Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.11.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-11-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18951106025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895110602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895110602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-11
- Tag1895-11-06
- Monat1895-11
- Jahr1895
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
BezugSPreiS in der Hauptexpedition oder den im Stadt bezirk und den Vororten errichteten Aus gabestellen abgeholt: vierteljährlich./l 4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Haus ^l o.L0. Durch die Post bezogen sür Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich »l 6.—. Dittrte tägliche Kreuzbandieudung ins Ausland: monatlich -Si 7.50. Die Morgrn-AuSgabe erscheint um '/,7 Uhr. die Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Redaktion und Expedition: A»ha«me<Gaffe 8. Di» Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: klt» Slrmin» Sokttni. lAlsred Hahn), Uviversitätsstraße 1, LattiS Lösche. Katharinenstr. 14, part. und Königsplatz 7. Abend-Ausgabe. Anzeiger. Organ für Politik, Localgcschichte, Handels- vnd Geschäftsverkehr. Llnzeigen.PretS die 6 gespaltene Pemzeile 20 Pfg> Reklamen unter dem RedactionSstrich (4ga- spalten) 50^, vor den Familiennachrichlen (6 gespalten) 40-H. ckrößrre Schriften laut unserem Preis- verzrichniß. Tabellarischer und Zissernsah »ach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 00.—, mit Postbrsördrrung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abrnd-AuSgabr: VonnittagS 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Udr. Für die Mvntag-Morgen-Ausgabe: Sonnabend Mittag. Bei den Filialen und Annahmestellen fr eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 539. Mittwoch den 6. November 1895. 89. IühlgÜNg. m... t.», W.,., . > . >.„> >m.« . . . Politische Tagesschau. * Leipzig, 6. November. Im Reichstag ist es bekanntlich seit langer Zeit Sitte, den größten Theil vom Etatsentwurf »ach der ersten Lesung der Budgetcommission zu überweisen. Der Senioren- convent schlägt eine große Anzahl von Etatstiteln für diese CommissionSberatbuiig vor und das HauS pflegt sich diesem Bvrschlage ohne Widerspruch zu fügen. Der Zweck dieser Gepflogenheit war ein doppelter: einmal sollte durch sie eine größere Gründlichkeit und Sachlichkeit der Berathung herbeigeführt und zweitens sollte ver hütet werden, daß erläuternde Erklärungen der Re gierungsvertreter (z. B. zum Militair- und zum Marine- Etat) zur Kenntlich deS Auslandes kämen. Des letzteren Zwecks halber waren die CommisswiiSberathungeii anfänglich geheim. Das ist allmählich änderS geworden. Gerade die Berathungen der Budgetcommission über den Militair und den Marine-Etat bilden den Gegenstand ellenlangen Berichte, die eiligst und deshalb in wenig zuverlässiger Weise vvn einzelnen Abgeordneten hergestellt werden und nur daö ver schweigen, was ganz ausdrücklich von der Veröffentlichung aus geschloffen wird. Der eine Zweck der Eommissionsberathung ist damit illusorisch geworden und mit ihm wird auch der andere, der Zweck der Gründlichkeit, illusorisch. ES wird jetzt in der Budget- commission, weil sie nicht mehr geheime Sitzungen abhält, ebensoviel wie im Plenum „zum Fenster hinaus" geredet, was der Gründlichkeit eben so großen Abbruch thut, wie der Beschleunigung der Arbeit. Je größer und zahlreicher nun die Aufgaben sind, die der Reichstag in seiner bevorstebenden, sehr spät beginnenden Tagung bewältigen soll, um so mehr ist die Frage am Platze, ob es sich nicht empfehlen würde, die Aufgaben der Budgelcommission dadurch zu verringern, daß man ihr weniger Material überweist. Die „Köln. Ztg." erörtert heute diese Frage und glaubt sie bejahen zu solle». „Eine Eommissionsberathung" — so schließt das rheinische Blatt seine Erörterung — „mag da unentbehrlich sein, wo persönliche Fragen, wo rein technische Einzelheiten, wo die sorgfältige Abfassung des Wortlautes gesetzlicher Vorschriften in Betracht kommen. Fragen grund sätzlicher Art aber sollten zunächst stets — vorbehaltlich besserer redactivneller Fassung — im Hause öffentlich be- rathen und entschieden werden. Von diesem Gesichtspunkte aus halten wir auch die jetzige Art der ReichshaushaltS- berathungen für verfehlt. Unseres Erachtens würde es durchaus genügen, wenn nur alle neuen Forderungen zur Berichterstattung an die Budgetcommission überwiesen würden; dagegen sehen wir nicht den geringsten Grund ein, warum die früher bereils bewilligten Posten nochmals einer Eommissionsberathung unterworfen werden. Alle Bedenken, alle neuen Wahrnehmungen könnten vielmehr ebenso gut im Hause selbst an die einzelnen Positionen der zweiten Lesung angeknüpft werden. Die doppelte Durch berathung, zunächst in der Commission, dann im Reichstag selbst, erscheint uns unnöthig und zudem eine Zeitverschwen dung sondergleichen, die in einer tagegeldcrlosen Volksver tretung sich stets durch schlechten Besuch der Sitzungen und dadurch gleichzeitig durch ein Herabdrücken des parlamen tarischen Ansehens rächen muß. Wir möchten wünschen, daß der Seniorenconvent gleich nach Wiederzusammentreten des Reichstags diese Frage zunächst an der Hand des Reichs baushaltsentwurfs eingehender prüfen möchte." Auch wir möchten dem Seniorenconvent eine Prüfung der Frage «»empfehlen. ' Aus Dortmund bringt der Telegraph die Nachricht, daß das Ergebniß der gestern vollzogenen NeichStagsersatz- wahl folgendes sei: Lüttgenan (Soc.) erhielt 24 465, Möller (Nat.-Lib.) 2) 408 Stimmen. Da bei der Haupt wahl am 25. Oktober Herr Lüttgenan 17 182, Herr Möller 17 1l7, der Eentrumscandidat Lensing I l 636 Stimmen erhielt und die Socialdemokratie bei dieser Wahl jedenfalls ihren Heerbann schon ziemlich vollzählig an die Wahlurnen gebracht hatte, so muß gestern der socialdemokralische Canditat auS dem nltram 0 n ta 11 en Lager einen Zuzug von m indeste 11 s siebentausend Stimmen erhallen habe»! Und da ferner der Bund der Landwirtbe, dessen Anhänger bei der Haupt wahl zumeist sür den Eentrumscaiididaten gestimmt haben dürften, diesen Anhängern für die Stichwahl das Eintreten für Herrn Möller empfohlen hatte und überdies die mittel- parteilichen Elemente bei der Hauptwahl in Dortmund wie allerwärts durch laue Betheiligung sich wenig rühmlich aus gezeichnet hatten und erst bei der Stichwahl lebendiger wurden, so können bei dieser für den iiationalliberalen Eandidaten, der gestern nur ca. 4000 Stimmen mehr als am 25. October auf sich vereinigte, nur wenige Anhänger des Eentrums gestimmt haben. Diejenigen Wähler Lensiiig's, die nicht direct für den Socialdemokraten eintraten, müssen ihm grvßtentheils durch Wahlenthaltung zum Siege verholfen haben. Es hat also so gut wie gar nichts gefruchtet, daß der von dem ver storbenen Herrn v. Schorlemer-Alst gegründete „Westphale" die katholischen Wähler zur Bekämpfung des Socialdemokraten aufforderte; es hat so gut wie nichts gefruchtet, daß eine Anzahl guter Katholiken in verschiedenen Ortschaften des Wahlkreises mit der eindringlichen öffentlichen Mahnung au ihre Glaubensgenossen sich wendeten, „Religion, Sitte und Ordnung gegen die revvlntionaire Gefahr zu vertheidigen";— Eindruck aus die verhetzten Centrumswählcr haben nur die mehr oder minder offene Aufforderungen der „Germania", der „Tremonia", der „Köln. Volksztg." und der Parteileitung, den Wahlkreis der Socialdemokratie zu überliefern, ausgeübt. Diese Auslieferung ist mithin ganz und gar eine Thal des CentrumS und seiner Organe, desselben Eentrums, das im Jahre 1893 in seinem Wahlaufrufe erklärte: „Wer dem Centrum angehören will, muß standhaft davon durch drungen sein, daß kein gläubiger Christ auch nur vorüber gehend und in Einzelfragen mit der Socialdemokratie liebäugeln darf." Daß diese Erklärung nichts war als Heuchelei, zeigte sich freilich bald darauf in Straßburg i. E., wo die Centrums- wäbler dem Socialdemokraten Bebel die Steigbügel hielten, damit er fein glatt in den Sattel komme. Aber seitdem sind die wiederholten dringlichen Mahnungen des'Kaisers an alle bürgerlichen Parteien zur gemeinsamen Bekämpfung der Umsturz- bewegung ergangen; an sie haben sich die wiederholten Versiche rungen der ultramontanen Führer geschlossen, das Eciitrum sei der energischste und verwendbarste Gegner dieser Bewegung. Die Dortmunder That der Partei ist also nicht nur ein neuer Beweis für alte Heuchelei, sondern auch ein Faustschlag auf die neuerdings vorgebundene Heuchlermaske und eine ver blüffende Antwort aus jene kaiserlichen Mahnungen. Hoffent lich versteht man diese Antwort gerade an der Stelle, wobin sie sich richtet. Es ist Zeit, daß endlich überall die rechte Einsicht in diewahreNaturdesEentrumsgewonnen wirdimddie aussichtslosen Versuche aufge^eben werden, durch Hätschelung dieser Partei die von der lLocialdemokratie drohenden Ge fahren vermindern zu können. Ob die nach einem conser- vativ-klerikalen Kurs lüsternen Politiker der äußersten Rechten von der Dortmunder Wahl etwas lernen werden, ist freilich höchst fraglich, denn noch immer ist ihr Apostel derselbe Stöcker, der den Sturz des Fürsten Bismarck betrieb, weil dieser sich nicht entschließen konnte, seiner Cartellpolitik zu Gunsten einer klerikal-conservativen zu entsagen. Gemäßigt republikanische Blätter haben den Programm erklärungen dcS radikalen französischenMi n i steriu m s Bourgeois Mangel an Bestimmtheit und Offenherzigkeit vorgeworsen und bemerkt, dieselben stellten mehr ein Wahl- als ein NcgierungSprogramm dar. Das ist vollständig zutreffend; denn abgesehen von derSüdbahlisache,befabtsichdasNegierungs- prozramm nicht mit aktuellen Angelegenheiten, deren dring liche Erledigung nöthig wäre, vielmehr macht das neue Cabinet nach allen Seiten Verbeugungen und hat seine Erklärungen so abgetönt, daß eS dieselben im Fall einer vielleicht bald folgenden Kaiiiiikerauslösiiiig sehr gut als Wahlprogramm benutzen kann. Alles, was Herr Bourgeois sagte, ist daher auch un erwartet zabm und lau. Offenbar ist das Cabinet bestrebt, nicht nur die gemäßigt republikanische Partei, sondern auch die Radikalen und Svcialisten zu gewinnen; wir bezweifeln aber stark, daß cs ihm gelungen ist. Zunächst macht die Regierung ihre Reverenz vor den Parteien, welche am 28. October den Sturz des Cabinets Nibot veranlaßt Hallen, vor den Svcialisten also und den Radikale». An der Spitzc der Kundgebung stehen daher die Verheißung einer gründ lichen Untersuchung der Südbahn-Angclegenheit und das Gesetz über die Unvereinbarkeit eines AbgeordnetenmandatS mit der Betbeiligung a» einem finanziellen Syndikat; dann folgen die Steuerreformen und die socialpolitischen Ver heißungen, sowie die endgiltige Regelung deS Verhältnisses zwischen Staat und Kirche. Dieser Theil der Kundgebung wendet sich also an die Linke bis zu deren äußerstem Flügel, stößt aber die Rechte ab, da dieselbe aus dem die Kirche be treffenden PassuS nur eine Kündigung des Concordats heraus lesen wird. Auf die Agrarier gemünzt ist die Verheißung, die Landwirthschaft gegen die Speculatione» deS Wclt- getreidemarktes zu sichern; de» Gemäßigten sollen die Aeuße- rungen über das Heer, die Madagaskar-Expedition und die Eolonialarmee gefallen. Die friedliche Auslegung des Ver hältnisses zu Rußland soll das Cabinet nach außen hin empfehlen und gleichzeitig dem Verdacht Vorbeugen, als hätte dieses Verhältniß von radicaler Seite eine minder sorgfältige Pflege zu erwarten. Die Schlußsätze wieder holen den allerdings längst abgewirthschafteten Gedanken der Concentration aller Republikaner, welche nur die offenen und geheimen Monarchisten, sowie die Socialrevolutionaire ausschließt, und enthält namentlich nach der letzteren Seite hin eine Absage, welche auf die Gemäßigten im Parlamente, aber auch wohl — in Petersburg Eindruck machen soll. Die Regierung will also unparteiisch zwischen den Parteien stehen, sie will zwischen rechts und links, zwischen couservativer und radikal-socialistischer Weltanschauung vermitteln. Es bleibt abzuwarten, wie diese Stellungnahme sich den An griffen gegenüber wird behaupten lassen, die schon heute von rechts und links gegen dieselbe eröffnet worden sind. Zustimmend verhalten sich nur die Radicalen, die gemäßigten Republikaner gewähren dem Cabinet höchstens Schonzeit bis nach Erledigung des Budgets, und die Svcialisten wollen erst Thaten sehen, ehe sie den schonen Worten Bourgeois' glauben, der sich ihnen durch seinen — Wohl kaum völlig ernst gemeinten — Hieb gegen den revolutionairen Socialismns verdächtig gemacht hat. Ausfallen muß, daß die Erklärungen des Cabinets betreffs der Bündnisse von der Kammer ohne jede Beifallsäußerung angehört und nur im Senat applandirt worden sind. Wie es scheint, hat der Plural .,alliruie68", dessen sich (wie allerdings auch schon Herr Haiwtanx) der Ministerpräsident für die Be ziehungen Frankreichs zu Rußland bediente, Verstimmung bei den Volksvertretern erzeugt, die sich so lange schon nach dem viel gewichtigeren Singular „nllmnee" sehnen. Möglich auch, daß die Berührung der äußeren Politik den schmerzlichen Gedanken an den Rücktritt des.Herrn Hanotaux- in ihnen neu belebte und ihr rnssenfreundliches Gewissen sich regte, weil Herr Berthelot nicht für nöthig befunden hatte, persön lich dem Trauergottesdienste am Jahrestage des Todes Alexander s III. beizuwohnen. Wie dem auch sei, zum ersten Mal ist in der französischen Kammer Rußlands ohne Beifalls jubel gedacht worden Man wird gespannt darauf sein dürfen, wie die russische Presse hierzu sich äußern wird. Zn England wird man sich allmählich über die isolirle Stellung des Königreichs unter den europäischen Mächten klar. Der „Glove" stellt an der Wochenwende eine reckt ernste Betrachtung über „Englands Jsolirung" an. Das Blatt meint, mit der alten Theorie, daß man nur Geld zu verdienen brauche und sich darauf verlassen könne, in Rübe bleiben zu dürfen, so lange man Andere in Rübe lasse, sei es nicht mehr gelhan. Nur verbissene Doctrinaire des RadicaliSiiius glaubten noch an jene Weisheit. Mehr und mehr werde unter den Einsichtigen die Ueder- zeuguiig lebendig, daß die Interessen Englands von dem allgemeinen Gedeihen in Europa abhängig seien und nicht davon getrennt werden könnten. Auf die Be ziehungen Großbritanniens zu den einzelnen Mächten übergehend, führt der Aufsatz im Weiteren Folgendes aus: „Wir haben einige Freunde, gewiß, aber sie sind nicht zahlreich und nicht sehr stark. Oesterreich-Ungarn bat sich uns als treuer Bundesgenosse bei verschiedenen Anlässen ge zeigt, aber keiner weiß, wie die Dinge an der Donau sich entwickeln werden. Alles hängt von dem Leben des Kaisers und Königs Franz Joseph ab, und selbst wenn dies über die höchste Grenze hinaus verlängert würde, müssen sich Ver wickelungen in der orientalischen Frage ergeben, die auf der Verschiedenheit unserer und der österreichischen Interessen beruhen. Was Italien anlangt, so ist uns sein König, wie sein Volk freundschaftlich zugethan, aber die Zukunft dieses Staates ist, milde gesagt, sehr ungewiß — und schließlich sind diese beiden Mächte, Oesterreich und Italien, die einzigen, auf deren Sympathien wir uns verlassen können. Aber Deutschland! — so werden Optimisten einwerfen — ist doch eine Macht, auf die wir rechnen können! Sind die beiden Völker nicht innig verbunden durch Rasse, Religion und hundert andere Berührungspuncte? Und haben wir uns nicht Deutschlands Freundschaft durch den Verzicht auf Helgoland gesichert? Es ist eine beliebte Redensart, daß Deutschland und England nicht in Streit kommen können, aber wir wagen eS zu be kennen, das ist nur ein Aberglaube. Die abgenutzte Phrase, daß Blut dicker ist als Wasser, hat ja zweifellos rin Körnchen Wahrheit, aber sie ist darum doch noch keine staatsmännische Maxime. Zumal die gegenwärtigen Be Ziehungen zu Deutschland zeugen gegen sie. In der Congo- angelegenheit hat man von der deutschen Freundschaft recht wenig verspürt, ebenso auch in anderen Gebieten von Afrika, und der Ton, in welchem sehr angesehene deutsche Blätter von uns und Wider uns sprechen, ist weiter ein Beweis dagegen. Ter Hauptfactor in den Beziehungen der beiden Mächte ist in ihrem commerziellen Wettkampfe zu suchen. Deutschland ist ohne Zweifel unser stärkster Conciirrent auf dem Weltmarkt und seine Rivalität wird mit jedem Tage ernster. Und zwar begegnen wir dieser Concurrenz allüberall, in einem Sinne und Umfange, wie eS bei keiner anderen Nation zutrifft. Dieses Moment kann aber auch ans politische Fragen nicht ohne Einfluß bleiben." Der Globe kommt schließlich zu dem Resultat, daß westwärts, in Amerika, zwar wirkliche Freundschaft für England zu finden sei, daß diese aber in einem etwaigen Eonflicr in Europa keinen praktischen Nutzen bringen werde. „Tic Wakrheit ist, daß England fast allein steht und für sich selbst zu sorgen hat. Je deutlicher diese Thatsache allen Briten bewußt ist, um so besser ist eS für unsere Zukunft." — Das ist sehr richtig, aber England wird nicht eber Bundesgenossen finden, als biö cs die Politik der Zweideutigkeit und der Unzuverlässigkeit aufgiebt, die ihm der russische „RegierungS- Frnillstsir. Der Kampf ums Dasein. 7j Roman von A. von Gersdorff. Nachdruck verboten. «Fortsetzung.) 4. Der erste Schnee lag auf den Straßen und Gaffen der Hauptstadt und der scharfe Ostwind jagte ihn hier in kleinen Massen zusammen und ließ dort eine Stelle ganz frei, oder wirbelte den Weißen, flatternden Schleier jählings wieder dem dichtgrauen Himmel zu, der noch viel mehr Schnee zu verbeißen schien. Hier und da glimmte eine Fenster reihe, ein Thurmkreuz, ein Stück Himmel in einem kurzen düsterrothen Leuchten auf — Vas Abendroth veS kurzen Tages. Rasch, mit festem, zielbewußtem Schritt, eilt ein hoch- gewachsener Officier in Paletot und Mütze, die linke Hand auf dem Degen ruhend, die rechte in der Tasche verborgen, durch die strahlend erleuchteten, belebten Straßen deS CentrumS und die stilleren, spärlicher erhellten, aber vornehmeren Straßen des Westens weiter und weiter über den nächsten Vorort hinaus, dessen äußerstem Ende zu. Hier ist die Straße nur mäßig gepflastert, ein Bürgersteig nur ans einer Seite vorhanden und die Beleuchtung mehr als mangelhaft. Es war Helmuth Andor, den sein Weg heute, wie schon so manches Mal, in diese entlegene Gegend führte, wo die letzten Hauser stehen. Jetzt hielt er an, mitten auf dem Damm, vor einem vierstöckigen, alleinstehenden Eckhausr, von dessen Balkons man über das freie Feld hinaussehen konnte. ES war ein ganz neues Haus und schien erst wenig bewohnt zu sein. Helmuth sah hinauf nach dem dritten Stock. Der Anblick zweier farbiger erhellter Fenster trieb ihm rin glückliches Lackeln auf die Lippen. „Also zu Hause!" Er eilte über den Damm der HauSthür zu und betrat das Treppenhaus, welches elegant in Weiß und Gold, mit Läufern und Säulen, bunten Fenslerbildern und glatten, funkelnden Messinggeländern dem Geschmack der Neuzeit entsprach. Rasch eilte Helmuth die bequemen, stachen Stufen hinaus, bi» er im dritten Stock die Klingel zog. Darunter befand sich ein Schild mit der Inschrift: „I. Rovalla". Alsbald ging die Thür auf, und er trat mit leichtem Gruß gegen das öffnende Dienstmädchdn in einen kleinen behaglichen Flur. Ein Teppich deckle den Boden, eine bunte altdeutsche Laterne erhellte magisch den niedlichen Raum. Zwei altdeutsche Schemel standen neben dem Spiegel, an den hübsch tapezierten Wänden hingen einige nette Stillleben in Wasserfarbe und Tusche. Helmuth fragte gar nicht, ob das Fräulein zu Hause sei, und pochte, ohne sich melden zu lassen, an die eine der beiden Zimmerthüren, die auf den Flur führten. „Herein! Herein!" tönte es fröhlich von innen, und er stand vor Jakoba Rovalla, vor seiner Jakoba, seiner heißgeliebten verlobten Braut — d. h. vorläufig noch nickt erklärten und zugleich vor der „bekannten Schriftstellerin" I. Rovalla. Aus letzteren Vorzug hätte er gern verzichtet, und es gehörte zu seinen Träumen, daß seine Gattin einst die Schreiberei für Geld und alle die „ordinairen Scheußlichkeiten", die da drum und dran hingen, aufgeben würde. Es that ihm wirklich leid, daß eS dem. Officier nicht verboten war, eine Schriftstellerin zu heirathen, dann hätte sie wählen müssen zwischen ihm und der Collegschaften von Hinz und Kunz, Lewi und Aron. Er konnte nie vergessen, wie er vor Jahresfrist in einer Gesellschaft beim Oberstabsarzt Siemenroth dem schönen, geistreichen Fräulein Rovalla vorgestellt war und welch schauderndes „Nicht möglich!" er herausgestoßen hatte, als ihm nachher Jemand gesagt hatte: „DaS ist die Rovalla, eine „bekannte Schriftstellerin", hat wunderhübscke Artikel zur Franenfrage geschrieben — haben Sie nie gehört?" — Nein, er hatte nie davon gehört. „Aber das müssen Sie lesen, lieber Baron! Bergmann und Schmidt beten die schöne Rovalla ja förmlich an. Sie wissen, die gefürchteten Kritiker." Er hatte sich dann den ganzen Abend damit begnügt, sie aus der Ferne zu betrachten und sie auffallend, aber nicht hübsch gefunden, wahrscheinlich enle Jonrnalistenschönhrit! Aber nichts für den vornehmen Geschmack eines OfsicierS. Ja wohk, er hatte sie dann offenkundig der „Anbetung von Herrn Schmidt und Herrn Bergmann" überlassen. Jenem ersten Abend aber waren andere gefolgt, und nun stand er vor ihr, mit fliegendem Herzschlag und beißen Lippen — wie schon so manchen Tag. Denn schon seit Monaten war diese angcbetete „Collegin'" von Herrn Bergmann und Herrn Schmitt sein ganzes Glück, sein ganzer Stolz. Mit Allem, was er war und hatte, lag er ihr zu Füßen, dieser offenen Verfechterin der Franen-Emancipation — er ein Andor-Weyhern vom zweiten Gardcregiment! Wohl halte er sich nicht auf der Stelle jenen schwer- müthigen Allgen ergeben, wohl hatte er es „unwürdig, lächerlich, verächtlich" genannt, mit den beiden Herren von der Presse („Schreckliches Institut!") um die Gunst einer Schriftstellerin in die Schranken zu treten. Ah — und der Herr Lieutenant von Andor hatten sich in eine Leihbibliothek begeben und mit ganz ungeheuerer Gleichgiltigkeit irgend etwas von dem I. Rovalla verlangt, waren bedient worden und hatten am Abend die Frau Commandeuse überrascht mit ganz toleranten Ansichten über die herrschende Bewegung unter den „arbeitenden Frauen" — wie er sich zögernd ausdrückte. „Ganz gebildeter Mensch, der Baron Andor" batte die, selbst ein wenig schöngeistig angelegte Dame dann gegen den gestrengen Gemahl geäußert. Ja, so war es gekommen, Schritt vor Schritt. So hatte sie allmählich Besitz ergriffen von dem ganzen guten, klugen, äußerst „correcten" Menschen, der vor ihr stand. Sein Be streben aber, sie allmählich durch eine Liebe und seinen Einfluß frei zu machen von den „überspannten Schreibereien", hatte noch keine großen Erfolge zu verzeichnen. ES hatte schon Streit zwischen ihnen gegeben, und ein Mal hatte er da etwas vor sick gesehen, waS ihm gar nicht mehr seine „süße kleine Braut" zu sein schien, sondern ein strenges, hohes Weib, das ihn bei seiner gewappneten Rede ansah wie einen Feind und über ihn hinweg selig in eine andere Welt zu blicken schien, während sie ihn widerlegte. DaS war ein entsetzlicher Abend gewesen. Angstvoll halte er jede eifrige Erörterung, wenn möglich überhaupt jede Unterhaltung über die ihr heiligsten Interessen vermieden. DaS warS eben — das! Ihre heiligsten Interessen! Würde sie die wirklich ilmi opfern, nur um Weib zu werden?! Er gehörte nicht zu den Männern, die mit dem äußeren Besitz einer liebenden Fra» ganz zufrieden sind nnd ihre Gedankenwelt mit stolzem Lächeln Anderen überlassen — nein, er wollte dies Weib auch geistig besitzen, sie übersehen, ihr imponire». Sie sollte nnd mußte in ihrem Gatten auch ihren geistigen Herrn sehen! Wie oft forschte er in den wenigen Stunden, die der Dienst ihm frei ließ, in der „anderen Welt", die er mit heimlichem Zähneknirschen „ihre Welt" nannte, wenn er der Möglichkeit dackte, sie nimmermehr in seine hinüber- zutrageu. Seine Gesundheit litt, er wurde reizbar und nervös unter diesem leidenschaftlichen Kampf. Nu», wenn er sie so wie jetzt mit beiden Armen umschloß, wenn er ihr Herz so rasch, so gleichen Takt mit dem seinen schlagen fühlte, wenn der feine, geistreiche Mund sich mit der ganzen Schüchternheit eines jungen, vornehmen Mädchens an seine heißen Lippen drückte, während die weiche Hand sich unwillkürlich wegschiebend auf seine Brust legte, während diese liefe», geistsprühcnden Augen nichts als Liebe und sehn süchtige Zärtlichkeit blickten, wenn das Glück, an seinem Herzen zu liegen, aus dem geflüsterten: „O Du mein Alles!" an seine Seele klang, dann athmete er tief und befreit von aller Sorqe auf, dann fühlte er sich stark und sicheSsicher. War sie eigentlick schön, seine Jakoba? Nun, darüber ließ sich streiten. Es gab Leute, die ihr AeußereS sür fade erklärten, das nur durch den bezaubernden Ausdruck, dgs geistige Leben ihrer Züge jenen undesinirbarci, Reiz erhielte. Es gab Leute, die erklärten, dies blaffe, blonde, üppige Weib verlöre all seinen Zauber, sobald eS sich auf geistige Tournierplätze begebe. Rosen am Busen, Rosen in der Hand, Rosen im Schooß, daS kleide sie; aber kampfbereit mit der Feder hinter dem Ohr, hochgeschürzt, den Pegasus besteigend — nein, das mache sie Nicht schon, nicht be- gehrenswerth. Viele fanden, daß sie auSsähe wie eine Engländerin in ihren knappen, herrcnmäßigen, tadellosen Toiletten — immer vornehm, aber niemals schön. Sie zählte vielleicht fünfund- zwanzig Jahre, war die Tochter eines bankerott gewordenen Gutsbesitzers und stand seit dem Tode ihrer Eltern ganz allein in der Welt. Ihre entfernteren Verwandte» kümmerten sich nicht um sie, da ihnen ihre selbstständige, freie Lebens sühruilg nicht gefiel, und Jakoba bemühte sich nicht um ihre Neigung. Sie zog nach Berlin mit ihrer treuen Annemarie. Möbel hatte sie ja reichlich — ans dem Nachlaß ihrer Eltern — sogar recht hübsche, im Rococostil, weiß, glänzend, steif und zierlich, mit mattrosa und mattgrünen Seidenstoffen. Eine dazu passende kleine Wohnung, neu, elegant und billig, fand sie hier draußen in dem einsam stehenden Hause an der öden Vorstadtstraße, die eigentlich erst eine werden sollte. Sie lebte thatsächlich von der Hand in den Mund, daS heißt von ibren Einnabmen, die natürlich unregelmäßig waren. Zunächst aber war für ein Jahr oder
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite