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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 12.12.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-12-12
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18951212021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895121202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895121202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-12
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Größere Schriften laut unserem Preis- vkrzrichnib- Tabellarischer und Ztsferniatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbefördrrung SO —, mit Poslbeförderuag 70 Innahmeschlnß für Anzeigen: Ab »ad»Ausgabe: Bormittags 10 Uhr. Mora»».Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Für die Montag.Morgra-Ausgabe: Sonnabend Mittag. Bei deu Filialen und Annahmestelle» je eine halbe Stunde frühe». Auzcigen sind stets an dt» Expedition zu richten. Truck und Verlag von E. Pol, in Leipzig. ^ 805. Donnerstag den 12. December 1895. 80. Jahrgang. Englische Frechheiten. -o. Leiderist wieder eine dreiste Verunglimpfung de» deutsch»» Rats»»» durch englische „Politiker" zu ver zeichnen. Bekanntlich hat der durch Gladstone gegründet», zumeist au» Liberalen bestehende englische Armenier- Verein folgenden Beschluß gefaßt: „Der Ratb er- achtet der jüngste Rede de- deutschen Kaiser« al» ein« direct« Ermunterung de« Sultan«, sein Z « rst v ru n g« w erk in Anatolien fort zusetzen. Er fordert die Regierungen Europa« auf, sich von den vom Kaiser aul- gedrückten Anschauungen fernzuhalten", und in einer Zuschrift an den Vorsitzenden der armenischen patriotischen Bereinigung in London sagt Gladstone: „Ich werde mich freuen, wenn Ihre beabsichtigte Kundgebung helfen sollte, die Regierung zu versichern, daß sie die warme Unterstützung der Nation erwarten darf in dem Verlangen und Erzwingen von Gerechtigkeit für Armenien. Der Fall wird ernster al« vorher durch dir dem deutschen Kaiser zuge schriebene erstaunliche Sprache, eine Zuschreibung, in der, wie ich hoffe, kein wahre« Wort ist." „Daily New»" glaubt (mit Recht),Gladstone meine den Schlußsatz in der Thronrede, beginnend: „die Einmüthigkeit", der nicht frei von Zweideutigkeit sei. Gladstone scheine den Satz so zu deuten, al« erkläre er die Absicht, den Sultan zu halten, gleichviel ob er im Recht over Unrecht sei. Der angefochtene Satz in der verlesenen Thronrede de« deutschen Kaiser« lautet, wie erinnerlich: „Den beklagenswerthen Vorgängen im türkischen Reiche und der dadurch geschaffenen Situation ist unsere ernste Aufmerksamkeit zu gewandt. Getreu seinen Bündnissen und den bewährten Grundzügen deutscher Politik ist das Reich allezeit bereit, mit den durch ihre Joteressen in erster Reih, berufenen Mächten zusammen zu wirken, um der Sache de« Frieden« zu dienen. Die Einmüthigkeit de« Entschlusses aller Mächte, die bestehenden Verträge zu achten und hie Regierung Sr. Majestät des Sultans bei Herstellung geordneter Zustände zu unterstützen, begründet die Hoffnung, daß den vereinten Anstrengungen der Erfolg nicht fehlen werde." E« genügte also, daß in einer deutschen Thronrede von einer durch die europäischen Mächte geplanten „Unterstützung de« Sultan« zur Herstellung geordneter Zustände" die Revr war, um den „Anglo-armenischen Verein" zu einen, Beschlüsse u veranlassen, in welchem die „Rede de« deutschen Kaiser«" ür „eine direrte Ermunterung de« Sultan«, sein ZerstörungS- werk in Anatolien fortzusetzen", erklärt und zugleich eine „Aufforderung" an die Regierungen gerichtet wird, „sich von den Anschauungen de« deutschen Kaiser« fern zu halten". Die ganze Mache ist ja so fabelhaft dumm, denn, wie nach gerade selbst dem beschränktesten Verstände klar geworden sein muß, sind die Mächte eben zu dem ausgesprochenen Zwecke zusammengetreten, einmal dafür zu sorgen, daß' ibren im oSmanischen Reiche lebenden Untertbanen keine Ver gewaltigung wiedersährt, sodann um mitzuhelfen, daß in der Türkei wieder geordnete Zustände hergestellt werden, damit die Integrität des oSmanischen Reiche« nicht in Frage gestellt und der Zankapfel damit unter die intervenirenden Mächte Europa« selbst geworfen werde. Etwa« Andere« vermag kein Mensch au« den Aeußerungen des Kaiser« herauszulesen, aber englische Unverfrorenheit und Dreistigkeit ist nie verlegen um einen Anlaß zu möglichst rüpelhaftem Ausdruck de« Aergers über fchlgeschlagene Speculationen britischer Selbstsucht. Da muß eia Sündenbock her, der Schuld an dem schlechten AuSgang de« Geschäft« ist. Dieser Sündeubock ist, wie man weiß, in der Regel Deutschland, und e« muß jetzt gerade wieder herhalten, weil es England nicht den Gefallen gethan hat, ihm mit vollen Backen in den armenischen Brand hineinblaien zu helfen, weil e« im Gegentbcil während de« ganzen Verlaufs der orientalischen Krise als mindestbetbeiligte Großmacht eine vernünftig zurückhaltende Stellung bewahrt bat. Durch die Sprache, welche Gladstone und sein 4lrmenierverein führen, wird bestätigt, was man schon lange wußte, daß der englische Liberalismus mit der Politik des gegenwärtigen TorycabinetS nicht einverstanden ist, sondern auf sein Pro gramm die Auftbeilung der Türkei geschrieben hat. bei welcher der dumme deutsche Michel ibm unbezahlte Hand langerdienste leisten soll. Dafür ist allerdings der deutsche Kaiser, der gerade England gegenüber die Haltung der deutschen Politik trotz aller großmütterlicher Einflüsse in erfreulicher Weise selbst bestimmt, nicht zu haben, Hinc ira! Von gleichem Geist ist der Armenierverein und sein intriganter, geschwätziger Wortführer gegen Oesterreich erfüllt, denn dessen kluger Außenminister Goluchowski war es ja, welcher England ein gesonderte« Vorgeben gegen die Pforte dadurch unmöglich machte, daß er das „Concert der Großmächte" am goldenen Horn zusammenbrachte. In einem Rundschreiben des ge nannten Vereins heißt e« nämlich: „Es ist jetzt aller Wett klar geworden, daß das „Europäische Concert", soweit es die Mitwirkung Deutschlands und Oester- reichs betrifft, ein unehrenhaftes Bündniß ist, weiches dem Naiiien nach den Frieden der Ehristenheit wahren will, in Wirklichkeit aber ein verbrecherisches Eomplot darslellt, um Geld und Blut der in der Türkei wohnenden Armenier zu opfern, nur um den selbst süchtigen Interessen Berliner, Wiener und Konstan- tinopeler Finanziers zu dienen. Zu ihrer ewigen Schande schützen die Regierungen Deutschlands und Oesterreichs den Sultan, anstatt feine Opfer vor drohender Ermordung zu be wahren. Zur Zeit besteht die Hauptgesahr darin, daß Lord Salitburq durch gewissenlose Emissäre der germanischen Grldliga gewonnen wird und der britische Einfluß sich gegen bürgerliche und religiöse Freiheit geltend macht. Gewaltthat, Folterung und Vergießen unschuldigen Blutes spielen augenscheinlich keine Rolle in den Augen dieser Schamlosen, die bisher von der traditionellen Politik Englands unterstützt wurden, welch' letztere allein für die Gemetzel der letzten zwei Jahre verantwortlich ist. In Downing Street hat man Jahre lang um die Leiden der Arme nier in Anatolien und die Mißwirthschast und die Bedrückung in den asiatischen Bilajets gewußt. Dennoch hat das britische Aus wärtige Amt den Sultan und seine Agenten vor öffentlicher Ver- dammung geschirmt. Selbst jetzt scheint Lord Salisbury nicht geneigt, energische Maßregeln zu «greisen. Er zieht es vor, die Beleidigungen der Palastgünstlinge schweigend hinzunehmen, welche cs zuwege brachten, daß Hassan Tohsiii Pascha und Baori Pascha decorirt und befördert wurden, während der britische Botschafter ihre Entlassung verlangte." A»S diesem gemeinen Pamphlet geht übrigens — und des halb haben wir diesen Passus in cxtcn8o mitgetbeilt — auch aufs Deutlichste hervor, daß die neu iuscenirte Türkenbetze zu einem Schlag gegen daS konservative Cabinet benutzt wird. Dem Liberalismus Englands jnckt eS in den Fingeru, die Zügel der Regierung wieder zu ergreifen. Um auch diesen Zweck zu erreichen, scheut man vor frivoler Beleidigung Deutschland- und seines Kaisers nicht zurück. Wir regen uns über der artige Perfidien schon nicht mehr auf, wir sind sie ja gewohnt, von den englischen Liberalen wie von den Conser- vativen, je nach dem, aber wir vergessen sie nickt! Politische Tagesschau. * Leipzig, 12. December. Der dritte Tag der Etatsdebatte im Reichstage bat den Scandal, der in den ersten beiden Tagen dem Hause und dem Reiche erspart geblieben war, gebracht, denn der Abg. Bebel sprach zwei volle Stunden lang. Sein Auf treten war daS gewohnte: im höchsten Maße herausfordernd in der Beurtheilung de- Bestehenden, zurückweichenv an dem Punkte, wo die Frage nach dem letzten Ziel einer die Leiden schaften auf das Tiefste aufwühlenden Agitation nicht zu um geben ist. Man bat eS nachgerade oft genug gehört und hat es niemals in Zweifel gezogen, daß die der Ungleichheit des Besitze« ein behagliches Dasein verdankenden Führer der Social- demokratie nicht daran denken, gewaltsam den Zustand zu zer stören, der ihnen die Fortdauer dieser offensichtlich nach Gebühr gewürdigten Behaglichkeit gewährleistet. Hierin eben liegt das Ungeheuere der Frivolität, die gestern wieder Herr Bevel an de» Tag legte und die in maßlos gehässiger Sprache einen zur gewaltsamen Vernichtung jenes Zustandes drängenden Haß erzeugt und sich der Hoffnung getröstet, die Wirkung der Hetze werde nicht eher einlreten, als bis das persönliche Interesse der Hetzer an der bestehenden Ordnung sein natür liches Ende gefunden bat. Die Thorheit, die aufreizende und unwabrhaftige Schilderung der bestehenden Zustande und die nicht minder aufreizende, von Lüge zu Lüge eilende Dar stellung der neuesten deutschen Entwickelung, die Bebel gestern gab, für harmlos zu halten, wird diesem Demagogen Niemand Zutrauen, und er selbst wird es als eine unbe rechtigte Geringschätzung seiner intellektuellen Eigenschaften ausfassen, wollte man ibm Glauben schenken, wenn er seine und seiner Genossen Ungefährlichkeit versickert. Für daS socialdemokratische Treiben giebt es also nur die eine Er klärung: Die Herren denken mit den entarteten Aristo kraten der französischen Monarchie: nach uns die Eündsluth. Es wird die Aufgabe des Staates sein, die zweite Gene ration der socialdemokratische» Führer vor den Folgen der Sünden der Väter zu schützen. Bon den Einzelheiten der Rede Bebel s mögen die wiederholten, mehr von Zügellosigkeit als von Tapferkeit zeugenden Versuche, unter dein Schutze der Immunität Majestätsbeleidigungen zu verüben, sowie eine Verleumdung des Reichsgerichtsraths Stenglein, die der Abg. Enneccerus in einer Rede, die wir an anderer Stelle ausführlich mittbeilen, sogleich als Verleumdung nachwies, bervorgehobcn sein. — Die Erwartungen de« Senioren- Convents des Reichstags, eine größere Anzahl von Gesetz- entwürfen »och vor Weihnachten in erster Berathung erledigen zu können, hat durch de» bisherigen Gang der Etatsdebatte schon einigermaßen an Berechtigung verloren. Es sind noch nicht alle Parteien zu Worte gekommen und der Redner der Antisemiten soll das zweistündige Beispiel der Herren Richter und Bebel zu befolgen gedenken; außerdem dürste eine zweite Reihe von Fractionsrednern in die Verhandlungen eintrelen. Auch Herr v. Bennigsen, der die verflossenen Tage der Woche durch die im preußischen LandwirtbschaftSministerium stattfindenden Verhandlungen der Centralmovrcommission in Anspruch genommen war, wird voraussichtlich heute das Wort ergreifen. Der Rücktritt des Herrn v. Hölter hat eine Preß- treiberei veranlaßt, in der zwar die Partei des ausgeschiedenen Ministers genommen wird, an der er selbst aber sicherlich den geringstenAntbeil bat. Extrem agrarische und antisemitische Blätter erdichten sich sensationelle Zusammenhänge, theils um sich in der Geschichte von dem einem angeblichen Regierungs- manckesterthum angeblich zum Opfer gefallenen Manne ein Agitationsmittel zu schaffen, theils' um überhaupt „Welt geschichte" zu machen. Die konservative Parleipresse hält sich den Manövern ängstlich fern» und cS wäre überflüssig, auf diese zu sprechen zu kommen, wenn nicht durch die gestrigen, nach einer andern Seite gerichteten Er klärungen des „Reichsanzeigers" die Vorgänge oder Zustände, die zum Rücktritt des Herrn v. Köller geführt haben, auf die Tagesordnung der öffentlichen Erörterungen gesetzt worden wären. AuS diesem Grunde verlohnt es sich, festzustellen, daß dir „Deutsche Tageszeitung" und die „Staatsbürgerzeitung", die sich den Anschein geben, den Hergang zu kennen, „als ob sie dabei gewesen wären", beide offenbar gar nichts wissen» da sie einander im Wesentliche» widersprechen. So erzählt die „Slaalsbürgerzeitung": „Es wurden unter ossiciöjeul Anstrich über die (aus die Angelegen heit der Militairstrafproceß ordnung bezügliche) Berathung im Staatsinlinsierium Mittheilungen in die Oessentlichkeit gebracht und es wurde dem Kriegsiiiiiiisler zugetragen, Herr v. Köller habe diese Mittheiluugeu selbst in die Presse gebracht. Das war kurz vor der Letzlinger Jagd. Herr v. Köller hörte davon im Jagd- schlosse zu Letzlingen und gab seiner Entrüstung darüber in einem Gespräch mit Herrn v. Plesse» und anderen Generalen unum wundenen Ausdruck. Die Verdächtigungen gegen ihn fanden auch ihren Eingang in die osficiöje Press», und Herr v. Köller, von Letz- lingen zurückgekehrt, verlangt» vom Reichskanzler eine ein gehende Untersuchung zur Ermittelung des Urhebers dieser Indiskretionen. Nach einigen Tagen wurde ihm mitgetheilt, der Reichskanzler wisie bereit-, wer die Mitthetlung in die Presse ge bracht habe, er, Herr v. Köller, sei daran unbetheiligt, und damit sei die Sache wähl erledigl." Die „Deutsche Tageszeitung" hingegen schreibt: „Jnzwüchcil ist ja auch festg,stellt worden und. wt« wir ver- muthen, dem Reichskanzler bekannt, daß die Mittheilungen in den „Munch. Neuesten Nachr." von ganz anderer Sette, aus ganz anderer Umgebung stammten. Ohne daß Herr von Köller irgend etwas ahnt» oder verständigt worden war, erschien dann der Ministerpräsident bei ihm, um ihm im Aufträge der übrigen Staats- Minister mitzutheilen, man sei zwar überzeugt, daß Herr von Köller jenen Veröffentlichungen fernstrhe, aber man nehme es ihm übel, daß er bet der Hoßagd tn Letzlingen am 15. November (10 Tage nach dem Erscheinen jener Veröffent lichungen!) mit Herren der Umgebung des Kaisers über die Angelegenheit gesprochen habe. Der Umstand, daß er sich dabei in Abwehr ungerechtfertigter Angriffe befunden Hobe, könne ihn nichl entschuldigen, das Staalsministerium habe kein Vertrauen mehr zu ihm und so sei die Vorbedingung für ein gedeihliches Zusammen wirken genommen." Man sieht: hier wird bas gerade Gegentheil von Leu, behauptet, was dort als Tbatsache hingestellt wird. Nicht Herr v. Köller ist beim Reichskanzler gewesen, sondern der Reichskanzler bei Herrn v. Köller, und dieser hat keine Unter suchung verlangt, sondern der Reichskanzler hat ihm das Ergebniß einer Untersuchung und seine Ausfassung davon mir gelbeilt. Was nun die vom „Reichsanzeiger" demrntirte „Saale-Ztg." anlangt, so ist sie in Bezug auf politische In formationen da« unzuverlässigste Blatt, das wir kennen, und wir hatten nicht bezweifelt, daß die von ihm erzählte Unter redung mit Herrn v. Köller gar nicht stattgefunden habe, bis wir sahen, daß der „ReichSkanzeiger" es der Mühe werlh fand, den Bericht Uber den Inhalt der Unterredung Lügen zu strafen. Das Interwiew gehört also vielleicht dcch nicht ganz dem Reiche der Erfindung an und Herr rfl Köller hat das Wort. Den fran;üsischen S ch m utz finken ist eS, wie man voraus wußte, nicht gelungen, den Präsidenten der Republik mit Kolb zu bewerfen und seinen Rücktritt-cum iutamiu zu erzwingen. Der Ekrenmann auf dem Präsidentenstuhl ist ihnen durch die Publicirung des „Familiengebeimnisses", das die Hetzer preis zugeben drohten, geschickt zuvorgekommen und zweifellos hat, wie wir prognosticirten, die offene Darlegung aller Umstände, unter denen der Präsident vor dreißig Jahren das seiner Braut gegebene Wort einlöste, die Sympathien, die ihm unverkennbar entgegengebracht werden, noch erhöht. Jetzt will es natürlich erst recht Niemand gewesen sein, und es ist erheiternd, wie selbst der brave Bonapartist Cuoeo ' d'Ornano, der das „Complot" in seinem Blatte, „Petit Caporal", zuerst an die große Glocke gebängt und voraus- gesagt hatte, daß Faure unfehlbar zum Rücktritt gezwungen sein werde, nun mit der Miene gekränkter Unschuld erklärt, er habe ja nichts Anderes gethan, als die von eiuem Provinz blatt veröffentlichten Gerüchte abgedruckt. Die Svcialisten bleiben natürlich dabei, daß die eigentlichen Rädelsführer die opportunistischen Checkempsänger seien, die Himmel und 21 Der Geiger. Orlginal-Roman von Emmh Rosst. N-chtzruck »erbeten. (Fsrtsetzunq.) So vergingen weitere fünf Jahre — jeder ihrer College« verzog das reizende Kind, sie hatte es gut, aber ihr zärtliche« Herz fehnte sich nach anderer Liebe, al« diejenige, die ihr ward. Sie kamen, sie gingen, di« mit ihr freundlich waren, nicht- blieb! Denn ihre Pflege-Eltern vermochte sie nicht zu lieben. Der Alte ein Trunkenbold, die Frau eine kantippe, obgleich sich ihr böses Temperament Ki« gegen Lila wandte — Der eigenartig« Zauber, der vvn ^eui schonen Kinde aus- gina. bändigt« selbst diese böse Natur. Die Eltern ihrer Mutter starben um diese Zeit —' ein Vruver, ver nie seine einst beistgeliebt« schöne Schwester vergeben hatte, aber nicht selbstständig aenug gewesen, um den Starrsinn ver zürnenden Eltern zu brechen, suchte nun feint Nicht« auf. Er lebte in Berlin al« Angestellter lm Haus» de« Commerzienrathe« Herme»; schön damals aenoß dieser deu Ruf eine« allerersten Kunstkenner«, und sein Hau« wurde der Sammelplatz alle« künstlerischen Elittwesen« der zu jener Zeit noch im Werden und Wachsen riugrnbkn Residenz. Herr Schönboru nahm einen kurzen Urlaub und reiste itt FaMilien-Angeltgruhtiten nach brr Provinz Hannover, wobin die letzte Geldsendung seiner Eltern wie«. — O, Wir lebhaft die« erst« Begegnen mit dem guten, lieben Oheim heute noch vor ihren geistigen Blicken stand! — — E« war einer jener leuchtenden Hkrbsttäge, Vit in sich die ganz« Wse be« Sommer« und den ahtttlNg«vöÜrN Duft der ersten Dkaibiüthen schließen — di« Lust so krystatlklär und rein, tztt HiMMel tiefblau, kein WlnvrSätbMkN bewegt« die Stillt. Utver drN StäckttkN nickten dir ritsigen Sonnen blumen, bunte Georginen, streckten ihre, runden Köpfe hervor, da« ftziite Gesträuch der Gpargelberte sSl, wir ein Fitigran- Wald über den vielfarbigen Äwr der Astern hinweg, Lila batte sich äuf kle Stufen dkt Haustbüt gesetzt, ein Märchen buch lm Schövß, ANdetseN War ihr MärcheN-Lieblina, sie war rin ttäUMtrischk« KiNd und lebte mebr iß Vorstellungen und Nachempfinden al« in der Wirklichkeit — ein Zug. der durch ihren Beruf folgenschwer unterstützt wurde. Von ihrer Ver gangenheit wußte sie nur, daß ihre lieben Eltern so jung gestorben, von ihren Verwandten nicht«, — in jenem frühen Alter vegrtiren ja die meisten Kinder ihr reine« Blumenleben, nur da« Elend zeitigt den Verstand. — Lila war das Eben bild ihrer weißen Blumenschwester, der Lilie, die Gotl kleidet in ihrer Pracht. Da« Schübenhau«, in dessen Tbeatersaal sie mimten, war am Tag« sparsam von Gästen besucht, da es eine Viertel stunde vor der Stadt lag und die Kleinstädter selten vor Abend Zeit zum Mßiggange erübrigen. Nur der Omnibus, der von der nächsten kleinen Stadt, die schon Eisenbabnver- bindung hatte, den Fremdenverkehr beförderte, fuhr zwei Mal täglich vorüber, nur Briefträger, Landleute und Handwerks- burschrn waren die Passanten bei Sonnenlicht. Heute Mittag hielt der Omnibus — «in feit,gekleideter Herr mit großen dunkeln Augen entstieg dem Wagen und folgte dem Winke de« Kutscher«, der mit seinem Peitschenstiel auf da« Wirthsbau« im Garten wie«. Der Herr sab das Kind und wußte sofort, wer stt war, während sie ihn mit fremden Blicken ansah, als er, unfähig zu sprechen, vor ihr stehen blieb. Endlich verschluckte er dt« Ungeweinten Tbräncn und nannte ihren Namen. — bä er aber ihren Rufnamen nicht kannte, fragte er: „Ottilia?" Sie schüttelte verwundert den Kopf. Dann siel ihr ein, daß ein junger College, dek ihr ja den Andersen geschenkt, hineingeschrieben hatt«: „Meiner süßen Cvllegin Ottilia be wirkt«"; so fügt» sie der Verneinung schnell hinzui „Oder doch wohl, man nennt mich aber Lila!" Dann sieht'- vor Dir Mit Göttermienen Und lacht und lacht —" Nun stand da« Glück vor ihr, aber »S hatte nur ein gUtiaeS Menschenantlitz, und da« Weinen war ihm näher al« da« Lachen. „Also Lila — Du hist Lila — Du heißt wie Deine Mutter!" „Haben Sie meine Mutter denn gekannt?" Sie erhob sich von den Steinstufen und sah mit den ausdrucksvollen Augen bewegt zu ihm empor — er faßte ihre Hand, und sie fühlte, daß diese Hand zitterte. „Ja, Lila — ich kannte sie schon, als sie noch kleiner war als Du — ick habe sie sehr geliebt, immer, immer" — der keife Mann weinte null wirklich — „Du bist ihr Ebenbild, wein Herz. — Lila, ick bin der Bruder Deiner Mutter." War daS da« Gluck? Damals glaubte sie es — ibr jnngeS, vereinsamtes Herz batte nun einen Halt, sie um schlang den Oheim und küßte ihm die Zähren von den Wangen. Es war Alles wie ein Traum, wie ein Märchen. Liebe, Güte, Geschonte, ein freundlicher Beschützer. Schon nach wenigen Tagen nahm er sie mit sich; ihr Scheiden wurde nickt durch Kummer belastet, sie ging gern. Damals war sie über nichts erstaunt: hätte ihr Onkel gesagt, er wäre der Kaiser von China, so würde das sie ebenso wenig überrascht haben, als die Verwandtschaft überhaupt. Kinder, die viele Märchen lesen, sind so wie so sehr intim mit Prinzen und Kaisern, Königinnen und Königen — gewisser maßen familiär vertraut im Gedanken. Umgang — erst daS prosaische Lebe» mit seinem abgestuften Kastengeist lehrt all mählich, wie weit es von der Poesie zur Wahrheit ist, — und nicht nur bei Märchen — Erinnerungen! — Die erste Ent täuschung erlebt« die kleine Lila denn auch, als der Märchen- Onkel sie in eine einfache kleine Wohnung führte, — der Zauber schwand —, wohl heimelte die Sauberkeit, die rhyth mische Ordnung des kleinen Haushalts sie an, da sie dock nur an die Dürftigkeit der Wirthshäusrr und die Unordnung der Garderoben gewöhnt gewesen; sie blieb auch gern bei der sanften kleinen Pastorenwittwe, der dies bescheidene Hei», gehörte, aber eine unbestimmte Sehnsucht blieb; spater, als sie größer geworden, g aubte sie, es sei wobl das Verlange» nach Elternliebe — vielleicht aber — so glaubte sie jetzt als altere Frau — war ihr diese Sehnsucht von den idealen Eltern vererbt, die Sehnsucht nach „Genieland", der Alle verfallen, die zu den Kunstbegnadeten geboren. Und diese Kunstseete besaß sie — die Musikfee hatte ihr Gold in die Kehle gelegt, Frau Musika stand bei ihr als Tauspatbin. Der Obei», wandte Alles daran, ihre große Begabung auszubilde», sie erlernte Violine und versuchte ihre schon im frühesten Alter auffallend schöne Stimme zu bilden. Jahre stillen Lernens vergingen — ihr Oheim betet sie an, auch sie erwiderte besten große Liebe — aber eS war doch nur das Aushören deS Unglücks gewesen, als er damal« vor ihr stand, noch Nicht das Glück selbst. Sechzehn Jahr« zählte sie, al« der Direktor de« Conser- vatorium« sie in einem öffentlichen Concert austreten ließ. Die Welt war noch nichl» wie jetzt, nm Wunderkindern über völkert» man feierte die tüchtige Leistung eine« blüthenjungrn Mädchen« deshalb mit einer Uebersckwenglichkeit» die man heute kaum bei einem Genie aufwendet. Al« Geigrtin, al« Sängerin brachte man ihr Beifallsstürme dar — glückselig nabin sie Alle« al« wohlverdient bin — ohne zu vermntben, daß ihre blendende Schönheit die Menschen bestach uad sie zu Bewunderern machte, auch ohne daß sie eine andere Gegenleistung als ihre entzückende Erscheinung an sich ge boten haben würde. Damals war sie wirklich glücklich — man lud sie in vornehme Salons — ihr Oheim lehnte ab, sie sollte nicht zu früh geschäftsmäßig eine Kunst betreiben, der sie körperlich sowohl als künstlerisch nickt gewachsen war; so blieb ihr erstes Debüt das einzige. Lila war am Kunsthimmel wie ein Meteor aufgrtaucht und wieder im Dämmer bürgerlicher Existenz verschwunden. Drittes Capitel. „WaS ist das Glück?" Frau von Oppel sah wieder in den Brief ibres Sobiics Aurel, küßte ihn und seufzte. Dieser, ihr Abgott, ibr Ebenbild, der nicht nur der Erbe ihrer goldigen Scköiibeit geworden, sondern auch in aufsteigender Linie ihre musikalische Begabung übernommen hatte, — es war «in Conflict zwischen ibnen. Wie alle zärtlichen Mütter, denen nur tin einzige« Kine geblieben, klammert« sie sich in überschwänglicher Sorgfalt und belastender Liebe an ikreU Einzigen. Zuerst hatte der zarte Knabe die« Alles wie Gotte« Güle einpsunden; allmählich, wie sein Körper erstarkt«, wie sein groß artiges Talent an Raum und Tieje gewann, wurde die Rosen kette der Liebe oft zur drückenden Kessel. Sie lähmte seine Schwingen, sie erbettelte jeden freien Augenblick seine Gegen wart — unfähig, sich von dem geliebten Gatten zu trennen, aber ebenso unfäbig. ihren Sohn zu entbehren, wurde Letzterer da« Opfer, an Lehrer und Unterricht der Provinzialstadt gekettet, dir er längst überflügelt hatt«. Er sehnte sich nach eitt-m allerersten Meister der Residenz, und blieb endlich auf sich allein angewiesen, auf Selbststudium. In diesen letzten zwei Iadren, nachdem Frau von Oppel plötzlich Witlwe geworden, War Aurel gern und freudig ihr zur Seite daheim geblieben. Er widmete sich, ihr zilk Liebe, sogar den Verleger-Geschäften ibre« verstorbenen Gatten, löste, ordnete, wie ein prosaischer Kaufmann, Mit dem Bevoll mächtigten alle Angelegenheiten und erzielte eine» glänzenbeu Verkauf de« berühmten DeriagSgeschäfte« an eint Actien- gesellschaft. > . Nun war er frei, reich, reif sür da« Glück! Und deNttsch — es ging noch immer in einem Trauerflor ibr Glück — sein Glück! Al« die Aerzte ibr Kairo für den Winter verordnet, bat
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