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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 18.12.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-12-18
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18951218029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895121802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895121802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-12
- Tag1895-12-18
- Monat1895-12
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Einer Erholung von anstrengender Arbeit sind die Reichsboten nicht bedürftig, und wenn der Präsident ihnen beim Auseinanvergehen wünschte, sie möchten in der Festzeit Kraft zu neuer Arbeit schöpfen, so hat er das hoffentlich ironisch gemeint. Der Reichstag sollte außer dem Etat, den Vorlagen über den unlauteren Wettbewerb, die Cousumv «reine und die Handwerkerkammern »och die Börsenvorlage in erster Lesung erledigen; diese letztere Arbeit ist er schuldig geblieben, obwohl sie gethan werden konnte. Aber immerhin sind vier erste Berathungen und darunter die Etatsberathung in zehn Sitzungen — die lediglich den Constituirungsarbeiten gewidmeten zwei ersten mit inbegriffen — eine genügende Leistung. Das unbefriedigende Ergebniß des ersten Tagungsabschnittes ist nicht auf den Reichstag, sondern auf seine zu späte Einberufung zurückzuführen. Im vorigen Jahre, wo Ende October ein Kanzler- und Ministerwechsel stattgefunden hatte, konnte man sich die Verschiebung deS Zusammentritts von der Novembermitte, wo er sonst ge wöhnlich stattgefunden hatte, bis in den December hinein gefallen lassen. Man hätte aber nicht geglaubt, daß die Regie rung ein einmaliges gebilligtes Abweichen von der Regel als Gewohnheitsrecht ansehen würde. Gerade diesmalist der Ausfall von reichlich zehn Sitzungen vor Weihnachten besonders de bäuerlich, denn die Session ist eine überlastete, und wenn sie auch kein politisches Material im engeren Sinne zu berathcn bat, so giebt eS doch „harte Bretter zu bohren". Außer der Börsenvorlage und dem Depotgesetze harren nach dem Feste der ersten Berathung die Marga rin evvr läge und die Strafproceßnovelle, die um so mehr sich schon in den Commissionen befinden sollten, als das Bürgerliche Gesetzbuch bald nach dem Feste eingebrachl werden wird und andere Vorlagen ihm voraussichtlich folgen werden. Es kommt hinzu, daß am 15. Januar der preußische Landtag zu- sammentritt und das Zusammentagen beider Berliner Parlamente der Förderung der Geschäfte erfahrungsgemäß nicht günstig ist. In diesem Jahre ist überdies noch der aller zwei Jahre zusammentretende bayerische Landlag gleich anderen Einzellandtagen versammelt, wodurch einer großen Anzahl von Reichstagsabgeordneten verdoppelte Pflichten auf erlegt sind. In Summa: die Einberufung im December taugt nicht. Ohne bestimmte Folgen politischer Art von dem Besuche des Kaisers in Fric-richsruh zu erwarten, wird mau doch dieses Ereigniß, wie wir schon gestern ausführten, in allen national gesinnten Kreisen des ganzen Reiches freudig be grüßen. Ein gutes Verhältnis zwischen dem Kaiser und dem großen Rathgeber Wilhelm's l. gehört zu den Herzens bedürfnissen der Nation. Daß der Monarch Gelegenheit genommen hat, das Bestehen eines solchen Verhältnisses jetzt wieder, wie am 80. Geburtstage des Altreichskanzlers, kunv- zuthun, ist an sich ein Gewinn. Es besteht übrigens die Meinung, daß die vorgestrige Zusammenkunft nicht aus schließlich den Charakter einer dem Fürsten vom Kaiser er wiesenen Aufmerksamkeit an sich getragen habe. Sie stützt sich auf die von den „Hamb. Nachr." zwar nicht bestätigte, aber auch nicht bestrittene Meldung deS „Hamb. Corr", daß der Monarch längere Zeit allein mit seinem einstigen Kanzler sich unterhalten habe, während, wie man sich erinnert, bei dem vorigen Besuch die beiden Herren nur in Gegenwart von Zeugen sich gesprochen hatten. Wir lassen die Verinutbung, daß politische Angelegenheiten den Gegenstand des Gespräches gebildet habe», auf sich beruhen, glauben ihren aber Er wähnung thun zu müssen, da sie, wie man uns aus Berlin chreibt, dort in ernsthaften politscheu Kreisen ausgetaucht ist. Ein, wie es heißt, dem Freiherrn t>. Hetzt nahestehendes Blatt will wissen, daß dieser NeichstazSabgevrdncte aus der national liberale» Fracticn auszuscheidei, gedenke, weil er wegen der Unterzeichnung des Antrags Kunitz „Angriffe" zu erdulden gehabt hätte. Von Angriffen auf die Person des Freiherr« v. Heyl ist nichts bekannt. Daß ein Abgeordneter, der sich mit wenigen anderen in einer wichtigen Frage von der Mehrheit seiner Fraction trennt, sich der Kritik aussetzt, ist etwas, was sich für jeden Politiker von selbst versteht. Wir finden jene Kritik vom Standpunkte derer, die sie geübt, selbstverständlich und legen deshalb Gewicht daraus, dies zu betonen, weit wir zu de« Blättern gehören, die den Fractionsbeschluß in Sachen v. Hehl und Genossen aus höheren poli tischen Rücksichten rückhaltlos gebilligt haben. Dieser Be schluß ist das Einzige, woran sich zu Hallen Herr v. Hehl, politisch genommen, ein Recht hat. Wenn ihm anßcrpolitische Empsilidunczen Entschlüsse nahelegen, so ist das eine Privat angelegenheit, wenigstens, unseres Erachtens, vom Stand- puncte der Partei. In der abbelaufenen Woche war die niederländische 2. Kammer wieder einmal der Tummelplatz des Kampfes zwischen liberaler und ullramontaner Weltanschauung, und ein Unbetheiligter hätte glauben können, daß man sich wieder mitten in der Zeit des Kampfes um die Volksschule befinde. Der Minister des Innern, van Honten, hatte nämlich in den Staatshaushalt einen Posten zur Unterstützung einer in Leiden befindlichen Anstalt zur Heranbildung von Kindergärtnerinnen ausgenommen, die einen confessionö losen Charakter bat und in welcher denn auch bis jetzt protestantische und katholische Lehrerinnen nebeneinander aus gebildet wurden. Der orthodoxe I)r. Kuyper schrie laut über Vergewaltigung der Familie und des Hausrechts, da die Kleinkinderschule ein Anhängsel der elfteren sei und mit dem eigentzkchen Lernen nichts zu thuu habe, und der uckramontane Vermeulen trat eins der bekannten katholischen Schlagwörter breit, indem er darüber wehklagte, daß der Staat ein so eifriger Handlanger des religiösen Nihilismus sei. Es half aber nichts, die verlangte Summe wurde von der 2. Kammer genehmigt, wie auch eine weitere zur Errichtung eines Lebrerinnenseminars, das den bestehen den gesetzlichen Bestimmungen gemäß, ebenfalls die Simultan eigenschaft besitzen muß. Der Aerger der Ultramontanen und Orthodoxen über dieses Vorgehen van Hvuten's ist deshalb ein so großer, weil beide Posten unter dem antirevolutionair- ultramontanen Cabinet Mackay gestrichen worden waren und das vorige radikale Ministerium um des lieben Friedens willen die Sache auf sich hatte beruhen lassen. In der Sobrauje Bulgariens hat der Abg. Tobakow das Ministerium wegen der Ermordung Stambulow's interpellirt. Da die Aufforderung des Untersuchungsrichters, den Capitain Morsow und den Polizeicommissar Jurukow dem Gerichte zu übergeben, nicht befolgt sei, liege der Verdacht vor, daß die Regierung an der Er mordung Stambulow's belbeiligt sei. WaS Stoilow zu dieser Beschuldigung sagen wird, läßt sich allen falls errathen. Er wird entweder erklären, die Re gierung halte es unter ihrer Würde, überhaupt auf diese Frage einzugeben, oder er wird die Polizeiberichte ver lesen, woraus hervorgeht, daß die Mörder Stambutow's sich ins Ausland geflüchtet haben und die bulgarische Justiz kein Vorwurf treffe. Glauben wird einer solchen Darstellung Wohl Niemand beimesse», und es ist daher zu erwarten, daß die Freunde Stambulow's der Negierung bittere Wahrheiten sagen werden. Aber die Sobrauje ist an Scandalscenen gewöhnt. Noch kürzlich haben sich Abgeordnete in der Sobrauje gegenseitig mit Ehrentiteln: „Räuber" und „Pferdediebe" bedackk. Dann wurde der rumänische Journalist Valeriano, der von den Vorsällen in der Sobrauje auswärtigen Blättern Mit- tbeilung gemacht, von dem Präsidenten in sein Bureau gebeten, in einem dunklen Corridor jedoch von angestellten Dienern überfallen und persönlich mißhandelt. Am l l. December sprach der unabhängige Abgeordnete Neitschow über das Budget; er sagte, man solle der Regierung nicht früher Geld bewilligen, als bis die Wünsche des Volkes bezüglich der Taufe des Prinzen Boris und die Aenterung des betreffenden Artikels der Verfassung erfüllt seien. Der Präsident forderte Neitschow auf, die Tribüne zu ver lassen, was dieser verweigerte, worauf ein Tumult entstand. Der Präsident forderte darauf die Ordner auf, Neitschow aus dem Saale zu entfernen, worauf ein heilloser Scandal losbrach. Zweimal verließ das Bureau der Kammer den Saal; da Neitschow sich nicht gutwillig entfernen ließ, traten die Wachen in Len Saal, sie wurden jedoch von den oppositionellen Mitgliedern der Sobrauje mit Faust- schläge» hiiiauSgetriebe», während einige Abgeordnete Neitschow ins Freie führten, was die Opposition mit beleidigenden Zu rufen an den Präsidenten begleitete. Dieser verließ seinen Platz und erklärte seinen Rücktritt, worauf er von der Regierungsmehrheit eine Vcrtranenskundgebung erhielt und Wiecer ans seinen Platz zurückgeführt wurde. So sieht es heute in der bulgarischen Sobrauje aus. Zur Zeit des sog. „brutalen Regiments Stambulow's" ging es anständiger zu. Ganz unerwartet sind zwischen den Bereinigte» Staaten vo» Nordamerika und England ernste Differenzen ent standen, Lenen der bekannte Grenzreguliriingsstreit zu Grunde liegt, den England in Britisch-Guyana schon geraume Zeit mit Venezuela führt und den man bereits wieder für eingeschlasen ansehen konnte. Cleveland beruft sich auf die sog. Monroe- Toctrin, welche jede Einmischung in die Angelegenheiten un abhängiger amerikanischer Staaten, auch der südamerikaniscken in dem Lichte einer de» Vereinigten Staaten von Nord amerika unfreundlichen Gesinnung betrachtet, stellt sich ostentativ auf Seite Venezuelas und beansprucht für den Congreß das Recht, die Streitfrage unabhängig von Eng land ans eigener Machtvollkommenheit zu lösen. Bis jetzt liegen uns über den sensationellen Zwischenfall folgende Meldungen vor: * Washington, 17. December. Präsident Cleveland sandte heute an den Congreß eine Botschaft über die Bcnezuela- frage, der die Antwort Lord Salisbury's auf die Note der amerikanischen Regierung beigegcben war. Präsident Cleveland sagt in der Botschaft, Lord Salisbury erhebe dagegen Einspruch, daß die amerikanische Regierung in der vorliegenden Frage der Monroe- Doctrin eine neue und befremdende Auslegung gebe, einer Doctrin, welche im Allgemeinen auf den Stand der Dinge, in welchem wir heutigen TageS lebe», und im Besonderen auf die gegen wärtige Streilsrage unniiwendbar sei. In der in seiner Botschaft hieran gekniipslcn Erörterung bezeichnet Präsident Eleveland die Auslegung der Monroe-Doctrin durch Amerika als stichhaltig und gesund, als wichtig für die Sicherheit der Nation, wesentlich für die Erhaltung ihrer sreien Einrichtungen und dazu bestimmt, i» jeder Entmickelungsstufe des nationalen Lebens Anwendung zu finde». Diese Doctrin könne nicht ver alten. Sodann stellt Präsident Cleveland die Behauptung aus, Laß die Doctrin vollkommen auf den Fall anwendbar sei, wo eine europäische Macht durch eine Ärenzausdehnung von einem Gebiete Besitz zu ergreifen suche, das einer Republik auf dem amerika nischen Festlande gehöre. Nach dem Ausdrucke des B>- dauerns darüber, daß England die Schlichtung der Angelegen heit durch Schiedsspruch ablehne, bemerkt Präsident Cleveland, es bleibe nichts übrig, als die gegebene Lage anzunehmen und ent sprechend zu Handel». Ter Streit habe ein Stadium erreicht, welches es den Vereinigten Staaten zur Pflicht mache, Schritte zu er- greisen, uni sestzuslcllen, was die wirkliche Grenze zwischen Venezuela und Britisch - Guyana ist. Der Präsident schlägt daher vor, daß der Congreß eine entsprechende Summe für die Kosten einer Commission bewillige, welche die erforderlich, Untersuchung vornehmen und mit möglichst geringem Verzug über die Angelegenheit Bericht erstatten solle. „Wenn dieser Bericht ersolgt sein wird", fährt die Botschaft fort, „wird es die Pflicht der Vereinigten Staaten sein, mit allen ihnen zu Ge botc stehenden Mitteln sich einem vorsätzlichen Angriff auf ihre Rechte und Interessen der Aneignung irgend welcher Landstrecken durch Großbritannien zu wider setzen, welche wir nach vorgenommener Untersuchung als von Rechts wegen Venezuela gehörig erkennen mögen. Ich bin mir wohl der vollen Verantwortlichkeit bewußt, welche ich übernehme, indem ich diese Vorschläge mache, und stelle mir klar alle etwaigen Consequenzen vor Augen. Ob wohl anzuerkennen ist, daß es ein schmerzlicher Gedanke ist, die zwei großen englisch sprechenden Völker sich als andere denn freundschaftliche Rivalen auf dem Wege des Fort schrittes und des Friedens vorzustellen, so ist doch kein Unglück demjenigen gleich, welches aus unthätiger Unter- iversuug unter Unbill und Ungerechtigkeit hervorgeht. — nämlich dem Verluste der nationalen Ehre".— Tie Botschaft wm.de mit warmem Beifall durch Händeklatschen, eine im Senate ganz ungewöhnliche Demonstration, ausgenommen. Nicht Jedermann in Amerika ist mit einer so weitgehen den Anwendung der Monroe-Doctrin einverstanden unk cs haben sich schon ernst warnende Stimmen erlwben, welche aus die Gefahr von Conflicten mit anderen Nationen Hinweisen, denen Amerika nicht in jedem Fall gewachsen sei. Augenblicklich aber bat Cleveland den Beifall auf seiner Seite, nicht nur im Parlament, sondern auch im Lande, da er es verstanden hat, dem ohnehin sehr hoch entwickelten Selbstbewußtsein des Amerikaners zu schmeicheln. Eine aus New-Aork, 17. De cember, uns zugehende Nachricht lautet nämlich: Die meisten Blätter erklären, die Botschaft Cleveland's habe die Unterstützung der ganzen Nation für sich. Tie „Evenlng Post" sagt, Cleveland habe vorläufig gezeigt, daß er im Stande sei, auswärtige Fragen zu benutzen, um heimische Siege zu erringen. Diese letztere Bemerkung ist vielleicht geeignet, die ganze Angelegenheit in das richtige Licht zu stellen. Die demo kratische Partei, deren Führer Cleveland ist, befindet sich bekanntlich in rapidem Niedergang, und wenn dieselbe es nicht versteht, den Wind der Volksgunst den Republikanern doch noch abzufangen und wieder in ihre Segel zu bringen Feuilleton. Der Geiger. Original-Roman von Emmy Rosst. Nachdruck verboten. (Fortsetzung.) „Es ist gut, lieber Herr von Oppel" — sie sagte schon beim zweiten Mal ganz naiv „lieber Herr" — „Ihre Mama soll mit mir zufrieden sein; daß sie gut ist, sicht man Ihnen an — ich have so meine Menschenkenntniß. Schicken Sie nur her, was ich mitnebmen soll, ich brauche für den Orient überhaupt wohl nur leichte Toilette, nun, Uebergepäck hätte ick wohl so wie so nicht — melden Sie mich nur zum zweiten Weihnachtstag an, — da bekommt Ihr liebes Mamachen doch auch ein Christkindchens" ES klang Alles so natürlich und dabei so lieblich, daß er gar nicht reflectirte, ob eS passend sei oder nicht — ganz glücklich telearaphirte er an Therese, daß zu Weihnachten Ersatz einträfe, Brief folge. Fräulein Olga reiste dann auch mit einer Violine im Koffer und einem riesigen Blumenstrauß mitten in Schnee und Eis ab. — Mama, Papa, die vier Schwestern waren am Bahnhof, sie Alle weinten, nur „Ollichen" lachte. „Eine schöne Reise machen, ein interessantes Land sehen, einer lieben Dame Musik und Heiterkeit bringen — ist das nicht ein großes Glück" tröstete sie die Zurllckbleibenden. „Unterdessen", sagte Aurel zu Herrn Rosen, der seinem Kind immer wieder die Hand drückte, „Sie wissen gar nicht, Herr Rosen, daß Sie in ihren lieben Töchtern daheim seltenes Glück besitzen — Alle so angenehme Mädchen, anmuthig und lieblich." Herr Rosen seufzte. „Ja, ja, geehrter Herr von Oppel — Sie mögen Reckt haben, nein. Sie haben positiv Reckt, — dennoch — — fünf Töchter sind für einen kleinen Beamten fast zu viel Glück? —" Zu viel Glück! — Das Wort hatte Aurel schon kürzlich einmal gekört, Margarethe von Schlieffen hatte eS gesagt Manche Menschen haben zu viel Glück! Hatte er wirklich deS Glückes Urberfluß? Nein! Unglückliche vergessen den Maß stab, den Glücksaewobnte an ihren Besitz desselben legen, sie nehmen als selbstverständlich und zugehörig, waS schon den „Verarmten des Glücks" als Gnade erscheint. Aurel betrachtete eine Schönheit, seine Begabung, seinen Reichthum unter Werth deS Verlustes, den ihn des VaterS früher Tod, der Mutter Kränklichkeit und Gram um die Vergangenheit bereitete, er hielt sich durchaus nicht für einen glücklichen Menschen. Aber er war eine verschlossene Natur — und Margarethe wäre die Letzte gewesen, gegen welche er sich ausgesprochen. Wenn er indessen zuerst gefürchtet batte, sie würde ihn mit Klagen und Vorwürfen wie in jener ersten Stnude wieder behelligen, so irrte er. Sie benahm sich tadellos! Wenn er kam, saß sic schon am Clavier, zwei Stunde» täglich spielten sie zusammen — sprachen sie in Pausen ausruhend miteinander, so bezog eS sich nur auf Berusssachen. Sic war Aurel an Wissen unterlegen, aber ihr klares Urtbeil, die schnelle Ucber- sicht aller Dinge und Personen überflügelte ihn. Sie lebte m einem Pensionat der Bülow-Straße — die Insassen waren säst alle ältliche junge Damen, Wittwen und Waisen. — Da Margarethe sich nicht um die Genossinnen der lublv ck'fiütv anders kümmerte, wie es die gemeinsame Tafel verlangte, ihr Clavierspiel aber durch Las Dauer-Ueben mebr gebaßt als bewundert wurde, gekörte sie nicht zu den beliebten Mit gliedern des Pensionats. Sie glaubte, das sei ihr glcichgiltig, doch trug eS tharsächlich nicht wenig zu ihrer Verbitterung bei. Da Aurel's blendende Schönheit mehreren dieser Müßig- aängerinnen ausgefallen war, neckte man Margarethe bei Tisch in harmloser Weise mit ihrem goldhaarigcn Geigerkönig. Anstatt auf den Scherz einzugehen, die einzige Art» solche kleinen belustigenden Neckereien abzuthun, wurde sie zuerst heftig, dann schmollte sie — so schuf sie sich selbst eine Er weiterung ihres Unglücks. Wie manche Frohnature» selbst auS Unkraut Honig zu saugen verstehe», so fand sie im duftendsten Lilienkelch nur das Gift hätte sie ihre Klagen nicht in Tönen anSströmen dürfen, so wäre sie viel leicht um diese Zeit irrsinnig geworden, — denn sie liebte Aurel mit brennender Leidenschaft, all» VcrnunflSgründe, daß sie ohne Gegenliebe ihr Herz verloren, prallte» von dem Zauber seiner Erscheinung ab — sie fühlte, daß nur ihr tüchtiges Können ihn an sie fessele — nur die Künstlerin, nicht das Weib ihn interessire. „Auch das ist Glück", antwortete sie sich dann aus ihre Selbftvorwürfe. Nack der ersten Uebung legte Aurel sein Goldstück in eine kleine Marmorschale, die auf dem Tische stand. „Wenn Sie gestalte», zahle ich täglich meine 20 Mark", sagte er glcichgiltig, — er *ah nicht, während er die Handschuhe anzog, wie in ihren schönen Augen ein großes Weh sich widerspiegelte, aber sie preßte die Lippen zusammen und schwieg. Täglich legte er schweigend fortan daS Goldstück hin — er wußte und ahnte nicht, daß ihre bitteren Thränen es vom Sckweiß- und Blut- steruch des Daseinskampfes reinigten, ebe sie cö in die Tiefe ihrer Börse — ihr einziges Sparbüchschen — in den Schrank tbat. Allmählich kleidete sie sich hübscher — Helle Blousen, schimmernde Seide »ahmen den Platz der getragene» Woll stoffe ei». In diesen Caserncn der Frauengewöhnlichkeil gilt Toilette mehr als Charakter — aber der armen Musikerin schlug Alles zum Unglück auS — man lachte heimlich, wenn man ihr auch laut schmeichelte — die Wirthi» selbst, die keine andere» Reize besaß als ihre Toiletten, brachte zuerst den „Geiger" mit einer eleganten Hellen Seidenrobe in Ver bindung. Margarethe schrie laut auf — sie motivirte eS zwar mit einem schmerzhaften Riß der Busennadel, aber jetzt sab man endlich klar, daß diese Beziehung für das verkrüppelte Mädchen viel schmerzlich ernsthafter war, als man je geahnt. Fortan ließ man sie in Ruhe — doch das plötzliche Ver stummen bei ihrem Eintritt, die mitleidigen Blicke, womit man sie heimlich musterte, waren schlimmer als zuvor die kleinen Sticheleien. Mitleid vertragen stolze Seelen nur schwer! — Inzwischen war Herr Atern nicht unlhätig für Aurel geblieben — mit einem Schlag wollte er ihn berühmt machen — er benutzte deshalb die Anwesenheit einer sehr gefeierte» Opernsängerin, um Aurel „berauszubringcn". Schon bei der Lrchesterprobe der Philharmonie errang der junge Geiger einen sensationellen Erfolg; die ernste» Musiker applaudirten ihm nach jedem Satz und brachten ihm anl Schluß einen Tusch — an diesem Tage war es, daß Margarethe sagte: „Sic haben zu viel Glück!" DaS Concert fand statt — seit vielen Jahren hatte dir Kunst solches Ereigniß nicht zu verzeichnen Einstimmig, ohne eine tadelnde Beimischung, priesen dir Kritiker sei» eminentes Können — eS gab keinen Einwand, keine „Wenn" und „Dennoch" — wie die Leistung phänomenal gewesen, so auch der Erfolg. Noch weiter« zwei Concert« fanden aus Drängen der Direction und des Publicums statt — verglich man zuerst seine unerhörte Technik, über Sarasate hinweg schreitend, mit dem sagenhaften Paganini am ersten Abend, so nannte der zweite ihn neben Joachim, der dritte bracht« keinen Vergleich mehr — er war eben nur er, der Meister aller Meister ihm schwindelte; war daS nicht wirklich zu viel des Glücks? Eine abergläubische Furcht packte ihn — der Neid der Götter! — Wenn jetzt die geliebte Mutter sterben würde! — wie ein Wahnsinniger jagte er zum Telegraphenamr, — erst gestern hatte er den dritten Erfolg durch den Draht übermittelt — nun frug er an: „Mutier gesund?" Olga antwortete: „Täglich Wähler, glückselig Ihrer Erfolge!" Da überkam ihn eine weiche, webe Freude. — „Ich will Gutes thun, Ändere glücklich machen — ein Wvhlthätigkeits Concert will ich geben unv Margarethe soll Mitwirken. Nicht an der Krücke, an meinem Arm soll sie das Podium betreten — Anerkennung soll ihr werden, das bin ich dem Glücke schuldig." Er fuhr direct zu ihr, zu einer «tunde, wo sie ihn nicht erwartete. Ganz verwirrt empfing sie ihn. — „Reisen Sic fort?" hauchte sie kaum verständlich. Er fühlte, wie sie bei dem Gedanken litt. „Nein, meine liebe Collegia — ich habe mir etwas Schönes ausgedacht — ich gebe ein Concert und Sie begleiten meine Piöcen auf dem Clavier — ja, wollen Sie?" O, mein Gott, ob sie wollte — neben, mit ihm gehört werden! „Und eine kleine Pivce componire ,ch dazu extra für uns — Sie werden sie mir zu Gefallen spielen — eine An Ballade — ich habe auch schon den Titel: !Der Ring des Polyttates." „Seltsam", sagte sie träumerisch und dann riß das Ent setzen ihr die Augen aus, „Sie fürchten sich vor dem lieber maß Ihres Glücks, Sie wollen den Göttern ein Opfer bringen — nun, immerhin — ich will dies Opfer gerne sein, wenn eS Ihnen das Glück sichert!" Und sie sah gebrochen, tvdtbleich, wie ein Opferlamm den Streich erwartend, zu ihm empor. Der schöne Wabn, er wolle ihr ein Glück bereiten, zerschmolz an dem Titel der Sckicksals-Ballade — da begriff er erst, wie hart, wie egoistisch all' sein Thun war, vielleicht seblte ihm deshalb daS Eigentliche zum Glück — er nahm nur Liebe, wo sic sich bot, als etwas Berechtigtes, — aber er gab so wenig, eigentlich nur seiner Mutter trug er Liebe. Freundlichkeit, die ikm angeboren, aber keine tiefere Bedeutung batte, war Alles, was er für die leidende Menschheit hingegeden, — Worte, Blicke, keine Thatrn. „Nun, liebe Margarethe, lasten wir den Titet falle». — der Name tbut's nicht. Ich schreibe das Stück unv Sie sollen es nach Belieben taufen, jedenfalls spielen wir es
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