02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.02.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-02-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970217028
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- LDP: Zeitungen
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- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-02
- Tag1897-02-17
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Beide überboten sich i» der Behauptung, daß die Zurückschraubung der Handwerksorgani sation um dreißig bis achtzig und mehr Jahre — die einzelnen deutschen Länder haben sich zu verschiedenen Zeiten von der Zunft losgemacht — erfolgen müsse im Interesse des Mittel- nandeS, also des Rückgrates der Gesellschaft; in der Versiche rung, daß Kirche und Staat zu Grunde gehen und die Socialdemokratie obsiegen werde, falls man noch länger mit der Anwendung der empfohlenen Heilmittel zögere. Im Reichstage und auf den Handwerkertagen lösten sich konser vative und Centrumsabgeordnete in der Vorbringung dieser unumstößlichen Wahrheiten ab. Nun hat aber jetzt einer der beiden Socien, ob in böswilliger Absicht, weiß man nicht, einmal das Geschäft allein gemacht, und sofort erfährt man vom andern, daß Alles — Schwindel sei. Die Conservativen haben, wie gemeldet, im Reichstage die Anfrage eingebrachl, wie es mit dem Berlepsch'schen OrganisationSentwurf im Bundesratb stehe. Deswegen bekommen sie von der „Germania" Dinge zu hören, die von Anderen über die „Hypnotisirung" des Handwerks zwar schon oft, aber — wenigstens auf gemäßigt-liberaler Seile — niemals mit der schonungslosen Schärfe gesagt worden sind, die der Cvncnrrenz- ueid dem Centrumsblatte eingiebt. Man höre: „Einen praktischen Erfolg kann die Interpellation kaum haben. . . . Also muß die Bermuthung Platz greisen, daß es den Herren Interpellanten nur darum zu thun ist, sich bei den Hand werkern für die nächsten Reichstagswahlen zu empfehlen. Nach dem Bauernfang der Handwerkerfang!" Weiter: „Seitdem die Conservativen der Socialreform die kalte Seite zuwenden, werfen sie sich init viel Lärm als Vorkämpfer der Handwerker ans. (Der Beginn dieses „Handwerkerfanges" reicht, wie beim Centrum, viel weiter zurück. Die Red.) Wer darin etwas Anderes zu sehen vermag, als billigen Stimmenfang, dem wollen wir seinen guten Glauben nicht rauben. Die Herren Conservativen denken an sich und Niemand anders;da es aber nichts kostet und doch für die Mahlen sich lohnt, geben sie sich als die aufrichtigsten Freunde des Handwerks. Ten meisten von ihnen liegt in Wirklichkeit kein Pfifferling am Handwerk." Ein Bildniß zum Sprechen ähnlich! Da aber Conser- vative und Klerikale gewerbepolitische Doppelgänger sind, zugleich ein Selbstportrait von photographischer Treue! Welche Thatsachen könnte das Centrum anführen, die seine Agitation für Zwangsinnung und Befähigungsnachweis in einem andern Lichte erscheinen ließen, als die konservative Propaganda? Keine einzige. Auch in der aufreizenden Sprache, in dem Bestreben, das Handwerk als das Opfer übelwollender Regierungen einer bei den Wahlen ergiebigen Verzweiflung preiszugeben, standen die Ultramontanen nie mals hinter dem Compagnon von gestern zurück. Man er innere sich nur an das „mit Blumen geschmückte Grabkreuz", das nach einem Worte des schlesischen CentrumSmitgliedes Metzner die Regierungen durch die Weigerung, den Be fähigungsnachweis zu acceptiren, dem Handwerk gesetzt haben sollen. Jetzt freilich, d. h. heute, übermorgen wohl schon nicht mehr, findet es die „Germania" „ganz verkehrt, wenn sich nun die Handwerker die AgitatiouSmcthodc des Bundes der Landwirthe aneignen". Auch diese tugendbafte Anwandlung des frommen Blattes hat ihre besondere Veranlassung.^ Am Freitag wurde nämlich in Berlin eine „allgemeine" Hand werkerversammlung — d. h. eine Versammlung der für den Befähigungsnachweis eingenommenen Minderheit — abgehalten unv dort dem Centrum eine kühleHaltnng zum Vorwurf gemacht. Zieht man daneben die Tbatsache in Betracht, daß aus der Generalversammlung des Bundes der Landwirthe sehr viel in Handwerkerfreundlichkeit gemacht wurde, so begreift sich eine gewisse Beunruhigung bei den Klerikalen. Herr v.Ploetz sucht schon lange in Reinlanv und Westfalen in Centrums- jagdgründe einzudringen; wenn er die Ultramontanen zünftlerisch übertrumpfen könnte, so hätte er ja Aussicht auf den Gewinn von bisher vom Centrum lüstern gemachten, aber nicht gesättigten Handwerkern. Aber das Centrum wird ihm keinen Vorsprung lassen. „Es kostet nichts und lohnt sich für die Wahlen, sich als Vor kämpfer des Handwerks aufzuspielen", hat ja die „Germania" selbst aus der Erfahrung ihrer eigenen Partei heraus versichert. Außer dieser geschäftlichen Differenz ist über den Stand der Handwerkerfrage noch zu erwähnen, daß die „Post" es lieber gesehen bätte, wenn die Conservativen das Schicksal des Berlepsch'schen Entwurfs imprcußischenAbgeordneten- hause zur Sprache gebracht hätten. Das Blatt hat von seinem Standpniict aus — eS ist neuerdings ein eifriger Befürworter deö Befähigungsnachweises geworden — Recht. Es meint, die Interpellation würde Gelegenheit bieten, im Bundesratbe die den Wünschen der Innungsgenossen geneigte Strömung zu stärken. Verfolgt man diesen Zweck, so muß man allerdings an die preußische Negierung herangehe». Denn bet allen anderen Regierungen, die die Zwangsinnung nicht rundweg ver werfen, ist die Geneigtheit, von der die „Post" spricht, nur an cm Pfunden. Aber auch innerhalb der preußischen Negierung befindet sich kaum eine Stelle, die sich zu dem Berlepsch'schcu Entwürfe mit elementarerGewalt gezogen fühlt. Kaum hat Herr v. Ploetz in der Generalversammlung des Bundes der Landwirthe auf das Energischste die Behauptung verfochten, daß die ostelbischen Großgrund besitzer keine anderen Ziele verfolgten als die westelbischen und daß cs daher Pflicht der gesammten Landwirthschaft gegen sich selbst sei, wie ein Mann zu dem Bunde und seinen ostelbischen Mitgliedern und Führern zu stehen, so tritt im preußischen Scrrcnhause ein schroffer Gegensatz zwischen den Interessen der Ostelbier und ihrer ssid- und westdeutschen BerusSgenossen zu Tage. ES handelte sich um einen Antrag auf Wiedereinführung der Staffeltarife. Man erinnert sich, daß die Staffeltarife im Interesse der süddeutschen und westdeutschen Lanvmirtbschaft gleichzeitig mit dem Zustande kommen deö russischen Handelsvertrages aufgehoben wurden. Nun wird von den ostdeutschen Großgrundbesitzern ihre Wiedereinführung gefordert. Die Interessen sind darum entgegengesetzte, weil die westdeutschen Großgrundbesitzer befürchten, daß ihnen durch Ucberschwemmung mit ost deutschem Getreide die Preise für ihre Erzeugnisse ge drückt werden würden, während andererseits die ostdeutschen Großgrundbesitzer bei einer Verbilligung des Transportes auf eine» erheblichen Absatz ihres Getreides im Westen hoffen. Die Erregung der westdeutschen Großgrundbesitzer über den Antrag zeigte sich am deutlichsten in der Acußernug des Freiherrn von Solemacher, man möge den Antrag als eine „undeutsche Zumuthung" zurückweisei^, eine Aeußerung, die dem Anträge eines Berufs- uud StandeS- genossen gegenüber doch höchst unfreundlich ist. Vom Stand- puuctc der Interessen des westdeutschen Großgrundbesitzes wird mau freilich dem Frhn. von Solemacher nicht Unrecht geben können, denn die von einem Gegner getbane Aeußerung, wenn der Westen nicht ostdeutsches Getreide bekomme, so bekomme er eben nur außerdeutsches Getreide, so daß es also sür den westdeutschen Großgrundbesitz kein Nachtheil sei, wenn ihm das ostdeutsche Getreide Concurrenz mache, ist nicht stich haltig. Das nichtdeutsche Getreide würde dock herein- kommeu, und je größer die aus den Markt geworfene effek tive Waare ist, desto mehr wird natürlich der Preis gedrückt. Daß bei den gegenwärtigen, für die Land wirthschaft so schwierigen Zeiten jeder Theil sein Interesse zu wahren sucht, kann mau keinem von beiden ver übeln; nur meinen wir, müßte die Landwirthschaft aus dieser Tbatsache die Lebre ziehen, daß da, wo ihre gemeinsamen Interessen mit denen anderer BerusSstände collidiren, cs diesen Ständen nicht verdacht werden kann, wenn auch sie ihr Interesse wahrnehmen. Das Beste sür alle Theile und sür das StaatSwobl ist eS, wenn durch gegenseitiges Nachgebeu ein Weg zur Verständigung gefunden wird. Die Rede des Herrn von Ploetz im Circus Busch giebt freilich wenig Hoffnung auf eine Beendigung oder auch nur Milderung des leidenschaftlichen wirthschaftlichen Kampfes, bei dem materiell wohl bald die eine, bald die andere Partei einen Vortheil haben mag, bei dem aber politisch nur die Socialdemokratie ihre Rechnung findet. Nachdem durch das entscheidende Eingreifen desdeutschen Kaisers die Action der Mächte in der kretenstschen An gelegenheit in Fluß gekommen ist — offenbar ist daS ver spätete Eingreifen derselben daher zu erklären, daß keine den ersten Schritt zu thun wagte — schreiten die Ereignisse mit dramatischer Raschheit und Folgerichtigkeit fort. Griechenland denkt nicht im Entferntesten daran, daS Signal zum Rückzug zu geben, vielmehr setzt es seine kriegerische» Rüstungen unter dem wachsenden Jubel des Volkes fort. Zahlreiche Truppen sind auf Kreta gelandet, der Commandeur derselben, VaffoS, hat, wie uns gemeldet wird, dem im Namen der vereinigten Geschwader von der Landung der Marinetruppen Mittheilung machenden und von jedem Angriff auf die Festungen ab- rathendeu Admiral Canevaro erwidert, er lehne jede Antwort ab, und auch der griechische Marinecommandant hat daS Ultimatum der Mächte unbeantwortet ge lassen. Statt dessen haben die griechischen Truppen sich den Aufständischen zugcsellt und an Angriffen auf die Muhamedaner Theil genommen, ja, wenn sich die schon in einem Theil des heutigen MorgenblatteS enthaltene Athener Nachricht der „Agence Havas" bestätigt, ist daS Fort Aghia (wohl ein Theil der Befestigung KaneaS) von griechischen Truppen angegriffen und genommen worden, wobei 400 Türken, darunter 10Ö Soldaten, gefangen genommen wurden. Das wäre der Gipfel griechischer Rücksichtslosigkeit, um uns nicht stärkerer Aus drücke zu bedienen, denn in Kanea sind die Vertreter der Mächte versammelt, dort sind die ersten 400 Mann zur Occupiruug der Stadt gelandet: ein Angriff auf Kanea wäre also gleichbedeutend mit der Eröffnung der Feindselig keiten gegen die europäischen Mächte selbst. Jetzt wäre also bereits der Augenblick gekommen, wo die letzteren mit Gewalt maßregeln vorzugehen hätten, denn ein solches Einschreiten ist vorgesehen „für Kämpfe in den Küstenorten nnd für den Fall, daß griechische Kriegs- nnd Aandelsschiffc aus Kreta zu landen versuchen". Auch in Rethtzmo und Heraklion ist die Lage höchst gefahrdrohend geworden, so daß die Ausschiffung gemischter Detachements bereits erfolgt sein dürfte. Die „Hydra" und zwei kleinere griechische Kriegsschiffe erschienen gestern in Sicht von Kanea. wagten aber nicht zu landen, da sie englische und französische Kreuzer zu ihrer Verfolgung bereit fanden. Nach all' dem (ausführlichere Miltheilungen bringen wir an anderer Stelle- sind die Dinge so weit gediehen, daß man jede» Augenblick die Nachricht erwarten kann, daß griechische Truppen mit den Detachements der Mächte handgemein geworden sind. Vorerst ist ja die Macht der Letzteren noch verhältnißmäßig gering und damit scheint man im griechischen Lager zu rechnen. Unbegreifliche Kurzsichtigkeit? Sollte Griechenland eS wirklich soweit kommen kaffen, daß seine Kugeln den Weg in die Reihen der europäischen PacificationStruppen finden und diese gar zum augenblicklichen Rückzug uvthigen, es bedürfte nur eines kleinen Aufschubs und Griechenland läge zermalmt am Boden, um sich nicht mehr zu erheben. Aber wir glauben nicht, daß eS sich soweit vcrirreu wird. Sind die Mächte doch jetzt, wie wir voraussagten, davon abgekommen, die Türkei von Truppensendungen nach Kreta abzuhalten und ist infolge dessen zu erwarten, daß die Streitkräfte deS Sultans selbst mit den verbündeten Griechen und Kretensern fertig werden. Man meldet uns hierüber: * Koustantinopel, 17. Februar. (Telegramm.) Meldungen deZ „k. k. Wiener Tel.-Corr.-Bm " Heute ist die Bildung zweier Geschwader sür Kreta, die aus 9 Kriegsschiffen und 20 Torpedobooten bestehen und denen sich auch die Stations schisse im Mittelmeere anschtießen sollen, beschlossen worden. Der Marineminister hat einen außerordentlichen Credit von 500000 Pfund beansprucht. — Nach einer Drahtmeldung aus Kanea hat das Transportschiff „In ah et" in Sitia auf Kreta türkische Truppen gelandet. Im Ganzen sollen — ein Plan, der allerdings noch der Genehmigung des Sultans harrt — 50 000 Mann Marine- uno Reservisten-RedifS einberufen werden, auch denkt man an die Indienststellung der gesammten Flotte. Das wird um so nöthiger sein, als Griechenland auch in Makedonien einen Schlag vorzubereiten scheint, die Beorderung türkischer Truppen nach der tbessalischen Grenze, von der man wieder zurück gekommen war, dürfte sich also kaum mehr verzögern lassen. Allem Anschein nach stehen wir am Borabend blutiger Ereig nisse, denn Griechenland ist entschlossen, Alles aufs Spiel zu setzen und sür die Türkei sowohl wie für die Mächte giebt cs keinen Rückzug mehr. Wie auS Paris verlautet, hätte der deutsche Kaiser den Mächten den Vorschlag unterbreitet, eventuell eine Flotten-Demonstratio» im Piräus zu veranstalten. Wir halten es nicht für unmöglich, daß der Kaiser zum zweiten Mal den Anstoß zu einem energischen Handeln gegeben hat, das geeignet ist, auf Griechenland Eindruck zu machen, denn bei dem kühnen schlagfertigen Vordringen des letzteren, daS noch manche Ueberraschung bringen kann, nimmt sich das zögernde, von Drohungen zu entscheidenden Thaten nicht fort schreitende Verhalten der Mächte recht fragwürdig aus. Ferrilleto« Zn der Irre. 13j Novelle von M. v. Oertzeu. Nachdruck Verbote». Julia» starrte dahin. Sein Gesicht war bleich uud über wacht . . . Plötzlich begann er die Treppe zum Dache hinanzusteigen. Droben wölbten sich die Schatten der jungen Linden und beS Hollunderbusches in unveränderter Frische uud Fülle. Ter Regen des gestrigen Abends hatte ihnen einen Smaragd ton verliehen, der weithin leuchtete, und an den Schling pflanzen hatten sich große Blumen aufgethan — Weiße und blaue Kelche, die bei der Berührung einer menschlichen Hand welkte», doch nun ihre Glocken erschlossen, in denen die Tropfen noch immer ruhten .... mweilen, wenn der Wind die Ranken bewegte, rollte solch ein Tropfen aus der Blumen muschel und fiel inS GraS. Eine weiche Hand legte sich auf Julian'S Arm. Er er schrak: er hatte Niemand gesehen. „Was willst Du hier, Julian, was fehlt Dir?" fragte Rcsa. „Alles!" sprach sein Mund, bevor er eS gewollt. Denn nun gewahrte er Camill. „Seit wir hier zuletzt geweilt, ist vieles anders geworden", fuhr er fort. „Verwüstung? Verwüstung!" „Ja", sagte Resa beklommen. „Wir waren sehr glückliche Kinder, Abalhart", sprach Julian weiter. „Noch vor zwei Jahren — aber eS ist nicht mehr dasselbe. Ich bin gekommen, mich zu verabschieden." „Du — jetzt — heute?" rief Resa auS. Der Strauß blauer Winden entfiel ihren Händen. „Du bist erst seit vor gestern hier — „Ja, und dock' zu lange. Ich habe das Paradies meiner glücklichen Tage wiedergcsehen. Und nun ist es vorbei —" Camill blickte Resa an, die matt an der Mauer lehnte, »ud Julian, der so seltsam in sich binein sp- ich, fast wie ein Irrer . . . „Sie haben sich sehr rasch entschlossen, Ihren Aufenthalt auf Burg Horst zu kürzen", warf Camill ein. Seine ruhig« Stimme weckte Julian. „O ja, sehr rasch", murmelte er. „Und May — ?" fragte Resa. „Sie packt. DaS Hochwasser hat ja all die trauten Plätzchen zerstört, die sie kannte und — liebte — nnd sie ist sehr abergläubisch — auch hat sie sich gestern den Schnupfen geholt —" „Ihr wollt doch nicht gleich fort?" „Matz wird mir am Abend folgen. Ich selbst mache mich jetzt zu Fuß auf die Wanderung — ich möchte im Ab stieg zugleich den Schaden ansehen, den die Wolkenbrüche ver ursacht. Du weißt ja, Resa — ich laufe mich immer gesund nnd munter!" „Dann also — lebe wohl?" fragte sie mit zitternder Stimme. Camill wandte sich ab, um die Beiden nicht zu stören. „Julian, und wirst Du wieder glücklich werden, ganz glücklich?" sagte Resa leise. „Sprich!" Da preßte er ihr Handgelenk, daß cs sic schmerzte. „Nach Glück strebe ich nicht mehr — nur nach Ehre und Ruhm — ich werde arbeiten und Carrivre macken — adieu!" „Aber — May", sprach Resa zaghaft. „Willst Du nicht versuchen —" „Nein!" sagte er hart. „Weißt Du, waS es heißt, einen steilen Berg mühselig zu erklettern, weil man hofft, »ach allen Leiden und Schmerzen von oben den Blick in ein schönes, sonnige-, fruchtbares Land zu gewinnen — in rin neues Kanaan —, wenn man jedoch sein Ziel erreicht, so trifft das Auge anstatt des ersehnten Paradiese- eine flache, sandige Einöde — so ist es mir ergangen, Resa — Einöde! Einöde! Doch ich Hab- gewollt. Nochmals adieu!" Er machte kurz Kehrt und ging die Treppe hinab. Er hatte vergessen, sich von Camill zu verabschiede». „Ihr standet Euch nab. Du und Dein Vetter", sagte Camill zu Resa. „Warst Du nicht in der Schule, als erlich verlobte?" „Doch", antwortete sie. „Aber ich kam bald darauf nach Hause. Es war traurig —" „Was?" „Ich war sehr einsam. Peine Mutter nnd Julian immer mit anderen Dingen beschäftigt —" Resa stockte. Der Kamps jener vergangenen Tage drängte sich ihr auf die Lippen, sie batte Jemand, dem sie vertrauen durfte. Damal» hatte sie Nwmand. „Armes Kind", murmelte Camill. „Arme- Kind! Du bist wahrlick verlassen —" „Der Grund unter den Füßen war mir geschwunden", sagte sic. „Und Du, hast Du Deine Cousine Matz gern?" „Frage mich nicht darnach", erwiderte sie ernst. „Ich bin nicht gerecht, kann ihr gegenüber nicht gerecht sein, denn sie hat sein Leben verdunkelt —" Ihre Hände zitterten heftig. Einen Augenblick bezwang sie sich, dann druckte sic den Kops au einen Baumstamm und schluchzte. Camill sah sie an, sah, wie sie weinte und erblaßte. „Armes Kind!" sagte er noch einmal. Doch ei» nagender Schmerz überwältigte ihn auf wenige Minuten. „Weine! Weine! Ich zürne Dir nicht . . „Du bist gut, Camill." Er nickte und lächelte — ein trauriges Lächeln der Entsagung. ,^Willst Du jetzt nicht kommen ?" Sie schritt ihm voraus, die Blumen, die sie gepflückt, blieben im Grase liegen. Die Sonne entfaltete einen Strahlenkranz, der gleich einer Glorie um den Thurm der Ruine glühte. Durch die bunten Scheiben deS Spitzbogenfensters im Saale sprangen rothe, grüne und blaue Funken, Rubinen, Saphire. Sie tanzten aus May's Hellem Kleid nnd über Resa'S Haupt. Auch über den weißen Scheitel Herrn v. Willow'S, der seiner Nichte Matz deS Längeren erklärte, wie eS zugegangen, daß der Wolkenbruch ihn ans der Ringmauer überraschte, als er seiner Gewohnheit gemäß dort die Zeitung laS. Bei Sonnenschein plaudert sich'» gut von Sturmnächten und die einer Gefahr Entronnenen sprechen von nicht» lieber als von der Gefahr. May seufzte. Sie summte eine Melodie — nachgerade langweilte sie sich. „Singe!" sprach der alte Herr. „Singe da» Lied von der Sonne!" Resa machte unwillkürlich eine abwehrcnbe Bewegung. ,,Wa» ist da» für ein Lied?" fragte Camill kurz. „Ein Liebling»lied von Julian", erklärte Herr v. Willow. Während er sprach, stieg eine dunkle Röthe in Resa'S Gesicht, bi» in die Schläfen. Camill wandte rücksichtsvoll den Blick ab . . . May sang da» Lied: Wie gerne Dir zu Fich», Stürb ich in stummer Qual, Doch lieber möcht' ich springen empor Und küssen Dich tausendmal — Resa warf den Kopf in den Nacken und suchte Camill « Äuge, fast gebieterisch, erwartungsvoll, doch er blickte auf sic nieder, kühl, ruhig, unbewegt, nur sehr blaß. Sie erhob sich. Und als er sich noch immer nicht rührte, ging sie hastig auS dein Zimmer. Draußen, auf dem Flur, streckte sie die Arme der Leere entgegen. Aber es war eben nur Leere, kein warmes Blut, keine Menschenbrust, kein Menschenarm, der sie umfing Leere! Alles, wie sie eS gewollt. „Also da» war Julian'S Lied", sagte Camill. „Ick danke Ihnen." Und er schlug einen Band seiner „staubigen Bücher" auf, sich darin zu vertiefen. Gegen Abend bestieg Map ihren Wage», verabschiedete sich von Allen und nur Resa flüsterte sie inS Ohr: „Mir ist es leid um de» armen LarinSkn, er hätte mir bester gefallen al« der andere, hätte ich die Wahl gehabt —" Fort rollte der Wagen. Frau v. Willow schüttelte dcu Kopf, znm ersten Male war ihr das „Verhältniß rer beiden Ehegatten" etwas sonderbar erschienen und sie bedauerte leb Haft, daß Matz'S Feinheit und geistige Grazie in Julian so wenig Verständniß gesunden. „Er bat sich traurig verändert", seufzte sie. „Er versumpft in dem Neste —" „Er war früher heiterer?' fragte Camill. „Oh — der Frohsinn selbst. Ein Sonnenschein! Aber diese heiteren Naturen pflegen rascher in der Blüthe geknickt zu werden als die melancholischen, ernsthaften — sie Halen keine Widerstandskraft! Himmel, was ist Dir, Resa? Ick glaube. Du —" Camill wandte sich hastig, gerade zur rechten Zeit, Resa am Arme zu halten; denn ein Schwindel balle sie erfaßt nnd sie wankte ... „Ja", fuhr Frau v. Willow grausam fort, „er gehört zu Den jenigen, die durch Vernachlässigung und finstere Launen ibre Frauen dazu treiben, Vergleiche anzusiellen —und den Unterschied zu merken — wenn die Frauen nämlich kein Fischblut haben!" Resa erwiderte nickt» „Oh, schweige Du nur. Du warst auch ein kleiner, lustiger Kobold von Kind — und nachher war«, wir ab- geschllitten ... ich begreife die Welt nickt mehr!" Und zornig, sich über ihren Werter ärgernd, rausckle Fra» v. Willow ins Hau«, um die Schneiderin über eine falsch zu geschnittene Rockbreite zur Rede zu stellen. „Ich begreife die Welt desto bester", sagte Camill. „Abc man lernt stets zu spät . . Er verließ Resa und begab sich auf sem Zimmer.
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