erst wenn man längere Zeit mit ihm sprach, wurde nian auf das überaus lebhafte, zuweilen hart und streng blickende Auae aufmerksam. Obgleich er einen gewissen Wohlstand besaß, war seine Tracht koch einfach und unansehnlich, wie die aller seiner Landsleute, aber im Laufe weniger Jahre ging mit ihm eine ganz gewaltige Aenderung vor. Der Wellenschlag der Revolution, durch die Alexander Battenberg vertrieben wurde, brachte ihn mit Einem Schlage an die Spitze des Staates. Als Regent übte er eine fast diktatorische Gewalt auS und ebenso lange Jahre nachher als erster Minister des von ihm nach Bulgarien berufenen Prinzen Ferdinand von Coburg. Es war wunderbar anzusehen, mit welcher Schnelligkeit sich der zuerst etwas ungeleckte bulgarische Bär in die Anforderungen einer neuen Stellung und des ihm gänzlich ungewohnten diplo matischen Verkehrs hineinfand. Spielend überwand er auch die Schwierigkeit der französischen Sprache, und wenn er, der nie Zeit hatte, sich in das Studium der Grammatik zu versenke», sie auch schriftlich stet» nur mangelhaft beherrschte, so sprach er sie doch mit oft erstaunlichem Verständniß für sprachliche Sonderheiten. Auch äußerlich wuchs er sich aus, und wenn er auch nie das geworden ist, was man einen vollendeten Salonmenschen nennt, so konnte er doch in jeder Gesellschaft mit Würde und Anstand auftreten. Je weiter er in der Macht stieg, desto fester und selbstbewußter wurde sein Schritt und seine Haltung, und wenn ihn Jemand, der ihn nicht kannte, in größerer Gesellschaft traf» blieb er nicht lange darüber im Zweifel, wer unter den Anwesenden der mächtigste und gebietende war. Es steckte in ihm gewaltig viel von einer Herrennatur, die sich begreiflicherweise immer mehr ausbildete, nicht immer zu seinem eigenen und oft nicht zum Vortheil Anderer. Die Ecken und Zacken seines Charakters traten dann scharf hervor, sein durch die Erfolge getragenes Selbstgefühl machte sich in absprechender und oft eigen sinniger Weise geltend, und namentlich, wenn es sich um solche Personen handelte, mit denen er ein Hühnchen zu pflücken hatte, so war schlecht mit ihm auSzukommen und er verfiel oft in Ungerechtigkeiten. Wenig Leute können sich rühmen, auf ihn wirklichen Einfluß besessen zu haben. Er hörte jeden Rath, aber wenn dieser für ihn nicht überzeugend erschien, so that er nur das, was er wollte. Namentlich in der ersten Zeit seiner Regierung stand er manchen Verhältnissen noch sehr fremd gegenüber und war in Bezug auf sie auf die bessern Kenntnisse Andrer angewiesen, aber mit welcher Schnelligkeit vermochte er sich in den Gedankengang eines Andern zu versetzen und in Dingen heimisch zu werden, die ihm vorher ganz fremd gewesen waren I Mit seinem kalten, klaren Verstände durch drang er Alles. Er entschied sich nie schnell zu einer ent scheidenden That und war darin oft ein wahrer b'aliius eunetutor; aber wenn er einmal einen Entschluß gefaßt hatte, so führte er ihn auch aus, ohne sich durch was auch immer beirren zu lassen. Man hat ihn hart und grausam genannt, und cS ist wahr, daß seine Feinde gar oft seine erbarmungs lose Hand gefühlt haben. Handelte eS sich dabei um persön liche Differenzen, so ging er oft weiter, als daß wohlmeinende .Freunde ihm hätten folgen können, aber in politischen Dingen wurde er eigentlich immer erst hart unter dem zwingenden Druck der Verhältnisse und wenn ihm keine andere Wahl blieb. Manchmal waren in dieser Beziehung seine College» schärfer als er, dem es immer angenehm war, Schwierigkeiten hinauS- schiebend und diplomatisirend "zu erledigen. Das ging freilich nur bis zu einem Puncte. War dieser überschritten, dann schlug er drein, nöthigenfalls mit brutaler Gewalt. Sein Eigensinn in persönlichen Dingen verfeindete ihn mit Leuten, die er sehr gut hätte gebrauchen können und von denen ihn eigentlich keine sachlichen Meinungsverschiedenheiten trennten. So überwars er sich mit RadoSlamow und Nikolajew, die er sich sehr gut als Freunde hätte erhalten können. Das war der schwerste Fehler in seiner inner» Politik, ein Fehler, der sich auch bitter gerächt hat. Ganz anders wie als Staatsmann war Stambulvw als Mensch. So leidenschaftlich er die Politik liebte und betrieb, so liebte er es doch, sich von ihren Arbeiten auSzuspannen und in heiterer und ungezwungener Geselligkeit die ernsten Arbeiten des Tages zu vergessen. Er war einer der an genehmsten und «»teressantestrn Gesellschafter, die man sich denken kann, stets voll von munteren Geschichten und heitern Schnurren, oft lustig bis zur Ausgelassenheit, dabei besaß er die seltene Gabe, nicht nur selbst in anregendster Weise erzählen zu können, sondern auch interessanten Erzählungen Anderer mit demselben Vergnügen zuzuhoren, mit dem er seine eigenen vortrug. Nichts erinnerte dann mehr an den gefürchteten, allmächtigen Minister, nichts war aber auch vor seinem manchmal außerordentlich scharfen, zu meist aber bei solchen Unterhaltungen nicht bösartigen Spott« sicher. Monate lang konnte man Abends in seiner Gesellschaft sein, ohne auch nur einen Augenblick das Gefühl der Ermüdung zu spüren. Trocken ging es bei diesen Unter haltungen, die Stambnlow sehr liebte, niemals zu. Er liebte gut zu essen und gut zu trinken, und er schwang den Becher gleich einem alten Germanen. Auch auf ihn übte der Wein seine anregende, Geist und Zunge losende Wirkung aus, aber betrunken oder auch nur leicht angetrunken habe ich ihn nie gesehen, und alle Vorwürfe, die man dieserhalb gegen ihn richtete, sind vollständig grundlos. Richtiger war, daß er spielte, eine Eigenschaft, die er leider mit den meisten seiner Landsleute theilte, der er sich aber nur dann hingab, wenn er nicht in lustiger, anregender Unterhaltung Besseres finden konnte. Richtig ist ferner, daß er dem weiblichen Geschlecht nicht abgeneigt war und es gern zum Gegenstände der Unter haltung machte, auch daß er in seinem Leben manches galante Abenteuer bestanden hat. Nach seiner Berheirathung wurde es übrigens auch hierin anders. Aus dem ungezwungenen naturwüchsigen Naturell, so wie es hier geschildert ist, ergiebt sich ganz von selbst ein Gegensatz zu dem Fürsten Ferdinand, der auf Hof-Etikette und höfisches Benehmen den größten Werth legt. Hier lag vielleicht mehr als in sachlichen Gegensätzen der erste Grund zum Zerfall zwischen diesen beiden Männern. So wie sie beide waren, konnten sie sich nicht sympathisch sein. Stambnlow war als Minister unbequem und herrisch. Er schonte nicht die Empfindlichkeiten deS Fürsten und trat manchmal gegen ihn in einer Weise auf, die sich nicht entschuldigen ließ. Wäre die Natur der beiden Männer eine congenialere gewesen, so würde es auch nicht an Streitigkeiten gefehlt haben. Wahr scheinlich würden sie aber nicht die Schärfe angenommen haben, die zuletzt zum Bruche trieb. Sie waren innerlich nur insofern verwandt, als sie Beide eine stark aus geprägte Herrschsucht hatten, die naturgemäß bei ihrer Stellung auseinanderprallen mußt«. Sonst waren sie unähnlich, wie eS der selbstgemachte Mann aus dem Volke und der in den höchsten aristokratische» Anschauungen erzogene Prinz nur sein kann. Stambnlow, der kräftige BolkStribun mit demokratischen Ansichten und Allüren, Fürst Ferdinand, der ahnenstolze Abkömmling eines alten Geschlechts, der die Traditionen desselben auch in dem demo kratischen Milieu, in dem er lebte, nicht vergessen konnte. So ergab sich der Zwiespalt von selbst. Daß er so enden würde, wie eS jetzt geschehen, konnte man nicht vorcurssehe». Stambulow'S politische Rolle wäre noch lange nicht ansgespielt gewesen, denn trotz der Feindschaft, die jetzt zwischen ihm und dem Fürsten herrschte, war eS doch nicht ausgeschlossen, daß sie noch einmal zusammengegangen wären. Bei allen Fehlern Stambulow'S, die wir, schreibt die „Köln. Ztg.", nicht ableugnen wollen, war er doch im Herzen ein feuriger bulgarischer Patriot, und wenn in der Zeit der Noth der Ruf an ihn ergangen wäre, so würden wir ihn an der Seite deS Fürsten Ferdinand ge sund«» haben, trotz alledem und alledem. Heute haben die Mörder vom 15. Juli einen Feind deS Fürsten Ferdinand abgeschlachtet, vielleicht aber haben sie auch damit die Stütze vernichtet, die in schwierigen Zeiten stark genug gewesen wäre, den Thron des Fürsten zu halten. Ein todter Mann war er noch Nicht trotz seiner Amtsenthebung und der ans ihm lastenden Ungnade. Jetzt, da er wirklich todt ist, wird sich zeigen, ob mit seiner Beseitigung dem Fürsten nicht der allerschlechteste Dienst erwiesen worden ist. Politische Tagesschau. * Leipzig. 19. Juli. Angesichts deS frevelhaften Hetzens der socialdemokra- ti scheu Presse gegen den „Kätscher der Vmscr Depesche" haben wir schon wiederholt unserem Erstaunen darüber Aus druck gegeben, daß diese Hetzerei ungestraft betrieben werden Vars, obwohl sie nicht nur die Sicherheit des Reiches gefährdet, sondern auch das Andenken Kaiser Wil helms I. verunglimpft, dem indirect insinuirt wird, er habe eine Fälschung jener Depesche ruhig geschehen lassen und dadurch einen ungerechten Krieg gegen Frankreich entzündet. Dieses Erstaunen wächst, wenn man aus Kiel erfährt, daß dort der Journalist M. Andresen in Apenrade als Heraus qeber deS dänischen AlmanachS von 1895 wegen groben Unfug« zu fünf Wochen Haft und in die Kosten verurtheilt worden ist, weil er in einer Erzählung das Andenken Kaiser Wilhelm'« I. arg verunglimpft und dadurch das Gefühl der Deutschen beleidigt hatte. Eine gesetzliche Handbabe zur Be strafung von Verunglimpfungen deS Andenkens Kaiser Wilhelm's l. ist also vorbanden. Und noch mehr wächst das Erstaunen, wenn man sich erinnert, daß im Jahre 1876 Herr Liebknecht in zwei Instanzen zu 200 ^ Geldstrafe und in die Kosten rechtskräftig verurtheilt wurde, weil er Herrn vr. Hans Blum öffentlich vorgeworfen hatte, dieser habe in den damals von ihm redigirten „Grenzbvten" geschrieben, Fürst Bismarck habe die Einser Depesche gefälscht. Im Jahre 1876 durfte man also einem Anderen nicht nachsagen, er habe den Fürsten einer Fälschung geziehen. Heute aber darf Jeder, der es will, ungestraft aus sich heraus von einer solchen Fälschung reden. Warum? Ist seit 1876 eine Aenderung des Straf gesetzbuches eingetreten, welche es unmöglich machte, eine Aeußerung zu bestrafen, die man damals keinem Ankeren ungestraft m den Mund legen durfte? Wir wissen von einer solchen Aenderung nichts, und der Kieler Fall be weist, daß wenigstens die Verunglimpfung Kaiser Wilhelm'« I. nicht straflos gelassen zu werden braucht. Oder weil Fürst Bismarck nicht mehr im Amte ist? Aber es handelt sich gar nicht um den Altreichskanzler allein; es bandelt sich auch nm jenes Andenken, das dem ganzen deutschen Volke mit Aus nahme eines geringen Bruchtheiles heilig ist. Oder weil der Kläger fehlt? Warum fehlt er denn? Ist eS eine lumpige Privatangelegenheit, wenn durch jene hetzerische Be hauptung der erste Kaiser des wiedererstandenen Reiches im Grabe beschimpft und die französische Nation zur Revanche angestachelt wird? DaS glaubt nicht einmal der blödeste Nachläufer der socialdeniokratischen Apostel. Er weiß ganz genau, daß eS sich bei dem Vorwurfe der Fälschung der Emser Depesche um weit mehr als eine Privatange legenheit handelt. Warum fehlt also der Ankläger? Hat sich etwa seit dem Jahre 1876 in denjenigen Kreisen, auS denen der Ankläger kommen müßte, die Anschauung über dir redaktionelle Thatigkeit des Fürsten Bismarck an der Oriainaldepesche geändert, obgleich Graf Caprivi am 23. November 1892 im Reichstage seinen großen Vorgänger mit der größten Entschiedenheit gegen den Vorwurf einer Fälschung der Einser Depesche vertheidiat hat? Der „Vor wärts* und seine Hintermänner müssen dies glauben. Sollen sie es? Infolge der Thatsache, daß die Socialdeinokra t ie auch in rein katholischen Gegenden unter der Arbeiterbevölke- rung immer mehr und mehr an Boden gewonnen hat (die Bischofsstadt Mainz wird durch eine» socialdemokratischen, München durch zwei solche Abgeordnete im Reichstag ver treten), sind werkthätize katholische Männer, denen es mit dem Kampfe geaen den Umsturz ernster ist, als dem nicht selten mit den Umstürzlern paktirenden Centrum, unausgesetzt bestrebt gewesen, die katholischen Arbeitervereine iuimer mehr auSzubauen und zu Bollwerken gegen die anstürinende Socialdemokratie zu gestalten. Infolge dieser Bestrebungen haben die katholischen Arbeitervereine geradezu mustergiltige Institutionen erhalten; selbst Arbeitervereine in kleinen katho lischen Städten zählen viele Hunderte von Mitgliedern; fast überall haben dieselben VolksbureauS ins Leben gerufen, deren Tbätigkeit sich auf Steuer-, Grundbuch-, Vormundschafts-, Bau-, Erbschaft-- und Strafsachen, Kranken-, Unfall-, Alters- und JnvaliditätSversicherungSangelegenheiten, Einigungsversuche rc. erstreckt. Meistens haben diese katholischen Arbeitervereine auch wieder Untervereine fürsugenvlicheArbeiter gegründet; für Fairllletsn. ^ Das verlorene Paradies. Roman von Anton FretVerr von PersttN. Nächst»» verbeten. (Fortsetzung.) Franz lachte kurz auf und marschirte weiter. Ein kleines gelbes Sternchen tauchte auf, in blauem Dunst erstrahlend, unendlich ferne scheinbar. Franz beschleunigte seine Tritte, er fürchtete jetzt die Einsamkeit mit Kitty, deren Haupt sich jeden Augenblick auf seine Schulter legte, wenn eS galt, sich tiefer zu bücken. Der dumpfe Schlag rlNtr Hacke, bas Rascheln und Rieseln sich lösender Koblen wurde lackt. Der Gang WUkvr immer enger, dir Lnst immer dicker. Sir kamen „vor Ort", wie der Bergmann den Platz der Arbeit nennt. Ein bärtige« Mann lag seitwärts gebeugt in einer Höhlung deS Gesteins und löste in dieser Stellung Mit der Spitzhacke die Kohlen. Die Flamme deS Lämpchens, welches von de« Niebeten Wölbung berabhing, trieb ihr LIchlspiel ln den stammenden KvhleN- Wandungen der Höble. DaS war ein Märchen für Kitty, dieser lichterfülltt Aus schnitt inmitten der nächtlichen Umgebung. Ein wonniges Gefühl dnrchschaucrte sie, das sie au die Kinderstube erinnerte, und st« legte dir Hand ans die Schulter ihres Begleiters. „Sieh nur, Franz! Sieh nur!" lispelte sie und ihre Lippen streiften sein Ohr. Er ergriff schweigend ihre Hand. So stäitden sie lange, bis der Arbeiter sich etwas erhbv. Die nackte ruß- und schweißbedcckte Brust glänzte. Et tvischte sich »nt dem RÜSeft der Hand die triefend« Stirn. Dieser Anblick Weckte Kitty auS ihrem Traume vom ver wunschene» Schloß, hem sie sich erlösend nahte mit ihrem Ritter — da Wat Nichts als rauhe Wirklichkeit. Mit gespannter Neugierde betrachtete sie die jetzt wieder zusammengrkauerte Gestalt, wie etwas Unbegreifliches, Fabel haftes! „Glück auf!" rief Franz. Der Mann sah erstäüin attf und erwiderte den Gruß „WaS wollt Ihr denn da?" Er hielt sie offenbar für Arbeiter. Kitty war jetzt stolz darauf und drückte die Kappe weit in das Gesicht. „Wir haben uns vergangen. Wo kommt man denn da auf Strecke 16?'' fragte Franz. Der Mann gab die Richtung an. „Rasten wir ein wenig", meinte Kitty. Der Mann betrachtete sich bei dem Weichen Ton der Stimme die Ankömmlinge Naher. „Ah so, ihr gehört zu den Herrschaften? Haben gerade nach Euch gefragt." Dabei schob er diensteifrig das Gestein zurecht, zu einem bequemen Sitz. „Das Fräulein Gräfin, Nicht wahr? DaS ist schön, daß Sie sich auch einmal tu uns herunter trauen. Ist gar nicht so übel da, was? EM Schluck Schnaps gefällig?" Dabei bot er die irdene Flasche. Kitty setzte sie muthig an die Lippen, um keinen Preis hätte sie den Mann kränken wollen. DaS häßliche Getränk trieb ihr das Wasser ln die Augen, verzerrte ihre Züge, trotz aller Kraftanstrengung, diese Wirkung zu verbergen. Franz fragte Nach dem Verdienst. — „Drei Mark täglich, im Durchschnitt!" — Nach der Familie. — „Eine Frau mit sechs Kindern." Der Mann faßte Zutrauen zu Franz, als er erfuhr, daß er «inen Bergmann vor sich habe, und wurde in seiner schwer fälligen Weise gesprächig. Er deckte sein ganzes dürftiges Leben ans» Freud und Leid. Wie seine Frau vor welligen Monaten erkrankte und daS älteste, ein Mädchen von zwölf Jahren, das ganze Haus wesen führte. Er mußte seine schöne Wohnung mit zwei ZiinmerN aufgeben und hat sich mit einem beholfen, um die KräNkheitSköstrn zu decken. DaS kleinste war vor einigen Wochen gestorben, Es hat aliSaesehen wie ein Prinz» so zart. >>nd hat die grobe Kost nicht auSgehalten und den ständigen Wasser- dampf in der Stube. Und der Kaffee ist wieder auiqeschlagen um zehn Pfennig und wird immer schlechter, ljinr Neue FanliliS ist eingezogen im Hause, auS Böhmen» die alles dyrchkinäftder bringt. Der Mann immer besoffen, die Frack ein Zänkeisen, und waS di« Kinder da Alle- zu sehen und zu horeii bekommen. Aber sonst sei iS schon zum Leben, wenn nur daheim wieder Alles gesund ist und ihm kein Unglück zustvßj» wie seinem Zimmernachbar vor etliche» Tagen, den sie mit zerschlagenen Füßen nach Hause brachten zu seiner Frau und drei kleinen Kinderm Kitty horchte gespannt den schlickten Worten des MäNneS Sie tvagtd keine Zwischcnfrage. Unsagbares Grauen packte sie vor den Bildern, mit denen er dir enge Höhle füllte, dann wieder stumme Bewunderung der Gelassenheit, mit der er sein Schicksal trug. Sie übersah in ihrer Unerfahrenheit den falschen Maß stab, den sie anlegte. — Als er den Unfall seine- Kameraden schilderte, da war es ihr, als ob sich die Höhle mit seinem Blut füllte, das für sie vergossen ward für ihre tausenderlei Bedürfnisse, ihre Freuden und Vergnügungen. Und nicht einmal gesprochen wurde in ihrem Hause von dein unglücklichen Mann und seinen darbenven Kindern. DaS trieb ihr die Echamröthe in das Gesicht. Nie mehr wird sie froh und frei genießen können, immer wird sie der Qual denken müssen, aus der ihr Neichthum quillt, dieses auf dem Rücken liegenden Mannes in dem Kohlenloch, des verstümmelten Unglücklichen. — Sie faßte die besten Vorsätze, wie sir Glück und Freude bringen wollte in diese finstere Welt, die sie jetzt mehr haßte und verabscheute denn je. Gleich jetzt wollte sie damit beginn«». Sie durchsuchte di« Taschen, aber sie waren leer, ihre Börse war im Reit kleide geblieben. Franz rrrieth ihre Absicht und drückte, sich erhebend, dem Arbeiter ein Geldstück in die Hand. „Für den Schnaps", fügte er, das Ehrgefühl der Leute wohl kennend, hinzu. Die DaukeSworte des Mannes waren für Kitty nur der Vorgeschmack eines neuen, köstlichen Sportes, dem sie irden andern opfern wollte in ihrer schnell aufschäumenden Leidenschaftlichkeit. Franz schlug den angewiesenen Weg rin. Kitty athmete erleichtert auf, als sie sich mit ihm allein sah. „Weiß denn Mein Papa, wie es da herunter auSsieht? Wie diese Männer sich quälen müssen?" fragte sie. „Natürlich weiß er es." „Aber er ist doch sonst so gut, so herzlich, wie kann rr das lulassen? DaS verstehe ich nicht." „Soll er diese Schätze ruhen lassen? DaS wäre ja noch schlimmer. Sie bilden ja neue Werthe. von denen wieder Tausende sich nähren. Das ist das Gesetz der Arbeit» Unter dem die ganze Menschheit steht, ohne daS sie ju Grunde gehen müßte." „Außer UN«, den Reichen, den Glückliche«, wir stehen natürlich nicht darunter", entgegnet« Kitty. „Ebenso, Kitty! Ebensvl Ihren Besitz für daS Gemein wohl so nutzbringend Zu verwenden wie Möglich, bas heißt, durch ihn möglichst viel Arbeit und zwar lohnende Arbeit zu schaffe,^ nicht ihn als willkürliche- Machtmittel zu betrachten im thorichten Kampfe gegen die Arbeit, — das ist das Arbeitsgesetz der Reichen, das sie auch ungestraft nie verletzen." „Das kann ich nicht verstehen, aber eines kann ich, wenn ich einmal der Herr bin, die Ställe leeren, die unnützen Diener alle entlassen, alles Entbehrliche verkaufen und mit den armen Leute» theilen. O, das müßte ein Vergnügen sein, wie ich noch keinS genossen l" „Das wäre ebenso thöricht wie nutzlos", entgegnet« Franz. „Du kannst Deine Pferde behalten und Deine Dienerschaft und alles Schöne, was Du besitzen wirst, und trotzdem ein Engel sein für Deine Arbeiter. Gerade Du als Frau!" „O, wie daS, Franz, wie daS? Lehre mich das!" „DaS brauche ich Dich nicht zu lehren, Kitty, Dein gutes Herz wird daS schon besorgen." „Nein, Franz, von Dir will ich eS wissen." Sie standen plötzlich vor einer mannshohen Oessnttiig, welche in ihrer Verzückung einem gvthischen Fenster glich. Die Kohle bildete hier eine mächtige Schicht und wurde terrassenförmig abgebaut. Man blickte in eine scheinbar un ermeßliche Tiefe, in welcher die Grubenlichter der Arbeiter wie Irrlichter umhertauzten, wahrend diese selbst in dem bläulichen Kohlennebel wie riesige Schatten in grotesker Be wegung sich auSnahlnen. DaS Raffeln der von Terrasse zu Terrasse geschütteten Kohle, der dumpfe Hackenschlag und das Stampfen einer irgendwo ausgestellten Maschine zu Ven- tilativns oder WasserbeförderungSzwccken vermischte sich zu einer charakteristischen Arbeitssymphonie. Kitty blieb lange versunken in den eigenartigen Anblick. Sie setzte sich auf die Kante des natürlichen Fensters, von welchem eine Leiter nach abwärts führte, Und hielt sich an Franz fest. „Sprich, Franz, hier wird «S sich für immer in meine Seele graben! WaS kann ick thun für diese Armen? Wie ihr LöoS verbessern? Wenn Du selbst sagst, diese Arbeit hier NNte» muß geschehen?" „Ja, die Muß geschehen? Unv hier nnken kannst Du. brauchst Du nichts zu ändern, Kitty. - Auch ist diese Arbeit kein Unglück, keine Qual, wie häßlich und hart sie Dip auch scheinen mag. Oben wäre Dein Feld, in der Familie deS Arbeiters. Da ist für ihn oft die Hölle. Schaffe ihm rin menschenwürdiges Heim, in dem seln Körper, sei» Geist ErhvluNg find«, in dem kr sich als Mensch fühlt und athmei, Nicht als Thier, daS nur Nnterkriecht, uM sich vyti dzr Unbill der Witterung zu schützen. — Sorg« fÜk die Erziehung der Kinder, sei selbst die Lehrerin der Franc». Betrachte alle
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