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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 18.05.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-05-18
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970518014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897051801
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897051801
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-05
- Tag1897-05-18
- Monat1897-05
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Einziger Gegenstand der Tagesordnung ist die erste Berathung deS Gesetzentwurfs zur Ergänzung und Abänderung von Bestimmungen über Versammlungen und Vereine (Vereinsgesetznovelle). Ministerpräsident Fürst zu Hohenlohe: Ehe ich in eine Be. sprechuog des heute zur Berathung vorliegenden Gesetzentwürfe- eiutrete, scheint eS mir nöthig, dem verschiedene Male ausgetretenen Borwurf zu begegnen, daß die Vorlage mit der von mir in der Sitzung deS Reichstags am 27. Hunt v. I. abgegebenen Erklärung nicht in Einklang stehe. Ich muh deshalb auf den damaligen Vor gang zurückkommen. Ich habe damals erklärt: Ich gestehe zu, daß da» in verschiedenen Bundesstaaten sür politische Vereine geltende Verbot, mit anderen Vereinen in Verbindung zu treten, außer Wirksamkeit gesetzt werden müsse und daß es in d«r Absicht der betheiligten Regierungen liege, dem durch dieses Verbot geschaffenen Rechtszustande abzuhelsen. AIS nun von einem Reichstagsabgeordnete» die Erwartung ausgesprochen wurde, daß eine Aufhebung des Coalitionsverbots nicht an Be dingungen geknüpft werden möge, die eine Verschärfung des bestehenden Vereinsrechts enthielten, ist vom BundesrathStische aus keine Antwort erfolgt, und zwar von Seiten der preußischen Regierung auS dem Grunde nicht, weil sie sich damals über diese Frage noch nicht schlüssig gemacht hatte. Wenn nun die preußische Regierung entgegen den damaligen vom Abg. Rickert ausgesprochenen Erwartungen Ihnen heute einen Gesetzentwurf vorlegt, der neben der Aufhebung des Coalitionsverbotes auch noch andere Modifi kationen der Verordnung vom 11. März 1850 enthält, jo glaubte sie, damit den geeignetsten Weg einge chlagen zu haben, um das von mir abgegebene Versprechen einzulö en. Denn ein Gesetz entwurf, der lediglich die Aushebung des Coalitionsverbots zum Gegenstände hätte, würde vielleicht nicht einmal der Zustimmung dieses hohen Hauses sicher gewesen sein. Noch weniger hätte man auf die Zustimmung des Herrenhauses rechnen können, und es wäre unter Liesen Umständen eine leere Demonstration gewesen. Ich hätte allerdings in diesem Falle in formaler Beziehung mein Versprechen erfüllt, aber es wäre materiell nicht erfüllt worden. Indessen, meine Herren, ist eS selbstverständlich nicht lediglich die Rücksicht auf die voraussichtliche Haltung des Herrenhauses gewesen, die die kgl. Staatsregierung bestimmt hat, Ihnen die gegenwärtige Vorlage zu machen. Das ausschlaggebende Moment lag vielmehr darin, daß die Verordnung vom 11. März 1850 nicht nach allen Richtungen hin genügt, um eine gesetzliche Freiheit und Ordnung gegen den Miß brauch Einzelner zu gewährleisten. Meine Herren, ich stehe nicht an, zu erklären, daß ich das Vereins- und Versammlungs recht als einen der werthvollsten Errungenschaften be trachte (hört, hört! und Heiterkeit links), als ein unentbehr liches Mittel, um die politische Entwickelung und Er ziehung eines Volkes zu fördern (hört, hört! und lebhafte Heiterkeit links), andererseits wird man aber, wie ich glaube, auch von einem sehr vorgeschrittenen liberalen Standpunkte auS zugeben müssen, daß ein absolut unbeschränktes Vereinsrecht große Gefahren in sich birgt (sehr richtig! rechts, großes Gelächter links), ja unter Um ständen zu einer Zerstückelung des Staatsorganismus führen kann. Es muß daher die Aufgabe sein, zwischen der Beschränkung und der Schrankenlosigkeit die richtige Mitte zu ziehen. Wir sind der Meinung, daß das in dieser Verordnung vom 11. März 1850 nicht überall gelungen ist und daß es auf der einen Seite nöthig erscheint, gewisse einschränkende Vorschriften fallen zu lassen, aus der anderen Seite aber geboten ist, der Staatsregierung stärkere Befugnisse einzuräumen. Was die Vorlage in letzter Beziehung fordert, reicht nicht an das Maß von dem heran oder geht nicht über das hinaus, was anderwärts in Deutsch land Rechtens ist. (Sehr richtig! rechts.) So ist es im Badischen Recht, das nicht etwa aus der Zeit der politischen Reaktion herrührt. Da steht der Polizeibehörde das Recht zu, Vereine zu schließen, welche den staatlichen Gesetzen oder der Sitt lichkeit zuwiderlaufen, welche den Staat oder die öffentliche Sicher heit gefährden, und Versammlungen aus ähnlichen Gründen im Voraus zu verbieten. Ich kann ferner auf den Art. 19 Nr. 5 und 6 des bayerischen Vereinsgesetzes Hinweisen, welcher bestimmt: Jede Polizeibehörde ist befugt, Vereine zu schließen, welche die religiösen, sittlichen und gesellschaftlichen Grundlagen des Staats zu untergraben drohen oder welche in ihren Zwecken den Staats gesetzen zuwiderlaufen; ferner auf den 8 12, nach welchem bei dringender Gefahr sür die Ordnung, Ruhe und Sicherheit Ver sammlungen und öffentliche Umzüge verboten werden können. Aehnliche Bestimmungen herrschen in Hamburg und in anderen deutschen Staaten, und unerträgliche Zustände haben sich daraus nicht ergeben. Das kann man nicht behaupten. Was im Uebrigen die Einzelheiten der Vorlage anlangt, so wird mein College der Minister des Innern im Laufe der Debatte auf den materiellen Inhalt näher eingehen. Meinerseits will ich mich nur auf die Bemerkung beschränken, daß es der Staotsregierung selbstverständlich ferne liegt, Las verfassungsmäßige Versammlungs- und Vereinsrecht in Preußen irgend anzutasten. (Schallendes Gelächter links und im Ccntrum.) Ich werde mich freuen, wenn Las hohe Haus die Bestimmungen der vorliegenden Novelle einer eingehenden Prüfung unterzieht; Sie werden dann finden, daß es sich hier nicht um einen willkürlichen Eingriff in das gewährleistete Vereins- und Versammlungsrecht handelte, sondern um eine Aus gestaltung im Sinne und entsprechend den Bedürfnissen der Zeit. (Lebhafter Beifall rechts; starkes Zischen links. Erneuter leb hafter Beifall rechts, erneute- sehr starkes Zischen link» und im Centrum.) Abg. vr. Krause (nat.-Iib.): Wir sind nicht im Zweifel darüber, daß sowohl formell das Versprechen des Reichskanzlers eingelöst ist, als auch, daß dec Reichskanzler bei Einbringung der Vorlage voll kommen in gutem Glauben gehandelt hat. Aber eine andere Frage ist die, ob die Erfüllung Les Versprechens der Erwartung des Reichstags entspricht. Und La war Loch im Reichslage die übereinstimmende Ansicht, daß nur das Verbot des Jn- verbindungtretens politischer Vereine aufgehoben werden solle. An Compensationen und gar an Compensationen solcher Art hat Niemand gedacht. Materiell ist also das Versprechen des Reichs kanzlers nicht erfüllt. Wir sind der Ansicht, daß das Gesetz ganz gut im Plenum sofort durchberathen werden kann. Da indeß, wie wir erfahren haben, eine große Partei Commtjsionsberathung wünscht, werden wir uns dem nicht widersetzen. Unseren Erwartungen hätte es entsprochen, wenn im Reichstage das Versprechen des Reichs kanzlers erfüllt worden wäre und man nicht den Einzelstaaten die Materie überlassen hätte. Denn das Wort: ein Reich, ein Recht, ein Gott, sollte auch vom öffentlichen und nicht nur vom Civilrecht gelten. Man fordert hier Compensationen sür die Aushebung einer vollkommen werthlosen Bestimmung, die sich überlebt hat. Da kann man doch eigentlich gar nicht mehr Compensation nennen. Das Verbot der Tbeilnahme Minderjähriger (an politischen Versammlungen kann man allerdings als berechtigt anerkennen. Darin sind alle Parteien einig. Sogar die Social- demokraten haben im Reichstage die Möglichkeit einer solchen Be schränkung nicht zurückgewiesen. Allerdings die Bestimmung, daß bei Anwesenheit Minderiähriger eine Versammlung aufgelöst werden kann, ist unannehmbar. Das würde das ganze Versammlungsrecht illusorisch machen. Es könnten dann ja Versammlungen, die der „guten Sache", wie der Minister sagt, dienen, anders behandelt werden, wie andere Versammlungen. Daß einige Bestimmungen der Vorlage eine Verfassungsänderung sind, ist sür mich zweifellos, indeß ist diese Frage jetzt noch nicht aktuell. Doch muß ich betonen, daß man eine Verfassungsänderung nur im äußersten Nothsalle vornehmen sollte. Das Vereins- und Versammlungsrecht ist eines der werthvollsten Güter, die wir haben, und in einer Zeit, wo an höchster ministerieller Stelle hier das Vereins- und Versammlungs recht bedroht wird, sollte man am wenigsten auch eine andere Ge staltung des Vereins- und Versammlungsrechts vornehmen. Der Minister von der Recke meinte zu den offenbaren Gesetzesverletzungen im Kreise Stolp nur, die Ansicht über das Vereins- und Ver- sammlungsrechts scheine bei den unteren Beamten nicht immer ganz geklärt zu sein. (Heiterkeit.) Glauben Sie, daß ein Beamter das Vereins- und Versammlungsrecht nicht in dem Sinne auslegen wird, wie der Minister es wünscht? Wenn schon beim bestehenden Rechtszustande solche Dinge vorkommen, wie soll es denn dann werden, wenn noch Verschärfungen vorgenommen werden? Man soll überhaupt so wichtige Rechte möglichst wenig in die Hand unter- geordneter Behörden legen, die nicht immer den nöthigrn Tact be sitzen. Die Artikel 1 und Hl enthalten Vorschriften, die für uns ganz unannehmbar sind. Ter Rechtsweg dagegen hat nur wenig Werth, da eine einmal aufgelöste Versammlung Loch unwiederbringlich verloren ist. Was heißt außerdem Aufrechterhaltung der „öffent- lichen Sicherheit"? Der Begriff der „öffentlichen Sicher- hei»" reicht nicht zu einem concreten Thatbestunde hia. Und dann der „öffentliche Friede"! Auch da- ist ein sehr dehn barer Begriff. Der Minister soll also darüber entscheiden. Danach würde auch der Verein „Nordost" den öffentlichen Frieden gefährden, da der Minister ja erNärt hat, Laß die Versammlungen des Vereins „Nordost" Unfrieden zwischen Groß- und Kleingrundbesitz schafften. Also müßten die Versammlungen des Vereins „Nordost" ausgelöst werden, aber auch die Versammlungen des Bundes der Landwirthe, der noch ganz anders agitirt hat. Also die Artikel I und Hl sind nicht geeignet, angenommen zu werden. Auch wir wollen nicht den öffentlichen Frieden und die öffentliche Sicherheit gefährdet wissen, aber wir wollen nicht, daß untergeordnete Organe darüber entscheiden sollen, was öffentlicher Friede und öffentliche Sicherheit ist. Unsere- Erachtens genügen die bestehenden Gesetze schon vollkommen. Dir Social demokraten können wir am besten bekämpfen, wenn die Ordnungs- Parteien nur fest zusammenhalten. (Lachen recht».) Mit Polizei- inaßregeln kann man keine geistige Bewegung bekämpfen und r» er scheint mir auch sehr fraglich, ob heutzutage noch rin Socialistengesetz Zweck haben würde. Man soll sehr vorsichtig sein, Be- slimmungen zu treffen, die von wechselnden Personen abhängen. Die Minister sind doch heute Blüthen, die abzuweheu nicht einmal ein Sturm nöthig ist, sondern sogar ein leiser Luftzug ge nügt. Eine so ärmliche Begründung ist mir noch nicht vor gekommen, wie sie diese Vorlage hat. Der Nachweis «ine» Bedürfnisses für dieselbe ist keineswegs gelungen. Wenn der Ministerpräsident aus andere Staaten hinwir-, so frag» ich, welche Erfahrungen haben diese anderen Staaten mit tbrra Einschränkungen gehabt? Ist dort die Socialdemokratie mehr zurückgrdränat worden? (Lachen rechts.) Gerade Polizeiwillkür schafft gewaltsame Be- wegungrn und Revolutionen. DaS lehrt die Geschichte. Wie kann man in solchen Zeiten wie der jetzigen, wo so viel Zündstoff angehäust ist, wo ein allgemeiner Pessimismus herrscht, eine solche Vorlage einbringen und damit noch di» Unzufriedenheit vergrößern. Ist vielleicht jetzt die Noth und zwingende Ver- anlassung zu einer solchen Vorlage da? (Rufe recht»: Ja!) Jeder wolle eine starke, einige Regierung, die alle Parteien zum Kampfe gegen den Umsturz sammelt und nicht neuen Stoff zum Zwiespalt der Parteien schafft. Selbst die gemäßigtsten Elemente im Lande sind gegen diese Vorlage. Wenn sie die Ord- nungsparteien sammelt, dann wird sie erreichen, wa» sie mit dieser Vorlage niemals erreichen kann und wird, denn Polizeimaßregeln nutzen nichts gegen eine geistige Bewegung. (Lebhafter Beifall.) Abg. Hrhdcbrand von der Lasa (conf.): Wir sind der Meinung, daß die Regierung berechtigt und verpflichtet war, hier in der Vorlage Compensationen zu schaffen. Wir sind auch der Ansicht, daß die Regierung mit der Vorlage im Allgemeinen das Richtige getroffen hat. Ich gebe zu, daß einzelne Ausdrücke wohl geeignet sein können, Mißverständnisse hervorzurufen, und wir glauben, es wird Sache der Commission sein, eine präcisere Fassung zu finden. Das ist doch eine übertriebene Auffassung, daß durch diese Vorlage eine vollkommene Rechtlosigkeit einreitzrn würde. Die Verwaltungs organe, die in Frage kommen, sind keine untergeordneten Organe, und eS ist doch ein Rechtsweg gegeben. Man muß zu einem rrstrebenswerthen Ziele auch wtrisame Mittel anwenden. Diese Consequenzen ziehen die Nationalliberalen nicht. Wenn man ihre Theorie praktisch auSsühren wollte, käme man zum Bankerott de- Staates. (Beifall recht-.) Die Vorlage liegt durchaus im Sinn« der Verfassung. Die öffentlich« Meinung de» Volke» besteht nicht allein in den liberalen Elementen. Tausende von Männern empfinden eS als einen unerträglichen Zustand, daß deute offen auf den Umsturz des Staats hinarbeiten können. Wir stehen derRegierung in ihremBestreben, Zucht und Ordnung herzustellrn, unbedingt zur Seite. (Beifall rechts.) In Württemberg hat man jetzt schon dieselben Bestimmungen, wie sie hier geplant werden. Man muß zu den au-führenden Organen Vertrauen haben. Haben Sie das Vertrauen nicht? (Rufe links: Nein» Sogar in der Schweiz und in Frankreich giebt »S Be- stimmungen, die alle die vom Vorredner geschilderten Gefahren mit sich sühren müßten. Aber es wird dort noch ebenso raisonnirt, wir Feuilleton. In -er Sommerfrische. Humoreske. (Schluß.) Meine Mittheilung, daß die Eier ungenießbar seien, erregte beim Wirth ein höchst bedenkliches Schütteln des Kopfe», da» sich noch vermehrte, als ich ihm die Ursache er klärte. Der gute Mann wußte erstens nichts davon, daß die Luft in seinem Keller schlecht war, und zweitens, daß Eier schon nach wenigen Stunden die Gerüche ihrer Umgebung in sich aufnebmen und zugleich auch die schädlichen Stoffe (Pilzsporen rc.), die damit verbunden sind. Ich bat ihn, bei jeder Lieferung ein Dutzend Eier zu eigener Aufbewahrung zu überlassen und erkundigte mich, ob es rohen Schinken gebe. Freilich! — Aber ganz fein geschnitten müsse ich ihn haben. Der Mann war so klug, mir den ganzen Schinken hereinzubringen, damit ich mich selbst bedienen könne. Beim Anschneiden schien mir wieder etwas nicht in Ordnung zu sein. Und richtig! Der Schinken war versalzen, total ver salzen, so daß von Fleischgeschmack und desgleichen (was für mich doch auch ins Gewicht fiel) von Nahrhaftigkeit kaum noch eine Spur. Auf meine Frage, ob eS denn keinen schwächer gesalzenen Schinken gebe, ward mir zur Antwort, sie seien alle aus einem Salz; wenn der Schinken nicht scharf gesalzen sei, halte er sich nicht, im Uebrigen würde er von den Gästen auch so verlangt; einige nähmen noch extra Salz dazu. Ich stand seufzend auf, begab mich auf mein Zimmer und entkorkte meine erste verbotene Flasche Bayerisch, nahm einen herzhaften Schluck und zündete mir die zweite verbotene Cigarre an. Ich hätte eS ja auch gethan, wenn ich besser zu Abend gegessen hätte. So aber gewannen Trank- und Rauchopfer eine ganze andere Bedeutung. Im Zimmer auf- und niedergehend, konnte ich nicht umhin, meine Be trachtungen über die kulinarischen Erfahrungen des heutigen ersten Tage« anzustellen, um so mehr, als solche Erfahrungen mir keineswegs neu waren und mir wieder den Beweis lieferten, wie thöricht es sei, in der Wahl seines Geschmackes und seiner Empfindungen nicht vorsichtig zu sein. AuS diesen Erwägungen ward ich plötzlich emporgerissen durch eine auS dem Hof herauftönende Singstimme — ich hatte mir, um dem kommenden Clavierspiel zu entgehen, ein Zimmer nach hinten berauS geben lassen. Aber welche Sing- sllmme! Der Ausdruck gröhlen schien mir noch nicht aus reichend dafür. Und dann der Text! „Denke Dir, mein Liebchen" schien sein Lieblingslied zu sein, denn nachdem er es von A bi» Z abgeleiert, pfiff er eS. Borsichtig das Fenster öffnend und meinen Blick in den Hof hinabsenkend, gewahre ich den Hausknecht beim Stiefclputzen. Nun ja, dachte ich, das Vergnügen wirst Du nun jeden Abend haben und mit einem galgen-humoristischen Pathos (so weit war ich bereits am ersten Tage) declamirte ich ror mich hin: Ineickit in Lc^IIam qui vult vitars Olurrzbclim. Richtig, e» ist sein LieblingSlied, denn da erklingt schon wieder die entsetzliche Melodie mit dem ebenso entsetzlichen Texte! Ich luge wieder zum Hofe hinab, um zu ermitteln, wie lange eS Wohl noch dauern werde. Za, der Mensch hatte kaum angefangen und er hantirte so langsam und gemächlich, daß ich mich auf eine gute halbe Stunde sicher gefaßt machen mußte. WaS thun? Wäre schon bei einem regelrechten Zustand der Nerven eine solche Kunstleistung zum Davonlaufen gewesen, wie viel mehr bei einem so zerrüttet aufrührerischen wie dem meinigen. In beschleunigter Gangart meinen Zimmerlaus fortsetzend, be gann ich nach einer improvisirten Melodie zu singen: „Normannenherzog Wilhelm sprach einmal: Wer singet in meinem Hof und in meinem Saal? Wer singet vom Morgen bis in die späte Nacht So lieblich, daß mir das Herz im Leibe lacht?" Dann aber fuhr ich parodirend fort: Das ist der Knecht des Hauses, der da gröhlt und quikst, Im Hofe, wenn er die Schuhe und Stiesel wichst Aber es half nichts, ich versuchte eS deshalb mit pfeifen, aber in ganz anderem Tempo und in einer ganz anderen Melodie, denn ich rechnete, daß ein vollkommener Mißklang am besten über diese musikalische Klippe weghelfen könne. Vergeblich! Endlich ergreife ich Stock und Hut und stürze inS Freie. Da ich am anderen Morgen um halb sieben abinarschiren wollte, um den Glanzpunct der Gegend, eine Schlucht mit Felspartien und Wasserfall, aufzusuchen, begab ich mich gegen zehn Uhr zu Ruhe. Da« Bett war leidlich. Ich dusele langsam ein. Ein Hund bellt in der Ferne . . . DaS kommt überall vor . . . Ein zweiter antwortet. Nichts natürlicher als das . . . Nun fällt aber ein dritter, vierter, fünfter ein, immer näher, immer naher, und endlich fühlt sich auch der Hofhund veranlaßt, einzufallen. Schließlich bellen sämmtliche Hunde des Städtchens groß und klein, nah und fern . . . Am anderen Morgen erfuhr ich vom Wirtb, daß hier keine Hundesteuer bestehe — daher das vollbesetzte Orchester deS Hundeconcertes, das ich jedenfalls nicht zum einzigen und letzten Male zu hören bekommen hatte. Noch vor dem Früh stück war daher mein Erstes, ein Eingesandt, das in ver lockender Weise die Rentabilität einer Hundesteuer am hiesigen Platze ins hellste Licht rückte, für das OrtSblättchen abzu- fafscn und in den am Gasthose aufgehängten Postbrieskasten zu werfen, damit es noch heute eingerückt würde. UebrigenS waren die Prüfungen der ersten vierund zwanzig «stunden meiner Sommerfrische noch nicht zu Ende. Morgens, als der Tag graute, werde ich durch ein schreck liches Gepoche über meinen Häupten aus dem Schlafe ge schreckt. Das Pochen verstärkt sich, hält wenigstens eine Minute an. Dann eine Pause, worauf sich aus ver Treppe ein Geklapper von Holzpantoffeln in ungenirtester Tonart vernehmen läßt. Den Zusammenhang zu errathen, war nicht schwer. Der Wirth hatte die Dienstmagd geweckt, die sich nun nach den unteren Regionen ihrer Thätigkeit begab. Ich konnte nicht umhin, den Wirth über diese» unbändige Klopfen zur Rede zu stellen und ibn zu fragen, ob e» denn kein andere» Mittel gebe, den dienstbaren Geist au» dem Schlummer zu wecken, und ob eS überhaupt nöthig sei, so entsetzlich laut zu pochen? — Ja, meinte der Wirtb schmun zelnd, heute Morgen sei es noch glatt abgegangen; es komme vor, daß er drei, viermal klopfen müsse, das Murmel thier schlafe in der Regel wieder ein. — Schöne Aussichten! Und dabei sollte im Gasthof vollständige Ruhe herrschen I Und die Frau Wirthin sollte nervös sein! .... DaS Klappen mit den Holzpantoffeln sollte allerdings künftig unterbleiben. In Folge dieser Reveille war ich eine Stunde früher auf gestanden, als ich beabsichtigt hatte und marschirte deshalb auch schon vor sechs Uhr ab. Ich bereute es nicht. Diese Schlucht war ganz nach meinem Gesckmacke. ES gab darin keine gebahnten Wege; kein Tourist hatte sie noch auf dem Zweirade durchrast, kein Verschönerungsverein sich daran ver sündigt. Sie befand sich noch in dem Zustande, als wenn ich sie erst entdeckt hätte. Und Entdeckungen gab es in der That zu macken, eine überraschender als die andere. Freilich, schweizerisch großartig war sie nickt, diese Schlucht, aber echt deutsch, idyllisch, poetisch. Sie bildete zahlreiche Windungen mit einem krystallklaren Bach, der bald neckisch murmelnd über Geröll hüpfte, bald ruhig dahin wallte, einige tiefere Stellen und größere Becken bildend. Eines davon war dicht von hohen Erlen umsäumt, so daß in seinem Innern eine lauschige Dämmerung herrschte, in die sich zuweilen, wenn der mutbwillige Zephyr die Zweige bewegte, einzelne Sonnen lichter hineinstahlen und die Kiesel auf dem Grunde und die spielenden Forellen erblicken ließen. Da das Becken ohne Zweifel noch keinen Namen hatte, so taufte ich eS Nixenbad. Deshalb wagte ich auch nicht, es zu benutzen, und wählte dafür eine Stelle unterhalb deS Wasserfalles, wo der Bach sich wildtosend zwischen FelStrümmern hindurchdrängte. Dann wandelte ich wieder durch die schattigen Haine, die auf der einen Seite von moosbewacksenen Felswänden, auf der andern vom Bache begrenzt wurden, während drüben auf dem saftigen Wiesengrunv die Sonnenlichter im vollen Glanze spielten. Zuweilen folgte ich auch der Einladung des Baches zum Sitzen, wo er, über eine Felsschwelle hüpfend, mit seinem Gemurmel allerlei zu erzählen hatte. Glockenklang ans der Ferne weckte mich auS meine» Träume reien. ES war Mittag, und ich hatte voraehabt, schon um 10 Uhr wieder daheim zu sein. Nun, versäumt hatte ich in keinem Falle etwas, in die platte Wirklichkeit kam ich immer noch früh genug, und ich wäre möglicherweise noch nicht dahin znrückgekrhrt, wenn nicht der knurrende Magen sein Recht geltend gemacht hätte. Eine unbändig laute Lustigkeit schallte mir auS der Wirthsstube entgegen, al« ich den Gasthof betrat. Ein Blick im Vorbeigehen durch die Glastbür deS Gastzimmer» ließ mich die Ursache errathen, besonders als das Wort „Hunde steuer" an mein Ohr klang. Einer der Frühschoppengäste, der den Ortsmoniteur in der Hand hielt, schien der Glossen macher zu sein. Man machte sich also über mein „Eingesandt" lustig. Glücklicherweise gelang eS mir, unbemerkt vorbeizu schlüpfen und auf mein Zimmer zu gelangen. Hernach er hielt ich vom Wirtb Aufklärung. Mein „Eingesandt" war ein Scklag in'S Wasser, denn das Städtchen bedurfte einer solchen Einnahmequelle nicht, da e» zu jenen beneidenSwerthen Orten gehörte, die auS ihrem Waldbesitz nicht nur alle städtischen Ausgaben decken, sondern auch noch Ueberschüsse erzielen. — Mit feinem Jnstinct batte man errathen, daß der Verfasser ein Fremder, mit den OrtSverhältnissen Unbe kannter sei, und da ich der einzige Fremde hier war, so konnte Niemand anders der Urheber gewesen sein als ich. Es war ein Hauptspaß gewesen, wie lange keiner im Städtchen vorgekommen. Ich mißgönnte den Leuten die Freude nicht, an der sie noch lange zehrten, konnte aber nicht umhin, sie ob ihrer Anspruchslosigkeit zu beneiden. Daß ich noch öfter nach der Schlucht zurückkehrte, brauche ich rücksicktlich der obwaltenden Umstände Wohl kaum zu ver sichern. Dabei vernachlässigte ich aber auch meinen Fichten wald nicht. Waren diese Naturverhältnisse doch der einzige Beweggrund, der mich halten konnte. Ihre Tröstungen halfen mir über die Unbilden hinweg, die mein Gehör und meine Nerven in meinem Quartier zu erdulden hatten und die mit den geschilderten keineswegs erschöpft waren. Eines Mittags, als ich aus dem Walde heimkam, stand im Hofe ein ungeheures Fuder Holz. Ein instinctiver Schreck, der mich bei seinem Anblick durchzuckte, sollte sich bald bewahr heiten, denn schon am andern Morgen tönte in meinen Morgenschlummer hinein jenes tactmäßige Geräusch, da- auS Streicheln und Knirschen gemischt ist und wahrscheinlich aus diesem Grunde eine so unbeschreiblich ärgerliche Wirkung ausübt. Dennoch muß eS Menschen geben, bei denen das Geräusch des Sägens, ans dem die Franzosen den Begriff einer langweiligen und insbesondere unauSsteblichen Sache oder Angelegenheit abgeleitet haben („scie"), eine Annehmlichkeit ist, und zu diesen Menschen glaubte ich auch meinen Wirth rechnen zu müssen, weshalb ich denn auch nicht wagte, ihn dieserhalb zu interpelliren, obwohl es gewiß ein Leichtes gewesen wäre, den Schauplatz jener Thätigkeit in den Holz stall zu verlegen. — Einige Augenblicke dachte ick daran, mick an die Wirthin zu wenden, denn ich folgerte, wenn die nervös ist, muß sie doch von diesem Geräusch gepeinigt werden. Offenbar war dies aber nicht der Fall, denn ich sah sie mehrere Male über den Hof gehen, ohne daß sie den Kopf nach dem in Betrieb befindlichen Sägebock ge wendet hätte. Auch die angekündigte Pianofortemusik blieb nicht aus, und da sie stets bei offenem Fenster ausgeführt wurde und der Hof deS WirthshauscS eine Art Schallsänger bildete, so ging für mich kein Ton verloren. Natürlich suchte ich mich stets (ebenso wie vor dem stymphalischen Geräusch de» Sägens), sobald eS möglich war, davor zu retten, wa« man um so erklärlicher finden wird, als da» Repertoire nur aus den „Klosterglocken", dem „Gebet der Jungfrau" und ähnlichen Stücken bestand und der schrille Klimperton mir den Ver dacht erregte, daß das Instrument eine Art Spinett sei. Mir fiel dabei stets jener Witz in den „Fliegenden Blättern" ein, worin eine junge Dame auf die an sie gerichtete Frage, ob sie auch da« „Gebet der Jungfrau" spiele, eifrig er widerte: „Natürlich! Deshalb haben wir ja gerade aus unserer früheren Wohnung auSziehen müssen!" Endlich kam noch hinzu, daß der Hausknecht nicht nur Sänger war, sondern auch die Flöte blieS und seine Mußestunden, insbesondere die abendlichen und sonntäglichen, damit ausfüllte. Daß dabei „Denke Dir, mein Liebchen" nicht fehlte, ist ungefähr selbst verständlich. Das Schlimmste aber war, daß der Mensch Alles — selbst Vie lustigsten Stellen — mit einem verzweifelt traurigen Ton und einem unendlich langgezogenen Tempo vorbrachte. — Schließlich habe ich e» doch nicht länger auS- gehalten al» drei Wochen, und ich war glücklich, al« ich in meinem Leipzig mit seinem nervenerfchütternden Wagen gerassel, dem ohrenzerreißenden Gelärm seiner Straßenju^end und dem weitschallenden Gegröhle seiner Straßenverkäufrr wieder anaelangt war. So oft ich aber an meine Sommer frische zurückdackte, konnte ich nicht umhin, meine Wirthin um ihre Nervosität zu beneiden.
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