Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.08.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-08-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18950806029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895080602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895080602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-08
- Tag1895-08-06
- Monat1895-08
- Jahr1895
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
BezugS'PreiS I, h« Hauptexpedittou oder de» im Stadt« bezirk >md de» Bororten errichteten Aut» gabrstellen abgeholt: v>erteljährlick^>4.50. bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Haus ^tl bLO. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: viertel,Shrlich 6.—. Direkte tägliche Areuzbandsruduug ins Ausland: monatlich ?.ö0 DieMorgen-Ausgab» erscheint täglich mit Ans« nahm« n«ch Sonn, und Festtagen '/,? Uhr, dir Abend»A«sgabe Wochentags b Uhr. Lrdaltion »nL LrpeLitio«: Aohannesgafsr 8. Dir Expedition ist Wochentag« »nunterbroche» geöffnet von früh 8 bi« Abends 7 Uhr. Filialen: vtt» Ile««'« Sortim. (Alfred Ha-tt). Universitätsstraße l, Laut« Lösche. Katharinenstr. 14, Part, und KSnia-pla- 7. Abend-Ausgabe. WMrIagMM Anzeiger. Drgan für Politik, Localgeschichte, Handels- nnd Geschäftsverkehr. dke 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. «rclame» unter dem Nedactionsstrich (4av- spalten) bO^t, vor den Aamilieunachrichton alte») 40/4- Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichuisj Tabellarischer und Zifferasatz nach höherem Tarif. Ertra-Veilagen (gefalzt), »nr mit der Morgen.Ausgabe, ohne Vostbefördenvng 60.—, mlt Postbesörderuug 70.- >. LnnahMschlni snr Anzeigen: (nur Wochentag«) Abend»Ausgabe: Vormittags 10 Mr. Morgen»Ausgabe: Nachmittag» 4 Ul,r. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein, halbe Stunde früher. Anzeige» sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz kn Leipzig. ^- 377. Dienstag den 6. August 1895. 8S. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig. 6. August. Der Besuch, den am Sonntag der österreichisch-ungarische gemeinsame Minister des Auswärtigen, Graf Goluchowskt, dem deutschen Reichskanzler Fürsten Hohenlohe in Alt-Anssee abgestattet hat, scheint, nachdem er wirklich stattgcfunden, noch mehr Staub aufwirbeln zu wollen, als nach seiner ersten Ankündigung und der dann erfolgten Verschiebung. Und zwar Staub im eigentlichen Sinne des Wortes. Da wird den „Münch. N. Nachr." von einem Berichterstatter, der zu seiner Mittheilung „nach Einsicht gewechselter Depeschen" be sonders autorisirt zu sein behauptet, berichtet, die beiden Staats männer hätten sich sehr heiter über die anläßlich der ersten Verfehlung gezeitigten „sauren Gurken" und über die bulga rische und die makedonische Angelegenheit unterhalten und seren in allen Fragen zu einer vollständigen Ueberein- stimmung gekommen. Prinz Ferdinand habe angezeigt, daß er nach Sofia zurückkehre, und aus Makedonien hätten beiden Staatsmännern beruhigende Nachrichten Vorgelegen. Nach einem Gewährsmann der „N. Fr. Presse" ist dagegen die Zusammenkunft wesentlich anders verlaufen. Dieser Ge währsmann giebt sich zwar nicht den Anschein, als seien ihm Depeschen vorgelegt und andere vertrauliche Mittheilungen gemacht worden, aber er bat gesehen, daß der Fürst und der Graf „sehr gemessenen Ab schied" von einander nahmen. Nach seiner Beobachtung kann also die heitere Saure-Gurken-Stimmung nicht lange vorgehalten haben und die Uebereinstimmung keine tiefgehende gewesen sein. Der kluge Herr liefert aber zugleich eine scharfe Charakteristik seiner Beobachtungs- und CombinationSgabe, indem er nickt nur den Grafen Goluchowski und den deutschen Botschafter Grafen Eulenburg von Alt-Aussee nach Ischl zur Begrüßung deS rumänischen Königspaares reisen läßt, sondern auch den Fürsten Hohenlohe. Und daran knüpft er folgende tiefsinnig-hochpolitische Betrachtung: „In der Anwesenheit Hohenlohe's und Eulenburg's beim Empfange des Königs Carol dürfe man auch, wie uns bedeutet wird, einen Bruch mit der Bismarck'schen Tradition sehen, daß die orientalische Frage Deutschland gleichgiltig sei. Rumänien, das während des letzten russisch.türkischen Krieges sich an Rußlands Seite hervorragend bethätigte, würde bei einer etwaigen zukünftigen Verwickelung be- rufen sein, die Donau gegen Rußland abzusperren, denn Rumänien habe zu diesem Zwecke bereits eine Reihe von sehr starken Befestigungen errichtet. Daß die rumänische Armer nach dem Vorbild der deutschen Armee, deren Mitglied König Carol in jungen Jahren gewesen, organisirt sei, erhöhe bas deutsche I» teresse an einem Heere, das die letzten Spuren seines halborienta tischen Charakters abgestreift habe. Rumänien, hört man sagen, soll im Kriegsfälle ein gegen Rußland vorgeschobener Riegel sein." Nun ist aber Fürst Hohenlohe gar nicht nach Ischl gefahren! Und wenn er es wirklich noch thut, so bleibt bei den Festlichkeiten, die dort zu Ehren des rumäni schen Königspaares stattfinden, gar keine Zeit zu eingehenden politischen Erörterungen und Abmachungen. Es ist über haupt eine nicht nur kindliche, sondern geradezu kindische An nähme, daß bei so flüchtigen Reisebegegnungen von Monarchen und Staatsmännern über wichtige politische Fragen entschieden zu werden pflege oder entschieden werden könne, und eS ist kaum begreiflich, wie die Redactioncn großer Blätter Tele gramme von „Gewährsmännern", die so kindische Auf fassungen bekunden, als ernsthaft zu nehmende Mit theilungen behandeln können. Wir erwähnen die „Ent hüllung" des Gewährsmannes der „N. Fr. Pr." über die Begegnung und die Verhandlungen in Ischl auch nur des halb, um zu zeigen, was auf die Beobachtung dieses Herrn über den „gemessenen Abschied" in Alt-Aussee zu geben ist. Biel mehr wird freilich auch nicht auf die Versicherungen deS Gewährsmannes der „Münch. N. Nachr." zu geben sein Er ist nickt Zeuge der Unterredung des Fürsten Hohenlohe mit dem Grafen Goluchowski gewesen und es ist nicht Ge pflogenheit der Diplomatie, das Resultat ihrer Unterredung brühwarm einem Interviewer zu präsentiren. UebrigenS kann eS sich bei dieser Unterredung auch gar nicht um hochwichtige Angelegenheiten gebandelt haben, sonst würde Gras Eulen burg. der de» Reichskanzler besucht hatte, nicht vor der An kunft deS Grafen Goluchowski abgereist sein. Gerade diese Abreise beweist, daß die deutsche Diplomatie die Aufgabe, die Entwickelung der Dinge auf der Balkanhalbinsel zu beobachten und so gut es geht zu lenken, vertrauensvoll der zunächst interessirten Diplomatie des Donanreiches über läßt. Fürst Hohenlohe wird das dem Grasen Goluchowski auch mündlich erklärt und nach dieser Erklärung um so weniger das Bediirfniß empfunden haben, den österleiästsch-ungariscben Minister deS Aeußeren nach Ischl zu begleiten, wo Graf Eulenburg als deutscher Botschafter genügt, um den rumä nischen Gästen des Kaisers Franz Josef die Honneurs im Namen des deutschen Kaisers zu machen. Aus dem ganzen Staubgewölk schält sich also ein sehr einfacher Kern heraus, der nicht den geringsten Anlaß zu irgend einer Aufregung bietet. In demselben Maße, in dem im socialdemokratischen Lager der Streit um das Agrarprogramm sich erhitzt, erhitzt sich auch in den Reiben des CentrumS der Zwist über die Stellung zur Agrarfrage und über die vom Grafen Strachwitz empfohlene Beseitigung derjenigen ultramontanen Vertreter ländlicher oder überwiegend ländlicher Wahlkreise, die für den russischen Handelsvertrag gestimmt haben. Die „Köln. Bolksztg." tritt immer entschiedener und heftiger den jenigen Organen der eigenen Partei entgegen, welche die Ausmerzung der an der Annahme deS russischen HandelSver trags betheiligten CentrumSabgeordneten verlangen, und erklärt rund heraus: „Die Centrnmspartei und di« Centrnmspresse können dem nicht gleichgiltig und unthätig zusehen; das hieße sich selbst aufgeben. Wir haben auch die feste Ueberzeugung, daß cs an der nachdrücklichen Zurückweisung von Be« strebungen, wie sie hier gekennzeichnet worden sind, rm gegebenen Augenblick nicht fehlen wird. Wollte man wirklich den Versuch machen, den Frhrn. v. Buol, den voin allgemeinen Ansehen ge> tragenrn Präsidenten des Reichstages, aus seinem bisherigen Wahl, kreise ausznweisen, blos weil er nicht gegen den russischen Handels vertrag gestimmt hat, oder etwa den Abg. Hitze, den hervorragendsten und verdientesten Socialpolitiker der Centrumsfraction, wegen dieser einen Abstimmung bei Seite zu schieben — da würde sich zeigen, wie die Bevölkerung auch der ländlichen Kreise über eine solche Politik denkt. Man soll aber nicht bis zu den allgemeinen Wahlen warten, um derartigen Unterw ühlungs-Ver suchen entacgenzutreten; auf Schritt und Tritt, wo immer dieselben sich bervorwagen, muß es geschehen." Nicht minder entschieden erklärt dagegen die gleichfalls in Köln erscheinende klerikal-agrarische „Rhein. Volksstimme": „Die ländlichen Wähler werden ihre Candidaten, insbesondere die damaligen Freunde des russischen Handelsvertrages (zur Zeit des österreichischen Vertrages war die Lage noch unklar und die Ersabrung fehlte), recht genau examiniren über ihre Stellung zur Wirthschaftspolitik und zur Agrarfrage überhaupt; sie werden die Verdienste des älteren Abgeordneten in anderen Fragen und für das Centrum überhaupt gewiß in die Waagschale werfen; daß aber einzelne Herren, welche fortdauernd auf dem Standpunkte der Handelsvertragspolitik stehen und für die ländlichen Verhältnisse wenig Verständnis) zeigen, von den ländlichen Wählern sofort fallen gelassen werden, halten wir für ebenso wahrscheinlich als wünschenswerth. Es handelt sich hier einfach uin das Verfassung?- mäßige Recht der Wähler; sie werden sich dasselbe durch die „Köln. Bolkszeitung" nicht verkümmern lassen. Die förmliche und muth» willige Kriegserklärung an unsere Adresse läßt uns kühl." Und die „Schles. Bolksztg", das Organ des unlängst reorganisirten schlesischen CentrumS, wendet sich gegen die „Köln. Bolksztg." in einer offenbar von der Parteileitung inspirirten Auslassung, in der es heißt: „Der Kern der Rede des Grafen Strachwitz war der Satz: Ich werde bet den nächsten ReichstagSwahten für einen Centrums. Abgeordnete» stimmen, aber für einen solchen, welcher sich gegen den österreichischen und russischen Handelsvertrag erklärt. — Wenn dieser Satz mit den Grundsätzen der Centrnmspartei nicht mehr vereinbar sein sollte, so würde dies die Auflösung der lartei bei den nächsten Wahlen bedeuten. Je mehr die kirchlichen ,ragen in den Hintergrund treten, die wirthlchastlichen und rein politischen in den Vordergrund, desto mehr sollte man sich doch gewöhnen, bezüglich der letzteren Jeden nach seiner Fa,;»» verfahren zu taffen. Die Centrnmspartei auch politisch und wcrthichastlich zu „einigen", dazu hat es doch an vergeblichen Krattanstrengungc» vor zwei Jahren gewiß nicht gefehlt. Hat man ipeciell am Rheine Lust, diese Sisyvhus-Arbeit noch fortzpsetzen, so hätte man Material genng von Coblenz bis Cleve, von Trier bis Aachen. Köln und Bonn nicht zu vergessen; in Schlesien brauchen wir keine Rath- gebcr, die unsere Lage nur aus der Landkarte und dem kleinen Daniel kennen." Dieser erbitterte Streit ist jedenfalls eine merkwürdige Einleitung zu dem Münchener Katholikentage, von dem im Voraus mit großer Bestimmtheit erklärt worden war, eS werde dort Alles ruhig und friedlich verlaufen. Platzen dort die Gegensätze ebenso scharf auf einander, wie in den citirten Blättern, so wird die gepriesene Einigkeit auf noch härtere Probe gestellt werden, als die der Social demokratie auf dem Breslauer Parteitage. Die meisten der socialistischen Parteiführer, die jetzt Opposition gegen das Agrarprogramm macken, werden aus der Parteikrippe gefüttert und lasten sich deshalb leicht mundtodt machen. Das Centrum verfügt über solche „Einigungsinittel" nicht, und wenn ein schlesisches ultramontanes Blatt erklärt, die kirchlichen Fragen träten in den Hintergrund, so drokt sogar das festeste der Bänder zu zerreißen, welche den „Thurm" des CentrumS vor dem Bersten bewahrten. In einem Begrüßungsartikel für den deutschen Kaiser bei seinem Besuch in (kuglauS versichert der „Standard", daß jedes englische Ministerium gute Beziehungen zu Deutsch land unterhalten müsse, da ihre Hauptinteressen iden tisch seien. England sei Deutschland gegenüber voll kommen aufrichtig, und sein Wohlwollen habe für Deutschland mehr Werth, als jeder momentane Ersvlg, den letzteres durch Kokettiren mit Frankreich und Ruß land davoutrage; deshalb sollten Deutschland und England die großen und kleinen Fragen mit voller Offenheit behan deln. — Wir hatten schon s.Zt., als dieLondoner Presse anläßlich des letzten Besuches des Prinzen von Wales in Petersburg wahre Iubelhumnen über die englisch-russische Entente anstimmte, voraus^esagt, daß die Ernüchterung sehr bald Nachfolgen und daß England dann, als ob nichts geschehen sei, den guten deutschen Vetter wieder unter den Arm nehmen werde. Die Ernüchterung kam im Verlauf deS ostasiatischen Krieges, der England in schroffen Gegensatz zu Rußland brachte. Nun ist Deutschland wieder gut genug für die englische Freund schaft. Immerhin muß man in Rücksicht ziehen, daß die Hand, welche unS im „Standard" dargeboten wird, nicht die eines Rvsebery, sondern eines Salisbury ist. Bon diesem weiß man, daß er stets bemüht gewesen ist, mit Deutschland so viel wie möglich Hand in Hand zu gehen und man darf wohl auch jetzt sich des Gleichen versehen. Aber ungemein komisch macht es sich doch, den Vorwurf des Kokettirens mit Ruß land in einen! — englischen Blatte zu lesen. In diesem Zu sammenhangs ist von besonderem Interesse, was liberale Blätter anläßlich der bevorstehenden Abdankung Sir Edward Malets, de- englischen Botschafters in Berlin, über das Ver- hältniß SaliSbury's zu Deutschland sagen. So schreiben die „Daily News", jedenfalls könne man dem neuen Premier minister nickt den Vorwurf machen, gegen die deutschen Gefühle gleichgiltig zu sein. Nur einen einzigen Fehler habe er in dieser Beziehung begangen, indem er, als er den Conzovertrag mit dem Könige von Belgien abschloß, Deutschland nicht zuvor befragte. Anderseits habe er sich, bei der Berthrilung Afrikas vor 4 Jahren Deutschland näher augeschloffen, als irgend welcher andern Macht; und sei, in ähnlichem Geiste, bei der Abtretung von Helgoland vor gegangen. Die Liberalen hätten gewiß dagegen keinen Ein spruch zu erheben, daß er die freundschaftlichsten Beziehungen »u Deutschland unterhalte; sie setzen sich nur exclusiven Bündnissen entgegen. Thatsache sei, daß Lord Salisbury ich der Freundschaft Deutschlands beflisse, weil die Besetzung Egyptens durch England Frankreich immerdar ein Dorn in der Seite gewesen. Seit 1879 habe sich die deutsche Regierung nicht in egyptische Angelegenheiten gemischt; Graf Caprivi habe sich England mehr zugeneigt, als Bismarck, und Fürst Hohenlohe folge der Politik seines BorgängerS; der Kaiser aber sei sein eigner auswärtiger Minister, und habe sich in dieser Eigenschaft ausgezeichnet bewährt. Aehnlich spricht sich der „Daily Graphic" aus, der noch hervorhebt, daß die zwischen England und Deutschland bestehende Freund schaft solider und bezeichnender Natur sei. — Vor einem kalben Jahre noch konnte man einer solchen Sprache in eng lischen Blättern nicht begegnen, namentlich nicht in solchen regierungsliberaler Richtung. Der letzte Sonntag hat die Nachricht von zwei Attentaten gebracht, welche als eine neue ernste Mahnung an die Ge fahren zu betrachten sind, welche unserer Gesellschaftsordnung von der social-revolutionairen Bewegung her drohen, mag man dieselbe nun Anarchismus oder Propaganda der That oder sonstwie nennen. In Ungarn ist an demselben Tage ein Fabrikdircctor bei Gelegenheit eines Streiks der Glasarbeiter von Niskolcz bestialisch ermordet im Walde aufgefunden worden, und in Aniche bei Douai in Frankreich ist der Direktor der dortigen Kohlengruben, Vuillemin, ein verdienter Greis, der sich vom einfachen Arbeiter heralifgearbeitet hatte, der Gegenstand eines Revolver- und Bombenattentates in dem Augenblick gewesen, als er in einem Festzug aus der Kirche trat. Zum Glück ging nur der Attentäter auf schauerliche Weise zu Grunde, während Aussicht ist, das Leben des Direktors zu retten. Bei der Niökolczer Untbat unterliegt eS keinem Zweifel, daß sie ein socialer Mord ist, sie steht in engstem Zusammenhang mit dem dortigen Streik. Ebenso spricht Vieles dafür, daß in Anicke die gleichen Motive dem Verbrechen des Mord gesellen Decoux zu Grunde gelegen haben, und der ofsiciöse „TempS" meldete bereits, daß man es wahrscheinlich mit einem anarchistischen Attentat, hinter welchem nicht nur Decoux stehe, zu tbun habe. Heute wird unS zwar berichtet, die amtliche Untersuchung scheine zu ergeben, daß der Attentäter nickt Anarchist gewesen sei, daß es sich vielmehr um einen Act persönlicher Rache handle. Aber wodurch war dieser scheuß liche Nacheact veranlaßt? Nicht etwa dadurch, daß Decoux gegen den Direktor Vuillemin als Privatmann Ursache zum Haß gehabt hätte, er haßte und verfolgte ihn, weil der Direktor, sonst ein milder, humaner Vorgesetzter, gegen die socialistischen und anarchistischen Elemente der Arbeiterschaft mit unerbittlicher Strenge vorzugehen pflegte und weil er Decour, der im Jahre 1893 bei einem Streik aus den Kohlengruben zu den ärgsten Hetzern gehört, seiner Zeit entlassen hatte. So haben offenbar persönliche Rachsucht und socialer Haß an der Bombe gearbeitet, durch welche Decoux nicht bloS den Director Vuillemin, sondern auch die um ihn stehenden Aussichtsräthe zu treffen hoffte. In der Tasche des Attentäters fand man eine Nummer des „Jntransigeant". Bezeichnend für die moralische Ver fassung des Schurken ist der Umstand, daß sein Vater nnd seine Brüder in nächster Nähe von Vuillemin standen, und daß er dies wußte, als er dieRevolverschüsse auf dieGruppe abgab und die Bombe warf. Sehr ernst faßt der „Figaro" das Attentat ans; er fürchtet, daß die Reihe der anarchistischen Verbrechen wieder beginne, und mahnt die Polizei zu schärfster Wachsamkeit. DaS Norddepartement, welches den Schauplatz deS neuesten FrrriHetsir» ^ Das verlorene Paradies. Roman von Anton Freiherr von Perfall. Nachdruck vtrdoten. (Fortsetzung.) Wo der Weg vor Vals in die Straße einbog, kam Franz geritten. Vergebens rief Kitty ihrer Cousine zu, diese war im Nu hinter einer Baumgruppe verschwunden, nnd Franz hielt vor ihr. „Warum so erregt, Kitty — und Arabella förmlich flüchtig? Ich glaube gar, Ibr habt Euch gezankt?" „Haben wir auchl" erwiderte Kitty mit fliegendem Athem, „und zwar über Dichl Ueber Deine Stellung in Schwarz» acker. Da Du gerade dazugekommen, ist eS vielleicht bester, wir sprechen uns aus!" ,Mittel Obwohl ich nicht recht begreife, wa- Du damit zu thun hast." „Arabella behauptet, daß Du nur für mich Dich so an strengst, Dich sorgst Tag und Nacht. Offen gesagt — das möchte ich nicht.. „Da behauptet Arabella einfach einen Unsinn." „Ich strenge mich nicht mehr an, als mein Beruf und die große Verantwortung, die auf mir ruht, erfordert. Ich thue daS für Niemand, sondern für mich selbst, weil ich meine Befriedigung darin finde." „DaS dachte ich auch — und doch dachte ich wieder — Du möchtest vielleicht auS alter Freundschaft — auS be sonderer Rücksicht darauf zu viel tbun ..." „Und einst einen besonderen Dank verlangen", ergänzte Franz. „Sei außer Sorge, Kitty!" „Franz!" — Kitty bereute schon lange, den Gegenstand berührt zu haben. „Oder auf einen Erfolg pochend, schwer anzubringen sein, wenn eS einmal so weit ist.. „Franz!" — Immer flehender klang die Stimme Kitty'«. „Oder mich gar thörichten Vergeltungsträumen hin get«»..^ „Franz, — Du rächst Dich zu hart für ein paar unbedachte Worte. . ." „Sehr weise Worte, Kitty, die mir zeigen, daß Du auS Deiner Phantasiewelt wieder zurückgekehrt bist in die reale praktische. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Darum laß uns einen Pact schließen. Der Name Prechting soll Dir keine böse Stunde mehr bereiten." Kitty beugte das Haupt auf die „Wildrose" herab. „Nur zul Ick habe es reichlich verdient . . ." „Sobald eS soweit ist — Du verstehst mich ja —" fuhr Franz unbarmherzig fort, „trete ich freiwillig, ohne nur eine Willensäußerung abzuwarten, vom Amt zurück. Bis dahin bindet mich mehr noch als mein Wort die treue Freundschaft und die Liebe zu Deinem Vater." „Zu meinem Vater! DaS sagte ich Arabella auch", be merkte Kitty, schwermüthig mit dem Kopf nickend. „Und zu noch etwas", setzte Franz hinzu, — „zu Schwarz acker I ES knüpfen sich die heiligsten Erinnerungen daran." Langes Schweigen. Kitty sah nicht auf, die beiden Pferde kosten sich. „Wenn man einen Pact schließt, reicht man sich die Hand, Cousine." Franz streckte die Hand aus. Kitty ergriff sie: in ihren Angen blinkten Thränen. Er sah länger hinein, als für den Augenblick angemessen war. Die Hände preßten sich, als gelte es einen gani andern Pact. Beide fühlten, daß das gleiche erlösende Wort auf ihren Lippen schwebte, und dock drückten beide leise die Weichen ihrer Pferde und sprengten nach verschiedenen Richtungen davon, ohne sich umzuseben. Am Fuße des Schloßberges mußte Kitty anhalten. der Athem versagte ihr. Der Sonnenball senkte sich im Westen, hinter bläulichem, auf dem Horizont lagernden Regenaewölk, Purpnrglutben hinansschleudernd in die weite Landschaft, über Feld und Wald. Kitty konnte lange den Blick nicht wenden davon. „DaS verlorene Paradies" — gerade so I Ein schwarzer Reiter sprengte jetzt mitten hindurch, in wilder Hast, durch die dampfende Lobe. Dann verschlang ibn da« Schachtwerk von Schwarzacker, daS finster drohend de» glühenden Eonnenball durchschnitt. Kitty traf den Vater in auffallend trüber Stimmung. »Du mußt Franz begegnet sein?" sagte er. Kitty bejahte die Frage kurz. „Der brave Junge arbeitet sich ganz auf für daS Werk." „Ja er ist mit Leib und Seele Bergmann", erwiderte aus weichend Kitty. Der Graf war sichtlich ärgerlich darüber. Mit Leib und Seele Bergmann! Deshalb ruinirt man noch nicht seine Ge sundheit, wenn man nicht warmes persönliches Interesse hat an der Sache. „Er sab vortrefflich aus, Papa." „Nun, so sieh ihn Dir einmal morgen an! So eine ganze Nacht im Grubenwasser . . ." ^Diese Nacht? Ja, ist denn das nothwendig?" — Kitty'S Tbeilnahme schien langsam rege zu werden. „Nothwendig! Das ist es eben! Für den ersten besten Bergmann der mit Leib und Seele beim Fach, ist es nicht nothwendig, aber für Franz ist es nothwendig, der an Schwarz acker bängt, als ob ein Schatz für ihn dort vergraben wäre. Die Unterwasser machen bösen Rumor seit der Verbindung der Gruben. Dem will er einmal gründlich ein Ende macken." „DaS kann Wohl auch gefährlich werden?" fragte Kitty. „Sehr gefährlich sogar! Ich warnte ihn auch, ich bat ihn, aber da hilft ja nichts. Und wem zuliebe thut er da« alle«?" „Dir zuliebe!" entzegnete Kitty. „Da« ist nicht wahr! Mir zuliebe! Wie lange dauert «S denn noch mit mir! Man opfert nicht ein junge« Leben einem Greise." „Er sagt« es aber selbst, klar und deutlich." „Dann bat er einfach gelogen, — au« Zorn — au- Berdrnß! Mir zuliebe! Einem stebzigjähriaen Greis I DaS wäre gerade noch der Mühe Werth, Kitty!" — Der Graf trat mit gerötheten Wangen und bittend erhobenen Händen vor sein Kind. „Ich kann nicht, Papa — ich darf nicht —" „Darfst nicht? Und ick sage Dir, MakowSky selbst würde Eure Hände ineinander legen, wenn er noch könnte . .'." Kitty überraschten diese Worte. Er hatte ja noch gekonnt, er hatte sie noch ineinander gelegt. Die ganze furchtbare Scene trat ihr vor Augen. „Weil er einseben mußte, daß Eure Ehe eine Idee war,! die sein Künstlergehirn plötzlich erzeugt hatte, ein Traum, der f nie von Dauer sein konnte, daß Du Dich einfach in einen Zaubergarten verirrt hattest, der mit dem Tode seines Herrn, wie in den Märchen, in eine kahle, welke Wüste sich verwandelte, auS der Du Dich hinauSsehnst in die alte Heimath, der er Dich geraubt." So hatte der Vater noch nie mit ihr gesprochen. Die Liebe zu ihr allein, die Sehnsucht nach Verwirklichung seines Herzenswunsches konnte ihm diese Worte in den Mund legen, die zugleich den Weg zu ihrem Kopfe und ihrem Herzen fanden. Es war ihm, als schwebte ein Wort auf den Lippen seiner Tochter, um das er am liebsten auf den Knieen gebettelt hätte. Er wartete ängstlich darauf. „Ich will sofort einen Brief an ihn schicken nach Schwarz acker. Er soll heute Nacht nicht in die Grube fahren — seiner Kitty zuliebe nicht. Bist Du damit zufrieden?" Graf Seefeld konnte nicht sprechen, er drückte sein Kind an das Herz und küßte eS. „Es wird zwar nichts helfe», wenn er es einmal für seine Pflicht hält, und Du brauchst auch keine Angst zu haben wegen deS bischen kalten Wassers um die Beine. — Aber schreibe, Kitty, schreibe! Ich werde sofort den Ruprecht schicken! — Wenn er Dir doch folgen und Franz heute Abend noch — ich bitte Dich, schreibe sofort, Kittv." Der Graf eilte, trunken vor Freude, in die Stallungen, um selbst den Eilboten zu bestellen. Kitty schrieb in ihrem Zimmer di« wenigen Zeile» mit fliegender Hast. Jetzt durfte er wirklich nicht hinunter in die feuchte, häßliche Grube. — „Sehr gefährlich", sagte der Vater, »nd sie hätte wohl ganz ruhig darüber geschlafen, bat schon oft ruhig geschlafen, während er zwischen Tod und Leben schwebte. Wahrend deS Schreibens packle sie plötzlich ein Angstgefühl, immer dringender stoffen die Worte. „Bei den heiligen Erinnerungen, die für uns Beide in Sckwarzacker begrabe« liegen, beschwöre ich Dich", schloß der Brief. Sie zögerte «inen Augenblick, ehe sie ihn schloß. Diese feierliche Warnung vor einer ihm alltäglichen Gefahr, die sie nie mit einem Worte besprach, mußte ihm geradezu lächerlich er scheinen. Dann schloß sie das Couvert mit einem glücklichen Lächeln, daS diesen schönen Mund schon lauge nicht mehr geziert, und übergab eS dem Diener. (Schluß folgt.)
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite