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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 07.07.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-07-07
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970707012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897070701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897070701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-07
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Lrötzere Schriften laut unserem Preis« verzeichniß. Tabellarischer und Zisfrrnsatz nach höherem Taris. Extra»vkilagen (gefalzt), nur mit der Ptoraen-Ausgabe, ohne Postbeförderung , mit Postbefvrderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Ah end-Ausgabe: vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr, Bei den Filialen und Annahmestellen je ein« halbe Stund« früher. Autkige» find stets aq die Srpedttts» V richten. Druck und Verlag von E. Polt t» Leimig, 3D. Die Zustände in der Centrumspartei. H DI? herausfordernde Rede, die der CentrumSsührer pp. Lieber gpläßlich der Einweihung der Schöneberger Mndlbstpstfirche gehalten, und die für die Aufgabe des preußischen Staates auf dem Gebiete des Volk-schulwesen- so wenig schmeichelhafte Wendung in der gleichzeitig zu Neuß gehaltenen Rede des Kölner Weihbischofs Dr. Schmitz legen e« nghe, die Auslände jn der CentrumSvgrtei nochmals näher in Angenschein zu nehmen. Den» so pst bisher im klerikalen Vager bej den leitenden Geistern das Bedürfnis durchbrach, die Erfolge ihrer Sache, sei es dem Protestantismus oder der Staatsgewalt gegenüber, mit tönenden Posaunenstößen zu rühmen, so ost bat sich bei näherem Zusehen erwiesen, daß gerade dann die Zustände in der Partei «» nahelegten, mit ruhm rediger Ueberschwenglichkeit drohenden Abfall abzuwenden und zu gleicher Zeit die unbequeme Aufmerksamkeit der Oeffent- lichkeit abzulenfen- llnd ebensooft bat man die Beobachtung machen können, daß dann der preußische Staat das leibende Object wurde, wenn es darauf ankam, gerade di« Geister de» Particularisnius zu beschwören, die von dem Verbände mit dem Centrum beengt, ungeduldig nach größerer Bewegungs freiheit verlangten. llnd in der That, ein scharfer Wind weht, wie wir schon kürzlich hervorhoben, aus dem bayerischen Ceutruiuslager herüber; die Losung ,,Gründung einer katholisch-bayerischen Polkspartei" will nicht zur Ruhe kommen. Wohl haben sich gegen die Zusammenschließung des bayerischen „katholischen Volkes" für die Reichstagswahl zur Gründung einer be sonderen Fraction die norddeutschen Cenlrumsblätter in ge harnischten Protesten erklärt; wohl sind, ihrem Appell folgend, in bayerischen centrumstreueu Bauernvereinen die alten Führer gegen eine Secession ausgetreten; wohl haben die bayerischen Centrumsmitglieder zum Schluß der letzten Reichs- tag-session in langwieriger Berathung den Beschluß gefaßt, beim Centrum zu bleiben und eine beschwichtigende Reso lution an ihre näheren Landsleute zu richten — still ist es damit nicht geworden. Die Bewegung geht weiter. Und der bayerische Centrumsabgeorduete Söldner — derselbe, der mit «iiier resoluten Erklärung zuerst die Decke zerriß, welche die Gährung verhüllte — ist nun, nachdem die Stellung nahme der bayerischen CcntrumSabgeordneten vom Reichstage bekannt geworden, mit einem neuen Pronunciamento ge kommen , das keinen Zweifel über die lebendige Kraft der Realitäten übrig läßt, die nvthwendiger Weise entweder zu einer Trennung oder zu einer anderen Gestaltung des CentrumS führen müssen, falls die dreißig Bayern auf die Dauer Mitglieder der Fraction bleiben sollen. Als ein sehr interessantes Anzeichen des Mißvergnügens, das in Bayern über das „norddeutsche Centrum" herrscht, erwähnt das erwähnte Pronunciamento: daß zahlreiche ge bildete Elemente sich mit einer tiefen Mißstimmung gegen das Mittwoch den Centrum drS Reichstags vom politischen Leben ganz zurück gezogen haben, Dieser Hinweis deutet auf die letzten Wahlen zurück, welche dem Zentrum die Bedingungen geschaffen haben, unter denen «S jetzt nach Lust die Reichsmaschieneri« in Be wegung setzen oder »inrosten lassen kann. her Wahl bewegung erhielt, da der schlesische CentrumSadel sich für hie Militairvorlage festgelegt hatte, die Demokratie, vr. Lieber voran, die Führung; die Wahlbewegung wurde demokratisch und der Strom schwemmte auch die bayerischen Aristokraten, die Grafen Preysing, Graf Waltersdorf, Frbr, von Pfetten re- sort; dafür gewann dqS Eentrum überzeugte Kleinbürger, «inen Pfarrer und mehrere Bauern; drei Wahlkreise aber gingen, da die kleinbürgerliche Bevölkerung in Bayern vor wiegend bäuerlich ist, gleich an die Vertreter des Bauern bundes verloren, der das ganze agitatorische Inventar des CentrumS dem kleinen Manne gegenüber unter dem Drucke der wirthschaftlichen Lage noch weit wirksamer zu verwerthen wußte. So brachten die Wahlen das bayerische Centrum um eine große Zahl unabhängiger, gebildeter und relativ maß voller Elemente und führten zugleich mit den Bauernbünd- lern einen energischen Feind des bayerischen Centrums in den Reichstag, der gleichfalls als Vertreter religiöser Inter essen auftrat, aber rücksichtslos alle Register dex agrarischen und particularistischen Agitation zog und sich schließlich mit aller Schärfe gegen den Klerus wandte, der demokratisirend die beste Stütze der Lieber'schen Politik gewesen war. Diese Wirkung ist um so empfindlicher, als der niedere Klerus sich auch innerlich gedrängt fühlte, den Anschluß an die Massen zu suchen, da ihm der Einfluß auf die Gebildeten, wie eie Erörterung der bekannten Broschüre des Professors Schell bekundet, offenbar abhanden gekommen ist. Iy den Gründen, die der bayerische Centrumsabgeorduete Söldner weiter entwickelt, befindet sich aber noch rin weit zugkräftiger, der ebenfalls auf die Sünden verweist, die das Regiment der Or. Lieber, Bachem und Genossen auf dem Kerbholz hat. Elsässer und Polen, so führte er aus, seien, obwohl katholisch, dem ReichStagScentrum nicht beigetreten und doch habe ihnen da- Centrum wiederholt die Kastanien aus dem Feuer geholt. Und diese- Argument ist richtig, denn waS auch der Protest und die polnische Agitation an Schmerzen vorzubrjngen hatte, allezeit hat das Centrum cs mit dem gesammten Heerbanne gedeckt. Und so ist die Rechnung richtig: wenn 30 Bayern sich zusammenthun und das norddeutsche Centrum auf 70 zusammenschrumpft, dann muß dieses, weny es den frühere» Einfluß behaupten will, da- größte Entgegenkommen gegen die bayerischen Sonder wünsche beweisen. Da- sind Argumente, die um so zug kräftiger wirken, als dem Centrum bereits bei den letzten Wahlen vier Mandate abhanden und in den Besitz katho lischer Bauernbündler gekommen sind, also die particula- ristische Strömung bereits den Erfolg auf ihrer Seite ge sehen hat. 7. Juli 18S7. In wenigen Wochen findet in Landshut der Katholikentag statt, mitten im feindlichen Lager; man wird mit Spannung abwarten, wie diese Dinge sich entwickeln. Bleibt auch dann „Alles einig": als das qlte C'utrum kehxep Pf. Lieber und sein Heerbann, nachdem di» Bewegung bereit- einen so aus gesprochenen Chaxaktex erhalten, von Landshut nicht zurück. Tritt die Spaltung aber wirklich ein, dann ist es un ausbleiblich, daß der nächste Reichstag eine Gestalt erhält, welche die Erledigung der Reichsgeschäfte noch mehr er schweren wird. Deutsches Reich, Pt Berlin, 6. Juli. Als da- Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni I89l (Gewerbeordnungsnovelle) geschaffen wurde, fügte man ihm auch Vorschriften ein, welche auf die Hebung der Zucht in der jüngeren Arbeiterschaft berechnet waren. Darunter »ahm die erste Stelle der 8ll9» ein, wonach die Gemeinden ermächtigt wurden, durch Ort-statut zu bestimmen, daß der Lohn für die minderjährigen Arbeiter an deren Eltern oder Vormünder gezahlt werde Die Vorschrift hat, wie überhaupt alle auf die Hebung der Zucht in der jungen Arbeiterschaft gerichtetenBestimmungrn jenesGesetzes, wenig oder gar keinen Erfolg gehabt. Da- wird auch wieder in dem Berichte der preußische» Aussichtsbeamten auf da- Iabr fS96 bestätigt. I» diesem Jahre haben danach noch nicht ein halbes Dutzend Gemeinden von dem Rechte des Erlasses solcher OrtSstatute Gebrauch gemacht und die Zahl der Gemeinde», welche die- inSgesammt getha» haben, übersteigt nach diesem Be richte nicht drei Dutzend. Darunter giebt es aber noch Gemeinde», wie im Aussichtsbezirke Münster, die durch ihre OrtSstatute thatsächlich an der Lohnzahlung selbst nichts geändert haben. Mehrere Fabrik- u»d Bergwerks-Aufsichts beamte beklagen diese Erscheinung, und m»t Recht; denn wenn man bedenkt, wie die Arbeiter i» ganz jungen Jahren zu Summen gelangen, die für sie verhältnißmäßig bedeutend sind, so begreift mau, daß sie der Versuchung leicht aus- gesetzt find. Durch die Zahlung des Lohne- an die Eltern könnte, wenn auch nicht immer, so doch in vielen Fällen, mancher Verschwendung vorgebeugt und mancher gute Ein fluß auf die Heranwachsende Generativ» ausgeübt werden- Aber der Grund, weshalb von ß 119» so wenig Gebrauch gemacht wird, liegt in der getroffenen Einrichtung selbst. Wirkliche Vortheile wären nur dann zu erwarten, wenn alle Gemeinden zum Erlaß solcher OrtSstatute übergingen. In dem erwähnten Jahresberichte wird hierüber auch kein Zweifel gelassen. Mau sieht immer mehr ein, daß die gesammten Bestimmungen d«S Gesetze- vom l. Juni 1891, welche sich auf die Hebung der Zucht in der jungen Arbeiterschaft be ziehen, wegen des sacullativea Charakter-, der ihnen gegeben ist, gar nichts genutzt haben. 91. Jahrgang. Berlin, tt. Juli. Die „Post", das Organ des Frhrn. v- Zedlitz und Neukirch, setzt die Bemühungen, die national liberale Fraction des Abgeordnetenhauses zu Gunsten des „preußischen Socia listengesetzes" „umzuftimmen", fort, mit einer Unverdrossenheit, die um so mehr Bewunderung verdient, als ihr kein Erfolg blühen wird. Der Anfang des Artikels variirt die bereits zurückgewiesene thörichte Behaup tung, die nationalliberale Presse hätte das Bedürsniß, auf die Fraction einen „moralischen Zwang" auSzuüben. Jedenfalls erweckten die Proteste dagegen, daß die nationalliberale Fraction „umfallen" würde, bei der — linksliberalen Presse diesen Eindruck! Wir bitten doch ja nicht unter den Scheffel zu stellen, daß gerade die „Post" unausgesetzt versucht hat, mit unqualificirbaren Verdächtigungen diesen Eindruck erst hervorzurufen, der zu Protesten nölhigte. Der Schluß der Epistel lautet: „Zu leidenschaftlicher Erregung liegt ein Anlaß nicht vor; eine rudige und objective Behandlung der Sache aber erscheint um so mehr geboten, als es der Gipfel politischer Thorheit wäre, jetzt die nationalen Parteien unter sich und mit der Regierung verhetzen zu wollen." Wir constatiren: auf nationalliberaler Seite ist von der gerade in der „Post" so oft geschmähte» Fraction und von den nationalliberalcn Blättern von vornherein Alles gethan worden —, da die geschlossene Haltung der Fraction keinen Zweifel ließ — um jede Erregung im Lande zurückzuhalten. Ferner ist die Schlußerklärung der Fraction, welche über die Herrenhaus arbeit den Stab bricht, in ruhiger und objectiver Be handlung erfolgt. Somit unterscheidet sich dieser Artikel der „Post" von de» früheren dieses Blattes nur dadurch, daß er nicht im ersten Beiblatt, sondern im Hauptblatte steht, daß nicht die Klapper geschwungen, sondern auf der Lockpfeif; gepfiffen wird. Der Vogelsteller ist derselbe geblieben. * Berlin, 6. Juli. Zu der Mittheilung, daß die Rück sicht auf „Vornehmheit" bei der Neubesetzung des Amtes Stephans mit ejnem General maßgebend gewesen, bemerkt eie „Post": „Wenn als Gründ für die so vielfach angefochtene Wahl des Staaisjecretairs im Neichsvostamt auch das Ersorderiiiß der Vor nehmheit angeführt sst, so läßt sich die Richtigkeit der Angabe nicht controlire», sicher aber ist, daß gegebenen Falls damit die leit zu einer ostelbischeii Adelsfamilie nicht gemeint gewesen ist, sondern die Vornehmheit des Geistes und der Gesinnung, welche allerdings eine unerläßliche Voraussetzung für jede leitende Stellung, und vor Allem auch sür die an der Spitze einer so zahlreichen Beamtenschaft, wie die der Postverwaltung, stehende Person bildet.' Die „Nat.-Ztg." entgegnet hierauf: „Wir halten daran fest, daß es die äußere „Vornehmheit" war, auf die gesehen wurde. Verhielte es sich so, wie die „Post" andcutet, dann läge darin ja die gröblichste Be- leivigung der vier AbtheilungS-Directoren des Rcichspostamts und sämmtlicher Oberpoftdirectoren des Reiches; denn als- i dann würde behauptet, daß allen diesen Herren „die Vor- > nehmbeit des Geistes und der Gesinnung" fehle. Nein, von I der einen Seite ist die äußere „Vornehmheit" gewünscht und Die Slinde in der Ausstellung. Novelle«» von Paul Fleischmann (Berlin). Nachdruck verboten. Die Scenerie, welche daS Alige des Beschauers entzückt, der eben den Haupteingang der Leipziger Ausstellung passirt hat, erglänzte heute in besonderem Reiz. Gegen Mittag war ein Regen herniedergegangen; aber nun schien die Sonne Alles in um so reichere Fluthen von Licht und goldigem Schimmer tauchen zu wollen. Gerade aus der See mit seinem vornehmen Schmuck, flankirt von der blühenden Pflanzenwelt, an der noch die Tropfen des erquickenden Regens flimmerten, aus dem Hintergruude ragend die Kuppel des Hauptgebäudes, rechts und links die fesselnden eigenartigen Bauten — Alles, Alles lachte in hundert Farben, tn tausend Strahlen und Reflexen. Und frohbewegt, erwartungsvoll, zum Tbcil heiter plau dernd ergoß sich ein Menschenstrom, den die elektrische Bahn soeben in die Ausstellung gebracht hatte, nach allen Seiten. Nur eine kleine Gruppe strebt langsam, zögernd vorwärts. Ein blondes junges Mädchen, den Frieden der Entsagung in dem schönen Antlitz mit den erloschenen balbgeschlossenen Augen, wird geführt links von einem jungen Manne, ihrem Bruder, rechts von dessen Braut. O Menschenschicksal! O unergründliche Fügung deS Himmels! Mit 18 Jahren das Augenlicht zu verlieren, — mit 18 Jahren, wo die Sonne eines Lebens voll Zufriedenheit gerade ihrem Zenith entgegen stieg! Den schwerkranken Vater hatte sie gepflegt, — wochen lang mit dem Tode gerungen, der ihn bedrohte, und bei diesem Kampfe war sie dem grimmigen Feinde zu nahe gekommen, war sie von seiner lebenau-loschendeu Hand selber gestreift worden: als der Vater anSgelitten, raubte ihr eine schwere nervöse Entzündung da- Licht der von zahllosen Nachtwachen angegriffenen Augen. Und dieses tragische LooS hat seine Schatten nunmehr auch über daS Brautpaar geworfen. Vergrämt schreitet der Bruder neben der blinden Schwester. Er hatte sich eben mit Hertha verlobt, als die traurigen Ereignisse in der Heimath eintraten. Und da ist es wie Nacht auch über ihn gekommen. Ist eS denn gerecht, sprach sei» zartfühlendes Herz, daß ich heirathe, während die Schwester — lebendlodt ist? Dürfen die Antheile von Ge schwistern am Werth und Glück de< Leben- so verschieden sein? Würde ich nicht bei jedem Kusse, bei jeder Umarmung meiner jungen Frau an die Unglückliche denken müssen, die nun der Hoffnung auf Lebens- und Liebesiust beraubt ist? Ja, so bitterschmerzlich es ihm auch werden wird, aber Georg ist entschlossen, von der Verlobung zurückzutreten! Und die- heute Abend noch. Lieschen hat ihm nämlich au- der Anstalt, wo sie Blinden unterricht erhält, geschrieben, daß sie so gern auf einen Tag nach Leipzig berüberkommen möchte, um „die Ausstellung zu sehen!" Da« Wort „sehen" und zumal in dieser Verbindung entsetzlich! Von Neuem bat eS sein Inneres auf- gewüblt. Einer Blinden eine prächtige Ausstellung „zeigen" zu sollen — giebt es Wohl etwas Traurigeres, etwas sür beide Theile Erschütternderes? Aber konnte er den Wunsch abschlagen? Und war nicht diese traurige Gelegenheit die geeignetste, um seiner Braut die Größe des Unglücks so recht lebendig vor Augen zu führen? Ja, Hertha, das lebens lustige Blut, wird ihn dann verstehen, wenn er ihr heute Abend, nachdem sie Lieschen wieder zur Babn gebracht haben Werden, Alles darlegen wird: wie er die Freude am Leben verloren und nicht mehr glaube, eine Frau glücklick wachen zu können, wie er sich nur noch dem Ziele zu weihen ver möge, der Schwester — außer seiner Geldunterstützung — auch stete Gesellschaft zu leisten, um ihr das schwere Loos erträglich zu machen . . . Und Hertha? Noch weiß sie nicht-j Georg bat einst weilen nur ihre Eltern vertraulich verständigt; aber es ist, als ob sie Etwa- ahnte, während sie da so bange, so scheu neben der Blinden «inhergeht, vom Arme des herzlich Ge liebten getrennt durch Diese, von der seine Gedanke» m letzter Zeit kaum noch abzuleuken waren. . . Hinter den Dreien schreiten Hertha's betagte Eltern. „Nun, Kinder", ruft der alte Herr, „da gebt nur jetzt allein mit Lieschen — Ihr wißt ja Bescheid — Mama und ich wollen nach der Kunstballe; gegen 7 Uhr trefft Ihr uns in der Hauptgastwirthschaft wieder!" Und man verabschiedet sich. „Soll denn nun wirklich Alles so traurig kommen?" fragte Hertha'- Mutter langsam und nackdenklich ihren Galten, „Erich — muß es denn sein? Sag, was meinst Du eigentlich?" Der alte Herr zuckte schmerzlich bewegt die Achseln. „WaS ist da viel zu meinen! Wie verständlich Georg's Rücktrittsgrund ist, daS wird Hertha jetzt sehen. Und zudem: wer weiß, ob sie so ganz zu einander gepaßt hätten; er — der Gefühlsmensch, sie — Gott sei Dank ja auch von Herzen gut, aber doch noch sehr jung und daher etwas genußverwöhnt und anspruchsvoll. Jedenfalls läßt sich hier nicht dreinreden und nicht zureden; wir müssen dem Geschick seinen Lauf lassen, so schmerzlich es auch ist für die Be theiligten wie für uns selber! „Es hat so so sollen sein", und die heutigen traurigen Eindrücke sind Hertha vielleicht — wer kann eS wissen? — beschieben, um irgendwie zu ihrem Besten zu dienen." Mit Gewalt kämpfte Georg seine trostlose Stimmung nieder, um sie Lieschen nicht merken zu lassen. Denn nie durfte ja Diese erfahren, daß ihr Unglück — nicht blos dem Bruder das Herz, sondern zugleich auch das Band zerriß, mit dem es an einem anderen Uebenden Herzen hing. Nein, niemals sollte ibr ein solches Bewußtsein den anscheinend und ach, wie schwer gewiß! errungenen Frieden ihrer Seele störe», ihr einzige- Gut, — niemals! Ein Borwand, we-halb die Verlobung zurückzegangen, würde sich schon finden. In möglichst harmlosem Tone begann er daher der Schwester di« Scenerie am vorderen See zu schildern . . . Und die Blinde athmet den erfrischenden Odem des Wassers, dessen Spiegel sich jetzt glitzernd und flimmernd unabsehbar vor ihrem innern Auge dehnt. Ihre Brust weilet sich, die Statuen, von denen Georg spricht, erheben sich vor ihr, ja sie glaubt das Publicum zu sehe», dessen im Kiese der Allee knirschende Tritte, Lessen Stimmen und Ausrufe sie mit scharfem Ohr zu scheiden unternimmt nach Alter und Geschlecht, nach Ernst und Fröhlichkeit, nach feiner Genußfähigkeit und roher oder htasirler Stumpfheit. Ein Lächelu der Befriedigung umspielt den leichtgeöffneten Munk mit den schneeweißen Zähnen; und als sie jetzt beim Weiter geben das Bouquet der Düfte einsaugt, die de» Garten anlagen entsteigen, als alle die Blumen uud seltenen Ge wächse vor ihrem Geiste ersteben — reizender, bizarrer vielleicht noch als Georg sie schildert —, da färben sich ihre Wangen rosig von zartem Glück und Genuß. „Ach, wie schön! wie himmlisch schön ist es hier!" Georg beginnt unwillkürlich aufzuathmen. Zwangloser und wärmer ist seine Stimme geworden, als er in der Gartenbauhalle die Erzeugnisse einheimischer Gartenkunst, dann die Farrenkräuter und hochragenden Palmen schildert, ferner daS Tropendiorama mit seinem plätschernden Wasser, mir den nebelhaften Bergen am Horizont, den Tropenwasser- pflanzen und der ebenso wunderbaren bunten Fauna. „O, ich sehe AlleS!" ruft die Blinde aus, „verlaßt Euch drauf: ich habe Alles lebendig vor mir! Es ist reizend!" — Und dann in der Textilballe . . . Wie da« vor LieSchen's Ohren so emsig summt unv rasselt und schnurrt, — wie rubt sie da nicht, bi- ibr die Tbätigkeir jeder Maschine, die Einrichtung jedes WebestuhleS bis ins Kleine dargelegt ist! Ja, unv Lie Leute, die vor den Maschinen sitzen oder die ausgelegten Stoffwaaren hüten, nehmen meist selbst daS Wort und beeifern sich, der armen Blinden Alles zu erklären, ja, sie lassen sie auch zu ihrem Entzücken auSnahm-weise die Stoffe alle betasten und befühlen. „O Ihr Lieben!" ruft sie glückselig beim Weitergang au-, „sehr Ihr auch, wie gut, wie gut ich's doch immer noch babe? Wie freundlich nicht bloS Ihr — nein alle, alle Menschen zu mir sind, selbst die fremdesten?" Tief ergriffen schließt Hertha sie in ihre Arm« und küßt sie mit Innigkeit. Und als sie nach Ueberschreitung der Hauptbrücke vor dem großen Industriegebäude stehen, dessen Eonstruction Georg, der die Baukunst studirt hat, besonder- beredt zu schildern weiß, da erhebt sich Liescheu'S Antlitz entzückt zum Himmel. Denn jetzt ragen ja vor ibrem inneren Blick all' die Pfeiler und Frouttburme in die Luft, zwischen Leuen sich mächtige Portale und Bogenfenster und oben herrliche Kuppeln wölbe» — „ach wie großartig! wie wunderbar!" baucht sie, al- nun der Riesenbau Plastisch in allen Einzelheiten vor ihrer Seele ftebt . . . Im Innern veS Hauptgebäudes geht jetzt Hertha mit Lieschen, sie eng umschlungey haltend, voran und übernimmt frohgespräckig die Erklärung. Georg schreitet hinterher, und als er wieder und wieder bemerkt, wie harmlos-freudig die Schwester hört und fragt und bewundert, La — gebt ein Gefühl glücklicher Erlösung durch seine Brust. Ja, es ist wabr, das dahinstürmende Schicksal bat ihr eine Welt voll Lust uud Leben in Trümmer geschlagen, aber dann muß es sich wohl, erschrocken über Las eigene Zerstörungswerk, erbarmungsvoll zurückgewendet haben; Len» nun hat es eifrig Stein auf Stein wieder zusammen gerafft, um ihrem Leben ein bescheidenes neues Heim zu bauen. Ein Heim, ruhend auf dem Fundament ihrer tiefen Ergebenheit, aufgebaut aus glücklicher Schärfung der übrigen Sinne, au- gesteigerter Vorstellungskraft uud Genußfähigkeit wie auch aus dem herzlichen Antbcil der Mitmenschen — uud schirmend überdacht durch daS Bewußtsein, das Augen licht im Kampfe sür Deu verloren zu haben, der cs ihr einst schenkte! Ein Heim, bescheiden, aber doch wohnlich — ach, Gott sei Dank! Und als sie in der Abthcilung für Musikinstrumente sind, ertönen plötzlich von kundiger Hand die herrlichen Klänge des ersten Satzes der Aeethovcu'scheu Sonate in ^.-äur, op. UN, mit ihrem durch Seeleugröße erkämpften, süßen, himmlischen Frieden. „Nun seht, Ihr Lieben", ruft Lieschen entzückt aus, nachdem der letzte Accord verklungen, „seht, das hat Beet hoven geschaffen zu einer Zeit, wo das Schrecklichste aus ibn herniedersank, was ihn nur treffen konnte: völlige Taubbeit, und auf der Leiter diese- Unglücks ist seine Schaffenskraft dem Himmel nur noch näher uud näher gestiegen —." „O Du braves, braves, tapferes Mädchen!" antwortete Heriha weinend, „von Dir kann man Zufriedenheit unv alles Gute uud Edle lernen! — Nickt wahr, Georg," fährt sie fort, als sie beim Austritt aus dem Gebäude seine Augen glücklich und voll zärtlicher Liebe auf sick ruhen sieht, „nickt wahr, gleich nach unserer Hochzeit nehmen wir doch Lieschen auf immer zu uns?" „Auf immer, Schatz, so lange sie will!" . . . Und drei fröhliche Menschen waren es, welche unter Scherzen schließlick den Thurm der Wasserrutschbabn bestiegen, um unter dem Hellen Ausjauchzen der Blinden in das Wasser binunterzusausen und dann un Vergnügungßviertcl ihren Rundgang zu beenden. Ein erfrischender Lustzug batte sich am Abend erhoben. Er kräuselte das Wasser deS großen See- und trieb mit Len Strahlen der Riesenfontaine wie mit den Klängen der Musik capelle ein sanftes Spiel. „Ihr Lieben, stoßen wir nock einmal auf daS Wohl LieSchen's an!" sprach mit bewegter Stimme ein alter Herr an .einem mit Wein und Speisen bedeckten Tisch unter ter Veranda der Hauptgaslwirtbschaft, „aus Lieschen'- Wohl, da« un- Allen fortan lieb und theuer sein wird wie unser eigene-!"
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