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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 14.01.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-01-14
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960114023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896011402
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896011402
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-01
- Tag1896-01-14
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Obgleich wir schon gestern die Meldung eines Münchener Blattes: ans Kreisen, die mit der Familie Bismarck auf ver trautem Fuße stehen, werde ihm von einer „starken Ver stimmung" des Altreichskanzlers berichtet, die den wahren Grund seines Fernbleibens von der Feierlichkeit zur Erinnerung an die Neubegründung deS deutschen Reiches im Weißen Saale des königlichen Schlosses zu Berlin am 18. d. M. bilde, — als „politischen Klatsch" bezeichnet baben. müssen wir beute nochmals auf diese Meldung zurückkommen, weil sich berausstellt, daß sie mehr als die Erfindung eines müßigen Kopfes ist und planmäßig die Absicht verfolgt, Mißklänge in das nationale Fest zu bringen und zugleich eine bestimmte Stelle zu treffen. Das geht schon daraus hervor, daß dasselbe Blatt auch von Verstimmungen redet, die in den Kreisen der deutschen Fürsten herrschten und zu Widersprüchen über die Frage ihrer Betheiligung an der Feier geführt hätten. Noch deut licher geht die böswillige Absicht der Urheber dieser Be hauptungen aus Meldungen hervor, die in anderen Blättern sich sinken. So wurde mehreren Zeitungen angeblich aus der Umgebung des Fürsten berichtet, dieser babe in einem Telegramm an einen süddeutschen Reichstags- abgeordneten sein Erscheinen in Berlin in sichere Aus sicht gestellt, und eine unmittelbar darauf folgende, angeblich aus Friedrichsruh stammende „Aufklärung", die besagte, der Fürst könnte ganz wokl nach Berlin reisen, wenn er nur möchte, war mit den Anfangsbuchstaben des Namens jenes Abgeordneten chiffrirt und bewegte sich in den Aus drücken einer Kunst, der er nicht fern steht. Da es dem betreffenden Abgeordneten nicht in den Sinn gekommen ist, eine solche Meldung zu verbreiten, so liegt hier eine grobe Irreführung der öffentlichen Meinung vor, eine Irreführung, die auf dieselbe Quelle hindeutet, von der daS Münchener Blatt getäuscht worden ist. Jedenfalls hat man es bei diesem Gewebe von Lügen wieder einmal mit einer Probe jenes elenden Treibens zu thun, dem Leille^.die..sich, nut Ge schick leichtgläubiger und sensationslüsterner Blätter be dienen, neuerdings nur zu häufig sich hingebcn und an dem man auch jetzt mit stillschweigender Verachtung Vorbeigehen könnte, wenn die angeblich von Intimen des Bismarck'schen Hauses kommende Meldung der „Münchener N. Nachr." nicht direct besagte, Fürst Bismarck habe den Kaiser in seinem Entschuldigungsschreiben, das bekannlilch den Gesundheitszustand des Geladenen als Grund des Nicht erscheinens angiebt, niit einer unwahren Angabe abgespeisl, und wenn nicht der Hinweis auf den angeblichen Ursprung rer Meldung andeuten sollte, der Altreichskanzler wünsche, daß der Kaiser darüber nicht im Unklaren bleibe. Man bat es also im Grunde mit einer Beleidigung des Reichsbegründers zu tbun, mit einer Beleidigung, die um so perfider ist, als sie den Zweck bat, den Kaiser gegen den Baumeister des Reiches gerade bei der Feier seiner glorreichsten Thal einzu- nebmen. Daß kein Intimer des Hauses Bismarck einer solchen Perfidie fähig ist, die sich nicht scheut, aus Ver- betznngszwccken den Fürsten der Lüge zu zeihen, versteht sich von selbst. Um so mehr wären diejenigen Blätter, die daS Opfer eines unter falscher Firma auftretenden Jntriguanten geworden sind, verpflichtet, das gemeingefährliche Individuum an den Pranger zu stellen. Morgen tritt der preutzische Landtag zusammen. Unter seinen bereits ausgezählten voraussichtlichen Ausgaben ist keine von größerer sachlicher Bedeutung. Deshalb wird eS sich in diesem Jubiläumsjahre deS Reiches besonders deutlich zeigen, wie die Erhebung Preußens zur deutschen Vormacht den allgemein politischen Schwerpunkt in das Reich verlegt und, soweit die Parlamente in Betracht kommen, ans dem Landtag in den Reichstag verschoben hat. Die mit der auswärtigen Politik, mit der grundlegenden W irth sch afts- und mit der Justizgesetzgebung zusammenhängenden Fragen hat der Reichstag zu cutfcheiden. Aus der anderen Seile verleibt die führende Stellung, die Preußen nunmehr verfassungs mäßig unter den deutschen Staaten einnimmt, den Ver hältnissen dieses Bundesstaates ein starkes allgemein deutsches Interesse, und es sind namentlich die hier herrschenden V e r w a l t u n g s g r u n d s ä tz e, die sich in den anderen Einzelstaaten wlderspiegeln. Der Wechsel im preußischen Ministerium des Innern, der sich seit dem Schluß der vorigen Landtagssession vollzogen hat, ist daher mit Recht als ei» Ereigniß deutscher Politik angesehen worden, mit um so größerem, als die Frage der Bekämpfung der aus gewaltsamen Umsturz binarbeitenden socialdemokra- li scheu Propaganda, wenn sie auch von der Reichsgesetz gebung einstweilen zurückgestellt ist, im Vordergrund des staat lichen Lebens festgehalten wird und das Verhalten Preußens in dieser Angelegenheit niemals ohne Einfluß auf dasjenige der anderen deutschen Regierungen bleiben kann. Gesetz geberisch wird Preußen nach dieser Richtung auch seinerseits nicht vorgeben, eine Gewißheit, der man sich mit ziemlich ungetbeilter Befriedigung hingiebt. Es wäre eine Aenverung des Vereinsgesetzes in Frage gekommen und durch diele würde, abgesehen von dem Bedenken gegen die einzel- staatliche Regelung einer Materie, für deren Ordnung die Verfassung dem Reiche die Zuständigkeit zuerkennt, nach Lage der Dinge die Activnsfähigkeil der bürgerlichen Parteien gegenüber der Sociatdemokratie voraussichltich empfindlicher beeinträchtigt werden, als die revolutionären Unterwühlungsbestrebungen. Eine DiScussion über daS be zechende BereinSgesech wuch-jadscch,.. nacktem durck die Hand habung desselben gegen die socialremokratischen Organisationen rechtliche und praktische Fragen aufgeworfen worden sind, im preußische» Abgeortnctcnhause nicht ausbleibe». Ein eminent deutsches Interesse bietet auch die Pole »Politik, für die die preußische Regierung der ganzen Nation verantwort lich ist und deren richtige und energische Führung auck nach dem formellen Abschluß der „Versötnilingsaera" nicut ohne guten Grund bezweifelt wird. Der Landtag würde sich mit ihr zu befassen baden, auch wenn, was jedoch ausgeschlossen ist, die üblichen Klagen der polnischen Angreifer über angeb liche deutsche Angriffe den Gegenstand nicht aus die Tages ordnung bringen sollten. Insbesondere wird es nicht an einer Erkundigung fehlen dürfen, ob den Enltusmiiiister die weil vorgeschrittene Verwirklichung seines Wunsches, die Ortsschul- anfsicht in den gemischtsprachigenBezirken wictervonkatholischen Geistlichen ausgeübt zu sehen, mit der erhofften Befriedigung erfüllt hat. Einige Rcmedurmaßregeln, denen selbst er sich nicht entziehen konnte, gestatten sie Annahme einer Ent täuschung, die sich freilich nicht in einem entschiedene» Handeln kiindthnn wird, da die Schulsorderungen der Polen mit denen des Centrums sich decken und die ultramontanen Ansprüche die suprsma lex für die gegenwärtige EultuSverwaltung ent halten. WaS aber auch in dieser Tagung nicht Kindern wird, daß die Fluthen klerikaler Beschwerden sich in den Sitzungssaal ergießen. Hat er, obwohl er eine nach einem von dem Neichstagswahlrecht so verschiedenen Systeme gebildete Versammlung beherbergt, doch auch „Fenster". Den, wenig löblichen Brauch deS Cen- lrumö, diese zur Einwirkung auf die Mafien zu be nützen, baben sich in den letzten Jahren auch andere Parteien angescklossen und namentlich ist das weitschweifige Debattiren über Reichs angelegenheiten zu einer dem preußischen noch weniger als den anderen Landtagen anstekenden Übeln Gewohnheit geworden Auch diesmal werden u»S werthlose Reden über Währung, Handelsverträge und Antrag Kanitz nicht geschenkt bleibe». Hoffentlich aber besinnt fick daS Abgeordnetenhaus insofern aus seine Pflicht, als es nicht, wie im Vorjahr, über dem Ueberflüssigen das verfassungs mäßig Nolbwendige, wie die Erledigung der Petitionen, ver nachlässigt und sich vergegenwärtigt, daß unnütze Verhand lungen den gemeinen Säckel unnütz belasten. Wir genießen auch heute noch das komische Schauspiel deS Rückzugs der englischen Presse in der Transvaal- Angelegenheit, der ganz plötzlich, wahrscheinlich auf einen Wink aus den Fenstern des seinen correcten Standpunkt fort gesetzt innehaltenden Auswärtigen Amtes in London, der schamlos-brutalen Hetze der verflossenen Woche gefolgt ist, aber in Einem sehen wir die Vertreter der öffentlichen Meinung in England sich völlig gleichbleiben: in derUnvcrschämtheik, mit der sie lügen nnd die öffentliche Meinung fälschen. Erst als es sich darum handelte, den Entrüstungssturm gegen Deutschland in Scene zu setzen wurde der Wortlaut der Depesche Kaiser Wilhelm's ein Sinn untergclegt, den Niemand sonst darin gefunden, jetzt schiebt man in unnachahmlicher Unverfrorenheit dem Kaiser Worte zu, die er weder gesprochen, noch geschrieben haben kann. Mit frecher Stirn versichert der „Standard", er sei er mäckligt (!), zu erklären, der Kaiser beabsichtige durchaus keine Aenderung der deutschen Politik England gegenüber, sein Krüger-Telegramm sei lediglich der Ausfluß erregter Stimmung gewesen, die aber längst vorübergegangen, und der „Daily Telegraph" ist von hochstehender Seite dahin unter richtet, daß der Kaiser in einem Handschreiben der Königin von England, in aller Form deprecirend, versichert habe, es sei ibm nicht in den Sinn gekommen, die Würde Englands zu verletzen. „Nun", so lautet der Refrain der „führenden" Londoner Blätter, „wenn Deutschland in dieser Weise nachgiebt, wenn es zugiebt, daß eigentlich gar nichts geschehen sei, dann brauchen wir »ns allerdings nicht mehr zu ereifern. Weshalb jetzt noch Krieg mit Deutschland führen wollen'? Der Casus ist keine» Tropfen Blut, ja kaum einen Tropfen Tinte wertb." Wir resolviren uns dieser unaufrichtigen Taktik gegenüber einfach vabin: wenn das englische Volk von seiner Presse sich derart an der Nase führen läßt, so ist es eine bessere Presse nicht wertb, in Deutschland aber erblickt man in dem ganzen Manöver lediglich die Maskirung des eigenen Rückzuges, der eigenen Niederlage. Im klebrigen machen wir die folgenden Bemerkungen der „Kölnischen Zeitung" wortwörtlich zu den unsrigen. Das Blatt schreibt, anscheinend vfsiciöS: Selbstverständlich entzieht sich die Privatcorrespondenz der Königin Victoria mit dem Kaiser Wilhelm der öffentlichen Keiiiitniß. Aber so viel kann auch die englische Presse als unanfechtbar annelmien, daß der deutsche Kaiser sich in diesem Briefwechsel auch nicht um eines Zolles Breite von der Linie entkernt hat, die seine ver. antwortlichen Rathgeber der britischen Regierung gegenüber eingenommen haben. Der deutsche Kaiser hat nicht den geringsten Grund gehabt, irgend Jemandem gegenüber die Worte seiner Depesche zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Alle solche Verdächtigungen und Verdrehungen beweisen nur anfs Neue die außergewöhnliche Kopflosigkeit, der die rngUscke Presse zu ihrem größten Thetl zum Ovser gelallen isi. Hoffen wir, daß sie bald wieder zu ruhigerem Urtheil und zu klarer, ni Erkennen der wirklichen Thatsachen zurückkehren wird." Klares Erkennen der wirklichen Thatsachen wünschen wir den englischen Preßpolitikern auch, und zwar vorzugsweise in Bezug aus die Stellung Englands den übrigen Machte:,, insonderheit Rußland und Frankreich gegenüber. Man bildet sich in London ei», man könne durch Zugestänt nisse an die beiden letzteren Deutschland, mit den, die übrigen Dreibundmächte ja nur noch zum Schein zusammengeben, isoliren! Was die letztere, der Tripel alliance die Lebenskraft absprechende Behauptung betrifft, so ist Lord Salisbury mit dem Versuch, den Dreibunt zu sprengen, ebenso unglücklich gewesen wie Lork Rosebery; er wird ihm auch jetzt nicht glücken, darüber sink wir völlig beruhigt. Die französische Presse, voran tie ossiciöse, hat bereits sehr unmißverständlich abgewintt, nur baß die Liebeswerbungen um das ausschlaggebende Rußland ebenso FiaSeo machen werden, wie der Flirt vom Deccniber 1894 zeigt ein Blick in die Petersburger Presse, die in aus nahmsloser Uebereinslimmung sich gänzlich ablehnend verhält. So schreibt die „MoskowSrija Wjedomosli" höhnisch: „Das Prestige Englands bricht zusammen, wird mit jedem Tage geringer; überall erleidet England Mißerfolge und muß unwillkürlich Stützen suchen. Im fernen Osten waren die Jn- trignen Englands resullatlos: Liao-Tong ist von den Japanern g, räumt und auch die Räumung Koreas naht heran; i» Amerika fand der Angriff ans das schutzlose Venezuela bei den übrigen ameritu- nischen Mächten Widerstand; in Transvaal ward der Uebersall ve, Engländer von der kleinen Republik mit eigene» Kräften zurück gewiesen; in der Türkei bat die Organisation des armenischen Auf ruhrS zu nichts geführt, ist es den Engländern nicht gelungen, dac- furchtbare Gespenst der orientalischen Frage heraufziibeschwören: die Räumung Egyptens steht auf der Tagesordnung, und überall, wo England sein Spiel treiben will, trifft es auf die Achtung ge bietende» Kräfte zweier Verbündeten — Rußlands und Frankreich-:, denen sich, um England Widerstand zu leisten, auch Deutschland beigesellt. Es ist verständlich, daß England aus die eine oder andere Weise diese ihm entgegenwirkende Eoalition zu entzweien such! und sich hierbei an die Seele der Coalition, an ihre stärkste Macht — an Rußland wendet. Rußland glaubt aber nicht an die trügerische englische Freundschaft. Rußland weiß es, daß die Engländer jedesmal, wenn es ihnen schlecht geht, „freundscha't- lich" ihre Arme öffnen, um Den zu erdrücken, den sie dann in ihre Arme bekommen. Und wenn die Engländer Rußland von Neuem zur Freundschaft aufrufen, so ist das nur eine neue und schwer- wiegende Bestätigung dessen, daß die politische Lage Englands sehr ins Schwanken geräth. Etwas Anderes können wir allen diese» Ausrufen und Erklärungen nicht entnehmen." Nnd welche Zugeständnisse gedenkt man in England den Russen anzubieten'? Man will ihnen das Mandat zur Be setzung Armeniens ertbcilen! England waren die Trauben zu sauer, jetzt soll sie Rußland heruntcrholen, aber cs bat schon wiederholt dankend abgelehnt. Es wartet, bis die Trauben reif sind und ihm von selbst in den Schooß fallen. ES be darf der Hilfe Englands somit im Orient durchaus nickt. Warten wir nun in Ruhe ab, was England weiter zu bieten hat. Die Pariser ErpressungSscandale, welche sich an den Namen des durch Selbstmord aus dem Leben gegangenen jungen Millionairs Max Lebaudy knüpfen, nebmen kein Ende. Nach der Verhaftung des de CestiS, des „intimen Freundes" Lebaudy's, nach derjenigen seines Bankiers Fei»rHetsir» Annalise's Pflegemutter. 10j Roman von L. Haidheim. Nachdruck vrrbottN. „Ich weiß nickt, was ich denken soll, Mama! Sie zieht ihn vor, aber — dann wieder weicht sie ihm plötzlich aus; ich verstehe sie nicht und ich glaube, Jochen weiß auch mcht, wie er mit ihr dran ist." „Und Glogowsky?" „Er ist eifersüchtig auf Jochen. Er wird alle Tage ge reizter gegen ihn und gegen Annalise." Die Mutter senkte bitter enttäuscht den Kopf. Um ihre arme Carola handelte es sich also nicht. Ob diese denn gar nichts dabei empfand'? Sie war ein stille«, liebevolles Wesen, das Herzensunglück hatte sie nicht verbittert, aber sehr zurück- baltrnd und scheu gemacht. * Für den Nackmittag war eine Fahrt nach ver Kreisstadt angesetzt. Es gab Allerlei zu besorgen; die jungen Damen fertigten ganze Register von notbwendig zu kaufenden Sachen an. Man frühstückte etwas zeitig und bestieg dann den be quemen Landauer. „Laßt unS über die Dörfer fahren, dann kehren wir beim Vogeldoctor ein", schlug Carola vor, als sie schon unterwegs waren. „Ja, za, wir müssen Annalise's Verwandten einen Besuch machen!" stimmten die Herren zu. So bog man von der Landstraße ab und fuhr eine Strecke durch den Wald, dann durch ein lang sich hinbehnendes, woblhäbigeS Dorf, und dann zeigte Carola ihnen schon von Geilem eine Kieferngruppe, in deren Schutz rin einsames Häuschen mit kleinen Nebengebäuden lag. „Dort wobnt er", erzählte sie, „aanz einsam, auf RufeS- weite hat er keinen Nachbar, Dienstboten hält er auch nicht, nutzer einer allen Frau, die ibm die Wirthschaft führt und die taubstumm ist." „Welck' entsetzliche, geistige Einsamkeit! Wie kann man dahin kommen?" Sie sprachen bin und her, was den Mann wohl so menschenfeindlich gemacht haben möchte. Auf Carola's Rath ließen sie den Wagen zurück. Annalise hatte alle Lust verloren, eigentlich überhaupt keine gehabt, ihren Namensverwandten leimen zu lernen, sondern nur dem Antriebe der Anderen nachgegeben. „Komm, Annalise, wir Beide gehen hinein, die Herren er warten unS, und wenn wir nickt bald zurückkommen, mögen sie uns folgen", schlug Carola vor. So wurde eS denn auch gemacht: die jungen Damen ver schwanden in dem schlecht eingezäunten Hofe. Er lag wie von jedem lebenden Wesen verlassen da; nur auS einem Schuppen seitwärts drangen viele Vogelstimmen in schreiendem Durcheinander. „Wo ist der Hund'? Pluto! Pluto!" rief Carola. Sie gingen in das vffenstehende HauS. Alles still! Kein Laut. Wie sonderbar ? die alte Frau nicht da, der Doctor nicht? „Es ist unheimlich still hier!" flüsterte Annalise, und sah sich enttäuscht um in dem einfachen, fast ärmlich eingerichteten Hausflur und der leeren Küche, die sie sich fälschlich doch phantastisch und seltsam vorgrstellt. Doch! WaS war das? Sie horchte auf. Ein sonderbarer Ton, wie dumpfes Stöbnen, drang durch das Haus. Kam er von oben? Oder aus der Stube? Carola lief die Treppe hinauf, nach des Hausherrn „Studirstube", denn sie glaubte den Ton von dort gehört zu haben; Annalise rüttelte an der verschlossenen Stuben- tbür, denn deutlich körte sie jetzt ein klägliches, erstickte« Wimmern. „Hier, Carola! Hier! Die Thür ist aber verschlossen!" rief sie blaß vor Schrecken der Freundin zu. „Hier ist Niemand, aber was kann da sein? Alles hier offen ? Himmel, was ist hier passirt?" kam deren Antwort zurück, nnd schon flog sic die Stufen wieder herab. Die Tbiir war von innen geschloffen, eine andere ebenfalls. Während Carola unruhig rief: „Sind Sie da drinnen, Doctor? Können Sie nicht öffnen?" erneuerte daS Wimmern sich. Annalise war dann um daS Häuschen herum au di« ebenerdigen Stnbenfenster gelaufen und suchte durch die Scheiben zu blicken. In der Stube lagen Möbelstücke, Kleider am Boden im wilden Durcheinander, nirgend war ein Mensch z» scben, doch körte sie wieder daS klägliche Jammern. Rasch entschlossen zerschlug sie mit dem Griff ihn« Sckirmes »ine Fensterscheibe, langte hindurch und fand den Riegel; das Fenster flog auf, Carola kam dazu, durch das Klirren des Glases aufmerksam geworden; die gewandte Annalise batte sich schon ins Fenster geschwungen, denn jetzt wimmerte es lauter und in angstvollster Weise. Ohne auf Carola zu warten, war daS bis aus die Lippen erblaßte junge Mädchen dem Jammertone nachgesprnngen, und nun stieß es einen lauten SchreckenSschrei ans. „Carola! Hilfe! Hilfe! Hier liegen sie, todt, ermordet! Rufe Deine» Bruder!" „Jochen, Jochen! Hilfe! Kommt schnell!" wiederholte diese, sich nach der Straße wendend, den Schrei. Vergebens versuchte sie dann, es Annalise nachzumachen, und durch daS Fenster in das Zimmer zu kommen, es wollte ihr nicht gelingen. Annalise rannte kreideweiß nach der Stubenthiir und öffnete sie. Kaum zwei Minuten dauerte es, so waren Jochen und der Graf im Zimmer, an der Kammertbür, und was sie dort sahen, rechtfertigte allerdings daS Aussehen Annalise's und das Geschrei Carola s. Am Boden auf der Erde, röchelnd, ganz in Blut ge badet, lag, halb angekleiket der alte Doctor, von Wunden bedeckt; auf dem Belte gebunden und geknebelt seine alte Magd, dem Ersticken sehr nabe „Wasser! Wasser!" Annalise brachte es, nnd sie gossen es über de» bewußtlosen Hausherrn. Ei» großer, allmodiscker Hvlzkoffer stand offen daneben, sein Inhalt bedeckte herausgerissen und durcheinander geworfen den Boden der Kammer und der Stube. Die alte Frau schien bei vollem Bewußtsein; sie war cs, welche gewimmert batte, sobald sie mit dem oft merkwürdig feinen Sin» der Taubstummen die Anwesenheit von Menschen im Hause „fühlte". Carola nahm ihr zuerst den Knebel auS dem Munde; unterdeß schnitt Jochen die starken Bindfäden durch, die ibr ganz ins Fleisch gedrungen waren. Der Doctor batte die Augen geöffnet. Glogowsky schob ein Bündel Kleider unter seine» Kopf Er blickte fremd und und starr, aber mit sichtbarem Wohlgesühl in das blasse, liebliche Mätckenantliy, das sich über ib» beugte und ibm ' Wasser, welches der Graf abermals au« der Küche geholt, an die Lippen dielt. Er trank mühsam, aber eS erquickte ihn unbeschreiblich Und wieder sab er groß und fragend in die blauen, tiefen Augen und auf das blonde Köpfchen, das den seinigen so nabe war. „Was ist hier geschehen, Herr Doctor? Sind Sie über fallen?" fragte Jockei, den alten Mann. Jetzt erst kani diesem das Bewußtsein seiner Lage und des Erlebten; man sab ibm an, er suchte sich zu erinnern. Cr ächzte schmerzlich und bemühte sich, mit der Hand nach seinem Kopfe zu kommen, war aber offenbar zu schwach „Hätten wir nur Wein oder Brauntwein!" ries Aunalisc. Er sah sie verstehend und dankbar an. „Keller!" lallte er. Jochen nnd Carola machten sich auf die Suche, während Glogowsky den Alten aufzurichten suchte. Das schien er aber nicht ertragen zu können. Annalise steckte ibm noch eins der Bettkifsrn unter den Kopf. Dann wusch sie ibm mit einem Tuche da« Blut von, Gesicht, energisch die Scheu und den Widerwillen bekämpsent. Glogowsky sab sie bewundernd und verliebt an, sie achtete aber darauf nicht weiter. Ihr Taschentuch in da« Wasser tauchend, legte sie es auf die klaffende, blutige Slirnwunde, deren geschwollene Ränder dem alten Manne schlimme Schmerzen zu macken schienen Er batte ein gutes Gefickt mit sanftem Ausdruck. Wieder blickte er sie mit gerübrter Dankbarkeit an, auch Glogowsky; nnd als jetzt Jockc» mit einer bestäubten Flasche kam und ibm tröstend zurief: „Jetzt, alter Herr, wollen wir Tie bald auf die Beine bringen, da nickte er sogar, nnd »in schwaches Lächeln begleitete sein unartikylirleS Stammeln, auS dem man seinen Dank erratlicii mußte. Der Wein belebte die beiden Alien wunderbar. Jnzwisckc» »ittßle man aber wirksamere Hilfe haben. Jochen schlug vor, den Kutscher in die Stadt ZUIN Doctor und Gerickl zu schicken. Das war auck das Beste. Carola und Annalise stiegen die Treppe binauf und brachten aus des DoctorS Kammer, die „eben seiner Studirstube lag, Betten herab. An ihnen vorüber flog kreischend der alte Rabe, der dort cingcsprrrl gewesen und sehr zornig war. Als sie »lit ihrer Kiffenlast berabkanien, hüpfte der große schwarze Vogel in äußerster Aufregung um seinen Herrn herum und rief m merkwürdiger Deutlichkeit: „Aber mein alter Kamerad! Aber was für Geschickten! Dummbeilen! Nicht als Dummbeiten! Bleibt mir mit dem Menschen vom Leibe! Komm'! komm', mem Junge! Kopf oben!"
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