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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.04.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-04-21
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970421022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897042102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897042102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-04
- Tag1897-04-21
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Die Zuschrift lautet: „Inder letzten Sitzung des Schöffengerichts zu Birnbaum kam eine Angelegenheit zur Verhandlung, welche nach den verschiedensten Richtungen hin interessant ist, vor Allein auch« in der Beziehung, mit welchen Schwierigkeiten die Behörden in Posen zu kämpfen haben, wenn die Autorität der Gesetze und die Widerstandskraft des Klerus einander gegenüberstehen. Es handelte sich um folgenden Thatbestand: Mitte December fand in Zicke ein „Missionsfest" statt; es dauerte fast eine Woche. Während dieser Zeit waren als Mijsionsgeistlichedrei fremde Geistliche anwesend und predigten unter großem Zulauf. Sie waren auch noch anwesend, als der Weihbischof Likowski als Abschluß des Festes die Firmung ertheilte. Da sie in der Probstei abgestiegen waren und hier auch nächtigten, hatte der Bürgermeister deS Ortes pflichtgemäß an den Probst — der, beiläufig bemerkt, Len deutschen Namen Hennig führt, aus einer deutschen Familie stammt und das Polnische vorläufig nur soweit beherrscht, Laß es den Nationalpolen Anlaß zu heiteren Bemerkungen giebt — die Aufforderung ergehen lassen, die fremden Geist lichen polizeilich anzumelden. Der Probst reagirte nicht dar auf. Die Polizei schritt nun ein und lud zur Vernehmung die Psarrwirthin in das Amtslocal des Bürgermeisters vor. Dabei kam es zu einem Intermezzo, das außerordentlich bezeichnend ist. Der seit wenigen Wochen probeweise amtirende, mit den hiesigen Persoualvcrhältiiisscn nicht genügend vertraute Polizeibeamte bc- stellte die Vorladung an die Nichte des Probstes, die sich als die Wirthin ihm gegenüber gerirt hatte. Ter Probst wider- setzte sich natürlich der Vorladung der Nichte und sparte dabei ausfällige Redensarten nicht, hütete sich aber» den Polizei beamten über seinen Jrrthum auszuklären, worauf dieser sich wieder anschickte, zwangsweise die vermeintliche Wirthin vor zuladen, und der Probst gegen den Bürgermeister wegen Miß. brauchs der Amtsgewalt klagte. Diese Klage wurde nach Lage der Umstände ab gewiesen, ebenso blieben mehrere andere von polnischer Seite direct und indirekt gegen den Bürgermeister veranlaßte Denunciationen erfolglos. Dagegen blieb es schließt lich dabei, daß der Probst wegen Unterlassung der Anmeldung von der Polizeiverwaltung mit einer Strafe von 15 Mark belegt wurde. Der Probst erhob nun auch gegen diese Strafe Widerspruch und so kam es zu der oben erwähnten Berhanb lung. Der Probst bestritt, die Geistlichen beherbergt zu haben, der Kutscher aber, der sie von und zur Bahn gefahren hatte, be kündete, er habe die Reise-Efsecten der Herren auf der Pfarre bei der Ankunft abgeladen und sie bei der Abfahrt dort wieder nufgeladen. Die Herren wären von dort von ihm nach der Bahnstation Kwiltsch gefahren worden; in Kwiltsch hätte er sie aber aufs Schloß fahren müssen und der Graf von Kwilecki, der polnische Reichstagsabgeordnete, hätte sie bereits erwartet. Darauf wurde der Bürgermeister verhört und erklärte, er wisse aus absolut sicherer Quelle, daß die Missionare bei dem Probst während des mehrere Tage währenden Missionsfestes genächtigt haben; aus amtlichen Gründen könne er seinen Gewährsmann nicht nennen. Amtlich sei bereits sestgestellt, daß eS Jesuiten gewesen seien. Auf Befragen erklärle der Probst, der sich nun unter allgemeinen Redensarten wand, er wolle sich doch nicht selbst beschuldigen. Obgleich die Verurteilung gemäß dem Anträge des Amtsanwalts ohne Weiteres hätte erfolgen können, so wurde doch, um alle Beweismittel zu erschöpfen, zunächst die Vor ladung der Hausgenossen beschlossen." Die „Nat.-Lib. Corr." bemerkt zu dieser „eigenartigen Illustration": „Bon anderer vertrauenswerther Seite wird uns bestimmt mit- gethcilt, daß dieselben Jesuiten, die aus Krakau gekommen und allem Anschein nach Polen waren, auch in Schwerin a. W. eine Mission abgehalten, hier deutsch gepredigt haben, dann amtlich als Jesuiten erkannt und ausgewiesen worden seien. Uns interessirt dabei zweierlei vor allen Dingen: Zunächst, daß der Weih bischof vr. Likowski mit den Herren zusammen gekommen ist. Und dies berechtigt zu der Frage: ist die erzbischöfliche Be hörde in Posen an dieser flagranten Gesetzwidrigkeit actio betheiligt oder, was auch genügt, damit ein verstanden gewesen?! Sodann wird hier in klassischer Weise dargestellt, welche Mittel dem niederen Klerus nament lich in den gemischt-sprachigen nnd rein-katholischen Distrikten zur Verfügung stkhen, um das Gesetz offenkundig zu verhöhnen. Wo eben solche Demonstrationen in Aussicht stehen, liegt unseres Erachtens für die Re gierung keinAnlaß mehr vor, denWünschen des Reichs tages in dieser Frage entgegenzukommen, denn sie beseitigen alle Voraussetzungen, unter Lenen man mit einem Zugeständniß in Angelegenheiten des Jesuiten gesetzes auch nur in Bezug auf § 2 unter den gegen wärtigen Verhältnissen sich allenfalls hätte absinden könne n." Unseres Erachtens bätte man solche „Demonstrationen" voraussehe» können. Diejenigen Mitglieder der national- liberalen ReichStagsfraction, die für die Aufhebung des tz 2 des Iesuitcngesetzes gestimmt haben, sehen sich durch ihren uns unbegreiflichen Optimismus nunmehr in die unangenehme Lage versetzt, sehen zu müssen, daß ihr Beschluß von dem eigenen Parteiorgane dem Bundesrathe zur — Nichtbeachtung empfohlen wird. Nach einer New Aorker Meldung hätte der neue ameri kanische Botschafter für Berlin, Herr White, in einem Interview erklärt, die Tarisbill werde zweifellos der art geändert, daß Deutschland keinen Grund zur Klage habe. Inwieweit daS zutrifft, läßt sich schwer beurtheilen. Jeden falls bietet, wie wir bereits am 16. dieses Monats dargethan haben, der auf Zucker gelegte Zoll der Dingley-Bill die Grundlinie für einen formellen Einspruch gegen den geplanten amerikanischen Zolltarif, der in seinen übrigen Positionen vom Standpunkte des Vertragsrechtes, nicht anfechtbar ist. Dazu kommt, daß der Geist, der sich in diesem Attentat auf den internationalen Verkehr ausspricht, bei der Tarifstelle I Zucker so scharf ausgeprägt ist, daß es sich doppelt verlohnt, I den Sätzen auf Zucker besondere Aufmerksamkeit zu schenken. I Die Dingley-Bill erhöht den Zuckerzoll aus beinahe das Doppelte deS jetzigen Satzes und den Zuschlag auf Zucker aus Prämienländern von Cent für das Pfund aus den vollen Betrag der Ausfuhrprämie. Der bisherige Zoll auf Zucker nicht über Nr. 16 holl. Standard — solche Waare kommt für die deutsche Ausfuhr nach Amerika hauptsächlich in Be tracht — beträgt 16 Proe. vom Werth. Demnach würde »ach Annahme der Dingley-Bill der Zoll schon ohne den Prämienzuschlag 80 Proe. des Werthes betragen. Und diesen ungeheuren Zoll will man auf eine deutsche Waare legen, die vertragsmäßig in Amerika frei eingehen müßte. Wir haben schon erwähnt, daß Deutschland im August 1891 sich bereit erklärt hat, Amerika die bei den damals geführten Handelsvertragsverhandlungen mit Oesterreich-Ungarn gewährte Ermäßigung der landwirth- schaftlichen Zölle unter der Bedingung zuzubilligen, daß der Präsident von der ihm in der — am 1. October desselben Jahres — in Kraft getretenen Mac Kinley-Bill beigelegten Befugniß besonderer Zollerhöhungen deutschen Maaren gegenüber keinen Gebrauch mache. Beide Theile hatten bei dieser Abmachung hauptsächlich an den Artikel Zucker gedacht. In der Note der amerikanischen Regierung, welche zusammen mit einer vorher ergangenen deutschen Erklärung das Abkommen begründete, heißt es: „Der Bevollmächtigte der Vereinigten Staaten nimmt von den Erklärungen der deutschen Regierung Notiz und theilt mit, daß der Präsident dafür Sorge tragen wird, daß Vorschriften erlassen werden, welche dem aus Deutschland eingeführten Rohzucker u. s. w. die Fortdauer der bestehenden Zollfreiheit sichern." Diese Fassung ist vollkommen bindend. Sie verpflichtet den Präsidenten, nicht nur etwas zu unterlassen, nämlich die Anwendung seiner discretionairen Befugnisse auf die deutsche Zuckcrcinfukr, sondern zu einer positiven Handlung, der Erlassung von Vorschriften zur Wahrung der Zollsreihett für den deutschen Zucker. Dessen ungeachtet trat am 1. August 1891 in den Bereinigten Staaten ein Gesetz, die Wilson-Bill, in Kraft, welches den oben ge nannten enorme» Werthzoll von 40 Procent auf daS deutsche Erzeugniß legte. Amerika ist auch darauf im Genüsse mehrerer niedrigerer landwirthschastlicher Vertrags zolle geblieben, Deutschland hingegen erleidet einen Nachtheil» der sich im vergangenen Jahre nur wegen des Aufstandes auf Cuba und deS durch ihn bewirkten Stillstandes der dortigen Rohrzuckerproduction nicht bemerkbar machte. Die Verdoppelung deS vertrags widrigen bisherigen Zolles durch die Dingley-Bill würde den Vortheil des vorübergehenden Wegfalles der cubanischen Con currenz so gut wie gänzlich ausheben und zur Folge haben, daß die deutsche Zuckerausfuhr nach Amerika im Werthe von etwa 66 Millionen Mark allmählich auf Null herab sänke. Wenn die Einfuhr amerikanischer LandeSproducte in Deutschland, die sich nach der Gewährung der ermäßigten Zölle verdreifacht hat, unter solchen Umständen Weiler be günstigt würde, dann müßte das Verhältniß der beiden Staaten als ein auf einen Löwenvertrag gegründetes an gesehen werden. Gestern, an dem Tage, an welchem der deutsche Kaiser in die Hauptstadt Oesterreichs kam, ist vr. Lueger, der Häuptling aller österreichisch - ungarischen Antisemiten als erster Bürgermeister Wiens vereidigt worden. Der feierliche Act vollzog sich im Festsaale des Rathhauscs unter großem Gepränge. Genossenschaften, Turner- und Feuerwehr vereine zogen mit Fahnen auf. Lueger erflehte den Beistand Gottes. Seine Wahl sei ein erfreuliches Zeichen der chrisi lichen Gesinnung der Bevölkerung. Er sei ein Deutscher und halte treu zur Nation. Nie dürfe der nationale Kampf einseitige Portheile verfolgen und so ausarten, wie es geschehen, wodurch den Deutschen nicht genützt, sondern eher geschadet worden sei. Er wandte sich gegen die monc- polistische Tramwaygesellschast und schloß mit einem Hoch auf den Kaiser, worauf die Versammlung die VolkShymue sang. Nach der Beeidigung wurde Lueger vom Kaiser empfangen. Als der Erkorene der Stadt Wien nach der Hofburg fuhr, wurde er von einer ungeheueren Volksmenge jubelnd begrüßt. In den äußeren Bezirken waren zahlreiche äuser beflaggt. Die österreichischen Blätter nehmen das ieschehene und nicht mehr zu Hindernde mit einem gewissen Fatalismus hin — freilich war die Bestätigung Lueger s ja nach de» vorhergegangenen Ereignissen fast mit absoluter Sicherheit zu erwarten. ES ist nur bedauerlich, daß die politische Conslellation sich stärker erwiesen hat, als selbst der persönliche Wille des Kaisers, der sicherlich nicht leichten Herzens jetzt bestätigt hat, was er früher verwarf. Von einigem Interesse ist eS, wie man in Ungarn dir Be stätigung Lueger'S auffaßt. Der „Pester Lloyd" schreibt u. A>: Was inan vor einem Jahre für unmöglich hielt und was auch in der That damals nicht geschehen ist, wird heute als etwas Selbst- verständliches hingenomme», imd fast im Tone der Erleichterung sagt man: kinita la, eommeckia! Denn eine Comödie — ob nichr eine Tragicomödie, das wird erst die Zukunft lehren — ist alles das, was sich da drüben seit Monaten abspielt. Unmittelbar geht uns die Sache nun allerdings nichts an; sie macht uns nicht kalt nnd nicht warm, allein eben deshalb drängt sich wohl unseren Lesern die Frage auf: Ist DaS, was in Wien geschieht, ist diese ganzeWurstelcomödie ein politisches Ereigniß, über welches wir an dieser, sonst ernsten Dingen gewidmeten Stelle sprechen müssen? Nein, so weit es sich »m die Persönlichkeit des Herrn vr. Kart Lueger handelt, gewiß nicht. Daß er ein absolut gesinnungsloser Streber ist, rin Mensch, der weder lieben, noch hassen kann, der jede Partei, welcher er eine Zeit lang augehörte, gesoppt hat, und ganz gewiß auch seine heutige Partei foppen wird — wen: brauchte dies jetzt noch demonstrirt zu werden! Verwunderlich könnte nur sein, daß er einen so ungeheueren Umweg gemacht hat, um an das Ziel seiner heißen Sehnsucht zu gelangen, während er mit dem agitatorische» Talente, das ihm eigen ist, auch a»f geradem Wege zum Biirger- meistersitz emporschreiten konnte; aber in Wahrheit ist auch das nicht ru verwundern, denn Leute seines Schlages sind von eütkr An Platzfurcht vor der freien Offenheit geplagt. Was sie nicht ans krummen nnd engen Pfaden erreichen können, das erreichen sie über- Haupt nicht. Leider läßt sich nicht verkennen, daß in der Thatsache, daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Wiens einen Lueger rum Stadthaupt erwählt und jubelnd begrüßt, sowie daß der Kaiser sich dem Willen seiner Hauptstadt gebeugt hat, ein Etwas liegt, das denn doch nicht mit den spöttischen Be merkungcn abgethan werden kann, die der „Pester Lloyd" für Lueger hat. Auch wir schwärmen gewiß nicht für diesen Man», aber gerade darin, daß er trotz all seiner Fehler der Mann des Vertrauens weiter Volkskreise ist, liegt die schärfste Verurteilung deS vorangegangene» Systems. In der That bat dieses System übel gewirthschaftet, und man muß eS den Männern des früheren Regime- nachsagen, daß sie eS Lueger leicht machen, besser zu wirtschaften, als sie cs getan haben. Enttäuscht er seine Anhänger, so wird cs an dem Rückschläge nicht fehlen. Seine Gegner sollten des halb frol, sein, daß er an die Spitze der städtischen Geschäfte tritt. Hier steht er auf einem weithin sichtbaren und ver- FeuiUetsn» Sneewittchen. 16j Roman von A. I. Mordtmann. Nachdruck verboten. „DaS muß er sein!" antwortete Iosephine mit leuchtenden Augen, den kleinen Stich in den Worten ihres Begleiters nicht bemerkend. „So oft Herr Williams seinen Namen nennt, fügt er hinzu: Beten Sie für ihn, er ist ein Engel!" „Ja, eS giebt noch gute Menschen!" „Mein Oheim Anatole gehört auch dazu", sagte Iose phine stolz. „Wenn ich ihm mein ganzes Leben diene, kann ich ihm nicht vergelten, waS er an mir und dem armen Papa Gutes gethan hat." „Ist Ihres Herrn Vaters Leiden plötzlich eingetreten? Oder — doch verzeihen Sie die zudringliche Frage", unter brach sich Friedrichsen, „ich will Sie nicht betrüben." „O, das macht nichts", versetzte Iosephine treuherzig. „Wir sind solche Fragen schon gewohnt. Ah, Monsieur, man stumpft ja gegen,daS Unglück ab. Ich habe meinen armen Vater fast nicht anders gekannt. Als daS Unglück eintrat, war ich etwa sieben Jahre alt und hatte von meinem Vater, der meistentbeils auf Reisen war, noch nicht viel gesehen. Dann, als ich eines Tages aus der Schule nach Hause kam, war mein armer Papa da — er hatte bei seiner Ankunft viel wirres Zeug geredet und war gleich darauf in wilde Phantasien verfallen, die am Nachmittage in ein Gehirnsieber auSarteten. Er schwebte lange Zeit am Rande des Grabes, und als er endlich genaS, war sein Geist zerstört. Er spricht fast nie, ist aber freundlich und gefügig wie ein Kind. Als er mich zum ersten Male' anredete, sahen wir, daß er nicht einmal mich kannte. Er fragte mich: „Hast Du Dich noch gerettet, Iuanita?" „Iuanita!" rief Rudolf, und ihm war, als schlüge vor ihm ver Blitz ein. Er wußte jetzt, wem Fräulein Iosephine Dessoudre ähnlich sah — Gerard'S Pflegetochter Iuanita' Sie war nicht so schön wie jene, aber sie hatte dieselben blauen Augen, dieselbe GesichtSform, dieselbe graziöse Anmuth in allen Bewegungen. „Nicht wahr, da» ist seltsam?" fragte Iosephine ohne Ahnung von der tollen Gedankenverbindung, die in Rudolf'» Kopfe ein verwirrende- Spiel trieb. „Sehr merkwürdig," antwortete er. „Und haben Sie nicht ausfindig machen können, auS welchem Grunde er Ihnen diesen Namen beilegt?" „Nein. Bis zur Stunde wissen wir nicht einmal, welche Ereignisse so furchtbar aus ihn eingewirkt haben. Manchmal, namentlich bei heftigem Sturmwetter, wird er gesprächiger, aber er murmelt so undeutlich und phantasirt so unverständ lich, daß wir niemals einen reckten Zusammenhang hincin- bringen. Nur so viel scheint gewiß, daß die Schrecknisse einer Sturmnachi auf dem Meere mit seinem Wahnsinn einen Zusammenhang haben." Rudolf war durch diese Mittheilungen, die ihm seine Gefährtin harmlos plaudernd machte, fieberhaft erregt. Iosephinens Vater mußte den Schlüssel zu dem Geheimniß haben, das Iuanita umgab. Wenn dieser Schlüssel nur nicht in der Grabesnacht unheilbaren Wahnsinns für immer ver steckt blieb! Der Sprühregen, der mit längeren und kürzeren Unter brechungen den ganzen Nachmittag angehalten hatte, sing an stärker zu werden. Dichter und dunkler wurden die Wolken, die von der Biscayischcn Bucht, der Heimath der Stürme, heraufzogen. Ab und zu hemmte ein heftiger Windstoß die Wandernden. Als sie in den letzten Theil ver Straße ein- traten, der ins Freie hinausführte, brach eine heulende Windsbraut über sie herein, die von strömenden Regenfluthen begleitet war. Sie legten die letzte Strecke bis zum Hause Dessoudre'« laufend zurück und waren froh, endlich unter der Veranda Schutz zu finden. Es war keine vornehme Veranda, die ihnen diesen Schutz gewährte, sondern eine bescheidene Galerie, zu der von außen eine alte hölzerne Treppe hinausführte, war der Eingang zur Wohnung, während daS Erdgeschoß Küche und VorrathS- kamlner zu enthalten schien. Es war eine Wohnung, wie man sie noch heutigen Tages als Heimstätte besserer Ardeiter- und ärmerer Bürgersfamilien vielfach in den<öororten größerer und kleinerer französischer Städte findet. „Gute Nacht, Fräulein Dessoudre", sagte hier Rudolf. „Aus Wiedersehen morgen." „Nein, Monsieur Friedericks — Sie können doch in dem schrecklichen Unwetter nicht nach Hause gehen! Kommen Sie mit hinein — eS ist ja sehr bescheiden bei unS — aber trocken. Lassen Sie nur erst den schlimmsten Regen vorüberziehen'." Rudolf wollte protestirru, aber in diesem Augenblick öffnete sich oben die Thür und eine dünne Stimme rief in den brausenden Wind und den strömenden Regen hinaus: „Bist Du das, Iosephine?" „Ja, Onkel, und — so kommen Sie doch, Monsieur!" Nun konnte Rudolf nicht mehr zurück. Er folgte dem jungen Mädchen, das leichtfüßig die morschen und aus getretenen Stufen hinaufsprang. Als er oben ankam, mußte Iosephine ihrem Onkel schon Alles erklärt haben, denn Herr Dessoudre empfing ihn mit herzlichem Händedruck und drängte ihn zur Thür hinein. Man kam von der Galerie unmittelbar in das Wohn zimmer; rechts davon war eine größere Kammer, links lagen zwei kleinere Räume, die der Familie als Schlafzimmer dienten. Das Mobiliar war ärmlich und auf das Noth- wendigste beschränkt: ein Tisch, einige Stühle, ein mit Kattun überzogenes Sopha, einfache Weiße, schon viel geflickte Gardinen, daS war Alles. Einige schlechte Kupferstiche nach Malern der Napoleonischen Zeit und ein halbblinder Spiegel bildeten den Schmuck der Wände. Iosephine eilte in die größere Kammer zur Rechten, aus deren halbgeöffneter Thür ein leises Stöhnen hervordrang. „Sie dürfen jetzt nicht hinein, mein Herr," sagte Dessoudre, indem er Rudolf einen Stuhl anbot. „Ich bedauere, daß Sie vergebens gekommen sind, aber fremder Besuch, wäre eS auch der des besten Freundes, würde den Kranken zu sehr aufregen." „Ich bin nur durch de» sonderbarsten aller Zufälle schon heute Abend hier," antwortete Rudolf, indem er sich setzte. „DaS ging so zu." Und er erzählte von den Umständen, unter denen er Iosephine angetroffen hatte. Der alte Dessoudre, der in seinem schäbigen Schlasrock eine lebendige Illustration der zurückgekommenen Umstände der Familie war, schüttelte Rudolf unter lebhaften Dankes - bezeugungen noch einmal die Hand. Er war abgemazert, und seine eingefallenen Züge trugen ersichtliche Spuren über- standener Drangsale und Entbehrungen, ohne daß dadurch der Ausdruck großer Güte, der sein Gesicht überaus anziehend machte, verwischt worden wäre. Obgleich er erst in der Mitte der Vierziger sein mochte, war sein Haar doch schon vollständig ergraut. Während sie sprachen, erschütterte ein außergewöhnlich heftiger Windstoß den alten Bau und prasselnd schlug ein mit Hagel vermischter Regenschauer an die Fenster. Wohl aufgescheucht durch die- Getöse erhob sich in einer Ecke ein anderer Insaffe de- Zimmer», den Rudolf bi- dabin bei der trüben Beleuchtung einer ordinären Lampe garnicht wahrgenomiiicii hatte. Rudolf stand auf, um ihn zu be grüßen, der andere sah ihn mit leerem Blick an und machte eine mechanische Verbeugung. Rudolf errieth, daß er den irrsinnigen Vater Josephinen's vor sich habe, und fühlte, wie ihn fröstelnd ein kalter Schauer durchlief. Die dunkelblauen Augen erinnerten ihn an Iuanita und Iosephine zugleich. Außerdem aber fiel ihm die ungewöhnliche männliche Schön heit dieses Dessoudre auf, dessen kraftvolle Gestalt und glänzend schwarzes Haar einen peinlichen Gegensatz zu der verfallenen Figur und dem Greisenkopfe seines Bruders bildeten; noch schmerzlicher wurde dieser Gegensatz durch die Vorstellung, daß diese schöne äußere Erscheinung nur die ausgebrannte Hülle eines umnachteten Geistes sei. „Wo ist Inanita?" .fragte der Irre. Das Sprechen wurde ihm schwer, und nur mit Mühe waren die unbeholfen dem Munde sich entringenden Worte zu verstehen. „Wo ist Iuanita? Hört Ihr nicht, wie eS stürmt?" „Sei ruhig, Francois", redete Dessoudre ihm zu. „Sie ist zu Hause. Da kommt sie schon. Setze Dich." Fraiitzois nickte Iosephine zu und ließ sich aus dem Stuhle nieder, den sein Bruder Anatole ihm hinschob. Iosephine flüsterte ihrem Onkel zu: „Herr Williams ist besser. Jetzt schläft er." DaS Unwetter nahm an Stärke noch immer zu. In der Heftigkeit deS Winde» schien daS Gebäude zu wanken, die Thüren klappten in den Angeln und die Fenster klirrten, daß Rudolf fürchtete, sie möchten eingeschlagen werden. Der Wind peitschte den Regen mit solcher Gewalt gegen die Scheiben, daß es sich anhörte, als würde er mit Eimern geschüttet. Plötzlich erhellte ein secundenlanger Blitz da» Zimmer mit bläulich-gelbem Lichte, nnd unmittelbar darauf erkrachle ein Donnerschlag mit lang uachhallendem Grollen. „Ein Gewitter im Winter!" rief Rudolf, indem Alle erschrocken aufsprangen. „DaS ist hier nm diese Zeit nicht so selten wie im Norden", versetzte Anatole, „aber so stark . . ." Er verstummte mitten in, Satze, denn plötzlich sing der Irre an zn reden, erst noch mühsam nnd geguält, aber bald rascher und fließender, als hätte der heftige Donner ihn aus der dumpfen Erstarrung seines Geistes erweckt. „Fürchtet nichts!" sagte er, „Der Glaneur ist ein gutes Schiff. ES hat nicht» zu sagen. Wir sind auf offenem Meere, und daS Schiff hat schon schlimmere Stürme au»- gehalten. Aber wir wollen uns bereit machen — da» große
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