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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.06.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-06-19
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970619028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897061902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897061902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-06
- Tag1897-06-19
- Monat1897-06
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Sieclam en unter dem Redactionsstrich (4ge» spalten) LO^Z, vor den Familiennachrichte» («gespalten) 40^- Wrühere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Zifsernsap nach höherem Tarif. Ertra-VeilaqkN (gefalzt), nur mit de» Morgen - Ausgabe, ohne PoslbSsörüerunzl 80.—, mit Postbesorderung 70.—. Annahmeschlub für Anzeige«: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. SLorgen»Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Nei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anreigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Berlag von E. Polz in Leipzig. 308 Sonnabend den 19. Juni 1897. 91. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 19. Juni. Nicht der „Rcichsanzeiger", wie der Telegraph fälsch lich gemeldet hat, sondern die „Norddeutsche Ällgem. Zeitung" hat gestern Abend gemeldet, daß der Kaiser dem Präsidenten des Reuhsversicheruugsamtes Dr. Bödiker den aus Gesundheitsrücksichten erbetenen Abschied ertheilt hat. Der „Rcichsanzeiger" war gestern Abend »och nicht in der Lage, von dieser Entscheidung Kunde zu geben. Der Weg von der enlscheidenven Stelle zum „Neichsanzeiger" ist also ein weiterer, als ter, der von eben dieser Stelle zur „Nordd. AUgem. Zlg." führt. Man würbe also daraus, daß das amtliche Organ auch jetzt noch nichts über eine bezüg lich teS Herrn Or. v. Miquel getroffene Entscheidung zu melden weiß, nicht schließen dürfen, daß eine solche Ent scheidung noch nicht getroffen wäre, wenn nicht die „Nordd. Ällgem. Ztg." gleichzeitig mit ter Nachricht über die Genehmigung des Abschiedsgesuches des Herrn Or. Bödiker die Meldung brächte, daß Entscheidungen über die von anderen Blättern in Aussicht gestellten Veränderungen in den höchsten Stellen des Reichs- und Staats dienstes bisher noch nicht erfolgt seien. Daß eine Entscheidung gestern noch nicht getroffen war, wird man also als Thalsache betrachten dürfen. AuS einer Auslassung der „Berl. Polit. Nachr.", die bekanntlich dem preußischen Finanzministerium nicht fern stehen, darf man jedoch schließen, Laß die Entscheidung nicht bis zum Herbste auf sich warten lassen soll. Zugleich erfährt man aus dieser Auslassung genauer, um was es sich handelt und welche Fragen noch ungelöst sind. Die „Berl. Polit. Nachr." treten nämlich zunächst der Ansicht entgegen, daß es sich bei den geplanten Beränderungen in erster Linie um Personensragen handle, und fahren daun fort: „Es sind höchst wichtige Organisationsfragen, welche hier in Betracht kommen. Das hatte sich offenkundig für jeden ernsten Beobachter herausgestellt, daß bei den immer mehr in die Größe wachsenden Verhältnissen im Reiche und in Preußen schwer lich ein Mann gefunden werden könnte, der ohne Entlastung von dem lausenden Dienst die schweren Aufgaben eines Reichs kanzlers, den auswärtigen Dienst, die entscheidende Be handlung der übrigen Reichsangelegenheiten und die unmittelbare Leitung der preußischen Geschäfte zugleich, wie dies einem Ministerpräsidenten zustehen müßte, in einer Person auf sich zu nehmen vermöchte. Das hat die Erfahrung schon unter dem Fürsten Bismarck wie unter dem Grafen Caprivi hinreichend gezeigt, daß ohne eine wirksame, weit umfassende Ent lastung, die nicht rein formeller Natur ist, die Aemter eines Reichskanzlers und Ministerpräsidenten in Preußen in einer Person nicht vereinigt bleiben können. Die oberste Spitze muß (einheitlich bleiben; sie muß aber von dem täglichen Dien st entlastet werden. Dem Kanzler muß die auswärtige Politik, sowie die Entscheidung in den wichtigen Fragen im Reich und Preußen verbleiben. Die Orga nisation, wie sie jetzt gedacht ist, um Lurch eine Entlastung des Reichskanzlers diesem die Möglichkeit zur Fortführung des Amtes zu bieten, ist dauernder Natur, einerlei, wer Reichskanzler ist, ob eine jüngere oder eine ältere Persönlichkeit. Dies Bedürsmß hatte sich schon bisher in der Praxis als offenbar vorhanden er- wiesen, und zweifellos ist eS richtig, in dieser Beziehung eine Organisation zu treffen, welche den Reichskanzler entlastet und ihm dadurch gerade die oberste Leitung in den großen Fragen erleichtert. Von dieser Frage ist aber völlig unabhängig dir andere Frage, ob eS nothwendig ist, den Stellver treter des Reichskanzlers und Ministerpräsidenten n einer Person zusammenzusasjen. Es könnte sehr wohl ein Stellvertreter Les Reichskanzlers im Reiche und ein Vicepräsident LeS preußischen Staatsminisleriums in Preußen den Kanzler dort wie hier entlasten; beide hätten doch an sich dem Reichskanzler und Ministerpräsidenten gegenüber die volle Ver antwortung, könnten keine eigene Politik machen, und der Re chs- kanzler wäre stets in der Lage, in wichtigen Fragen seine Ansicht zur Geltung zu bringen und Reibungen zwischen demReich und Preußen zu vermeiden. Man könnte sehr wohl der Meinung sein, daß die Leitung des Reichsamtes Les Innern und Stellver tretung des Reichskanzlers im Reiche auch geschäftlich schwieriger zu vereinigen sei mit den Aufgaben des Bicepräsidenten in Preußen und daher eine Theilung nach Personen vielleicht sogar sehr er wünscht wäre. ES ist wohl anzunehmen, daß diese Organi- salionssragen in den Besprechungen der maßgebenden Kreise im Vordergründe stehen und daß vielleicht Lesinitive Entschei dungen namentlich auch in Betreff der Personen noch gar nicht getroffen sind. Um so weniger Bedeutung können daher die Combinationen und Conjecturen der Presse, welche sich ja immer weit mehr mit Personensragen als mit Sachen beschäftigt, im gegen wärtigen Stadium für sich in Anspruch nehmen. Man dürste in dessen nicht seblgehen, wenn man annimmt, daß alle in Betracht kommenden Fragen nicht, wie einige Blätter behaupten, bis zum Herbst vertagt sind, sondern in naher Zeit zur Entschei dung gebracht werden. Von einer Aenderung in der Stellung ler Reichsämter selbst, wie ein Hamburger Blatt dies zu befürchten scheint, ist gegenwärtig nicht die Rede." ES ist hiernach, wie wir von vornherein an nehmen , Für st Hohenlohe selbst, der die Neu organisation angeregt hat, um seinen Aemtern noch länger vorstehen und dann seinem Nachfolger eine geringere Last übergeben zu können, als er sie bisher zu tragen Halle. Aber er denkt nicht an jene Trennung des Reichskanzlerpostens von dem des preußischen Ministerpräsidenten, die sich schon durch zweimaligen Versuch als für die Dauer un durchführbar erwiesen hat, sondern er will nur dauernde Entlastung in beiden Aemtern. Da entsteht von selbst die Frage, ob es ein und dieselbe Person sein soll, die hier wie dort einen Theil der Last übernimmt. Im In teresse der Stetigkeit und der Uebereinstimmung der Politik im Reiche und in Preußen ist es natürlich wünschenswerth, daß die Stellvertretung ebenso in einer Hand liegt, wie die Aemter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsi denten in einer Hand vereinigt sind; aber es scheint, als ob Herr vr. v. Miquel, der selbstverständlich als Entlaster des Fürsten Hohenlohe zuerst in Betracht kommen mußte, Bedenken gegen die Ucbernahme einer solchen Doppellast hege, nicht sowohl wegen ihrer Schwere, als wegen ihrer inneren Zwiespältigkeit. Am wenigstens scheint ihm der Gedanke sympathiick zu sein, alsLeiter des Rcichsamtes des Innern und Stellvertreter deSNeichskanzlerö zugleich Vicepräsident des preußiscken Ministeriums ohne Porte feuille zu werden, da in Preußen der lieben dem Minister präsidenten einflußreichste Minister immer der Finanzminisler bleiben wird, sofern er diesen Posten ausfüllt. Daß bei der be- die Die Ruhe und Unthätigkeit, die zur Stunde auf dem Gebiete der inneren Politik Oesterreichs verrscht, ist nicht nach dem Geschmacke der Jungtschechen, welche sich nach Tbaten sehnen und mit unglaublicher Frivolität mit dem Staatsstreich spielen. So verlangen die „Narodni Lisch" beute vom Grafen Badern, derselbe möge nicht länger zögern und die Aenderung der Verfassung in föderalistischem Sinne durchführen. Das jungtschechische Blatt behauptet, daß für diese Verfassungs - Aenderung die Zweidrittel k im Abgeordnetenhause zu finden wäre, und fährt dann fort: „Es qiebt nur zwei Auswege aus der gegenwärtigen Situation, da Ler Centralismus in Oesterreich abgewirthschastet hat: die Beseitigung Les Parlaments und der Abiolutismus oder die Schaffung einer föderalistischen Verfassung. Mag sein, daß diese Eventualität bei den gewerbsmäßigen Politikern als ein Staatsstreich bezeichnet werden würde. Sollte deStwlb Graf Badeni oder ein anderer Minister davor zurückschrecken? Das Heil und die Wohlfahrt der Völker darf nicht vernichtet werden einem Stücke Papier zuliebe nur deshalb, weil das, was daraus geschrieben steht, Verfassung heißt. Die Völker hoben schon Manchen gesegnet, der den Muth hatte, einen Staatsstreich z > begehen, und sie werden auch Denjenigen beglückwünschen, der uns von der Fiction befreit, welche blos von einer Clique in diesem Reiche zur Constitution gemacht wurde." Es ist bemerkenswertb, in welch wegwerfenden, verächt lichen Worten La von Ler Verfassung gesprochen wird. Tie Sprachenverordnungen sind zwar nicht die Verfassung, und im Abgeordnetenhanse wurde von der Opposition sogar die Behauptung aufgestellt, daß sie verfassungswidrig seien. Dafür wurden sie aber unter den besonderen Schutz der Staatsanwälte und der politischen Behörden ge stellt. So gut hat eS die Verfassung nicht, die ist, wie die Tschechen sich auSdrücken, nur ein Stück Papier und wie das aus der Belcredi'schen Sistirungszeit stammende und nun wieder aufgegriffene Wort besagt, „eine Fiction". Der förderalistische Popanz, der in Oesterreich jetzt umgeht, wird dem Grasen Badeni natürlich höchst unbequem, ist er doch von seiner Mehrheit losgelassen worden. Wie wir an anderer Stelle mittheilen, bat die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" aus Wien als Aeußerung eines Mitgliedes des Eabinels Badeni sich melden lassen, der Kaiser werde, falls die deutsche Obstruktion nicht aufböre, sich ev. den födera listischen Parteien in die Arme werfen. Die ministerielle Pro venienz dieses Kukukseies ist sofort vfficiös abgeleugnet worden und wohl mit Recht; aber man siebt au« der Publikation, westen man in Oesterreich da« Cabinet Badeni für fähig hielt, nachdem eS sich einmal de» Föderalisten verkauft hat. Durch die klerikale Presse geht unter Hervorhebung sich darin bekundeten päpstlichen Weisheit eine von uns reits erwähnte „Note" des „Osservutors roumno" an französischen Katholiken, worin Viesen klar gemacht wird: Der Papst hat das Recht und die Pflicht, die den Orten und Zecken entsprechendsten Arten anzugeben, in welcher die Sache der Religion vertbeidigt oder gefördert werden soll. Daraus ergiebt sich, daß die französischen Katholiken weder direct noch indirect die tatsächlich be stehende Regierung bekämpfen dürfen, daß sie sich viel mehr auf den constitutionellen und legalen Boden stellen sollen, um sowohl die compacte Vereinigung ihrer Kräfte zu erlangen, als auch den Gegnern jeden Grund zu nehmen, sie für Feinde der bestehenden Institutionen zu erklären, aber auch deswegen, um nicht die höhere Sache der Religion mit der einer politisckenPartei verquickt erscheinen zu lassen. Jever andere Boden wäre in der gegenwärtigen Lage Frank reichs weder ein fester, n och den Interessen derReligion vortbeilhaft. Soweit der „Osservatore". Wenn die« Pflicht des Papstes ist, dann wäre vielleicht jetzt der gegebene Moment, an die „preußischen Katholiken polnischer Zunge" und ihre Klerisei, soweit letztere das deutsche Gebet als eine Sünde erklärt und erstere in religiösen Fragen mit dem hoch würdigen deutsch-katholischen Klerus höchst ungenirl umgehen, eine analoge Aufforderung zu erlassen, damit nicht die höhere Sache der Religion mit einer politischen Partei ver quickt erscheint, was Len Interessen der Religion nicht vor- lheilhaft ist. Auf die entsprechende Note an das Centrum selbst kann man dann noch eine Weile warten. Die am 15. d. M. vollzogenen Wahlen zur zweiten Kammer der holländischen Generalstaaten, bei denen bekanntlich zum ersten Male da« erweiterte Stimmrecht An wendung fand, haben der bestehenden liberalen Regie rung eine schwere Niederlage gebracht. Von den 100 Kammersitzen haben im ersten Wahlgange die Liberalen nur 13 gewonnen, die Calvinisten dagegen bereits 14, die Katho liken selbst 22. Im denkbar günstigsten Falle können die Stichwahlen den Liberalen höchstens 55 Sitze verschaffen, nach aller Wahrscheinlichkeit werden die kirchlichen Parteien eine Mehrheit bilden, und wird dem jetzigen Ministerium Roell-van Houten rin calvinistisch-katholischcS Cabinet Kuüper-Schaepmann folgen. Die Losungen der ver bündeten kirchlichen Gruppen, Schutzzoll und Social politik, haben nun auch in Holland den freihändlerischen, individualistischen Liberalismus zu Fall gebracht, selbst in einer Handelsstadt wie Rotterdam kommen Schutzzöllner zur Stichwahl. Auffällig wenig Zuwachs brachte das die Zabl der Wähler von 300 000 auf 550 000 erhöhende neue Stimmrecht den Radikalen und Socialdemokraten, sodaß diese in der zweiten Kammer keinen Einfluß auSüben werden. Nur in vier Bezirken kommen die Socialbemokraten oder radikale Arbeitercandidaten in die Stichwahl. Bei der am 25. d. M. bevorstehenden Entscheidung wird es haupt- der Entscheidung über das Wie der Organisation auch s Majorität die Personenfrage eine große Rolle spielt, liegt auf — der Hand, denn gerade wenn eS zwei Personen! sein sollen, die den Fürsten Hohenlohe entlasten, so kommt' auf die innere Ueberemstimmung dieser Personen unter einander nnd mit dem Fürsten sehr viel an. Auch kann ein Mann von der Vergangenheit Miquel's, wie wir bereits dargelegt haben, ohne eine Laterne an der Locomotive, die er ! fuhren soll, eine Führerschaft auch dann nicht übernehmen § wenn dem Kanzler und Ministerpräsidenten „die Entscheidung m den Wichtigen Fragen im Reiche und Preußen verbleibt" UeberdieS ist mit dem Verbleiben des Herrn vr. v. Boetiicher als Staalssecretair des NeickSamls des Innern und Stell vertreter des Reichskanzlers nicht zu rechnen. Kein Wunder wenn die Entscheidung sich verzögert. Aber andererseits drangt sie, da ihre allzulange Verzögerung auf die nächsten preußischen Landtagswahlen vom nachtbeiligsten Einflüße sein konnte. Man wird ihr also wohl noch vor der Reise LeS Kaisers nach Rußland entqegensehen dürfen. Um so weniger ist es am Platze, sich in Ver- muthungen über die Art der Entscheidung zu ergehen. Frrrrllstoir. Zwei Frauen. 32j Roman von F. Marion-Crawford. Nachdruck verboten. So seltsam eS scheinen mag, lasen Hilda und Greif den langen Brief zu Ende, ehe sie begriffen, was er bedeutete. Ihre Gefickter waren von geisterhafter Blässe, als sie einander mit entsetzten Augen anfahen. Kalter Schweiß perlte von Greif's Stirn. Aber eS war ein großer Unterschied zwischen Greif's jetziger und seiner Gemülhsverfassung, als er vor achtzehn Monaten unter der Last seiner qualvollen Aufregung zusammengebrochen war. Das ruhige und friedvolle Leden hatte seinen Charakter gestärkt und seine Nerven gekräftigt, und obgleich Hilda jeden Augenblick erwartete, er werde niedersinken wie an jenem denkwürdigen Tage, blieb er auf recht sitzen, sich stählend gegen den Anprall der Riesenwoge deS Mißgeschickes, das aus der Tiefe des Grabes ausgesliegen war, ihn zu überfluthen und sein Glück in einer einzigen Minute zu vernichten. Sein Verständniß schien sich bis zum Hellsehen geschärft zu baden und erfaßte sofort die ganze grauenvolle Hoffnungslosigkeit seines ungeheuren Elends. Hilda begriff e« gleichfalls in einem gewissen Maße, aber sie dachte nur an sein Leid und nicht an irgend welche Folgen für sich selbst. Voll tiefster Zärtlichkeit und innigsten Mitgefühl« nahm sie ihr Taschentuch und drückte die küble Leinwand auf seine feuchte Stirn, während sie sah, wie seine breite Brust sich keuchend hob, und sie den dumpfen kurzen Ton seines AtdemS zwilchen den zusammengepreßten Zähnen hörte. Sie schlang ihre Arme um ibn und versuchte ibn an sich zu ziehen, aber er saß da wie eine au« Stein gemeißelte Gestalt, unbeugsam wie ein Granitblock. „Greif", rief sie endlich, „theurer Greif, sprich zu mir —" „Wie kann ich zu Dir sprechen, die ich entehrt habe?" fragte er, ihr langsam den Kopf zuwendeod und bemüht, sich ihrer Umarmung zu entwinden. „Mich entehrt! O, Greif —" „Ja, Hilda, ich bin so wenig Dein Gatte, wie mein unglücklicher Vater der Gatte jener Frau war, die mich ihm geboren und ihn und mich zu Grunde richtete." „Greif, theurer, geliebter Greis, bist Du wahnsinnig?" „Wahnsinnig? Neinl Die woblthätige Umnachtung meine« Geiste« hat der Allmächtig« mir versagt. Wahnsinnig ? Ach, um Deinetwillen wünschte ick, es wäre so. Wahnsinnig? Ich weiß, was ich sage. Du bist nickt meine Frau, noch bin ich Wildenberg oder Greifenstein, oder Hilda's Gatte, noch sonst irgend etwas als ein namenloser Vagabund, der Hilda — o, mein Golt — der Hilda entehrt hat." „Greif, um des Himmels willen —" „Ja, ja, ich muß sprechen und schnell. Es ist besser, daß Du die Wahrheit von diesen Lippen erfährst, die Dich geküßt haben, obgleich sie nicht werth sind, den Staub auf Deinem Wege zu küssen, diese Lippen, die eine Person wie meine Mutter küßten und Worte der Betrübniß und des Kummers über ihren Tod sprachen, o, nimm Deine reinen Hände weg von mir — ich bin nicht Dein Gatte. Unter einem Namen, der mir nicht gehörte, der nie mein war, nahm ich Deinen — Golt sei Tank, Du trägst ihn nocv! Deine Heirath ist ungiltig, Dein Kind namenlos wie ick. Weißt Du wie daö Gesetz mich bezeichnen würde? Ein gewisser Greif, der Bastard eines gewissen Herrn von Greifenslein und einer Frau, die unter dem Namen Clara Kurtz bekannt ist, — das ist die Aufzählung aller meiner Ehrentitel, die Benennung deS Vaters Deines Kindes, des Mannes, den Du zwölf Monate und einen Tag Deinen Gatten nanntest. Ack, wie viel unermeßliches Elend schuf diese meine Mutter! Sie trieb meinen Vater, meinen braven alten Vater, den ich aus tiefstem Herzen liebte, in den Tod und belud mich mit einer Schmack, die schlimmer ist als der Tob, und brachte Schmach und Schande auf das einzige Geschöpf, das mir zu lieben geblieben." Er hielt inne, zitternd in leidenschaftlicher Erregung. Hilda war erschrocken über die Heftigkeit seiner Worte und den zornsprühenden Blick seiner Augen, aber Furcht war ihrer Natur zu fremd, um sie zu beeinflussen. Sie verstand jedoch, wa« ihr zuvor entgangen war, daß er glaubte, ihre Heirath fei nicht giltig und könne vor dem Gesetz nicht zu Recht bestehen. „Greif, mein Geliebter", sagte sie, erst sanft und leise» dann immer entschiedeneren Tones sprechend, „last' die Tobten in ihrem Grabe ruhen! Sie können unS nicht« mehr zu Leide tbun." „Nichts mehr zu Leide?" rief Greif. „Weißt Du, daß jedes Wort, da« ick sprach, wahr ist, daß der Fluch der bösen That meiner Mutter uns bis an« Ende unserer Tage verfolgen wird, daß wir nicht rechtmäßig Mann und Frau sind?" „Nein, Greif, daS ist nicht wahr", erwiderte Hilda. Wir sind vor Gott Mann und Frau und —" „Ja, aber nicht vor dem Gesetz." „Was ist uns der Buchstabe deS Gesetzes? Lieben wir einander nicht? Ist das nicht auch ein Gesetz?" „Vielleicht im Himmel!" „Und auch auf der Erde. Mit Hilfe LeS Himmels macht uns die Liebe zu dem, was wir sind. Weder Menschen, noch Gesetze haben damit etwas zu schaffen, denn meine Liebe stehl über allen Gesetzen der Meirichen. Und dieses Blatt, was bedeutet es uns? Eine Stimme aus dem Grabe ruft uns zu, daß wir nicht sind, was wir zu sein glauben, was wir aber, wie ich weiß, in Wahrheit sind. Und weshalb das? Weil vor langen Jahren etwas Schmachvolles ge schehen ist, von dem wir bis zu diesem Augenblick nichts wußten. Ist da« Gerechtigkeit, ist das jenes Gesetz, das Du fürchtest und in Ehren hältst, das Gesetz, dem Du gestatten willst, trennend zwischen mich und Dich zu treten? Es giebt ein Gesetz, daS besser ist als dieses, Geliebter, das Gesetz, das mich mit stählernenen Banden an Dich kettet, in guten wie wie in bösen Tagen, in Schmach wie in Glanz und Ruhm, in Ehre wie in Unehre —" „Ja, die Unehre, die Schmach, Hilda!" „Von welcher Schmack, von welcher Unebre sprichst Du, Greif? Von der Schmach, die ein Blättchen Papier un« enthüllt, von der Schmack einer Frau, die ibr Unrecht mit dem Tode gebüßt bat? Ist daS Alle«? Oder ist cS Le« Namens oder der Namenlosigkeit wegen? Ober glaubst Du, wenn Du als gemeiner Soldat im Heere dientest und Du irgend einen gewöhnlichen Namen trügest, den zu wählen Dir einfiel, wenn Du der ärmste Soldat wäre», der je sein Schwert zog, glaubst Du, daß ick Dir nicht folgen und wie eine Sclavin für Dick arbeiten und lieber Hunger und Noth erleiden al« Dick auch nur für einen Tag verlassen, daß ick alle« Ungemach tausend Mal dem vor ziehen würde, Hilka von Wildenberg und die Erbin de- ganzen Greifensttin'fcken Vermögen« zu sein, wie dieser Brief behauptet? Könnten alle Gesetze der Welt mich verhindern, da« zu tbun? Und Tu sprichst von meiner Sckmach durch die Verbindung mit Dir? Ich würde für Dich betteln, ich würde für Dick arbeiten und alle Kräfte deS Leibe« und der Seele erschöpfen, uni Brod für Dich zu erwerben! Und Du behauptest, weck dieses Bllrlt 'n-"'" Hand gelangte, bin ich nicht Dem« Frau? Sm Blatt Papier zwischen mir und Dir, Greif, ein Blatt Papier auf der einen, meine Liebe auf der andern Seite, mit Allem, waS sie Dir für jetzt und immer bedeutet! O, Theuerster, hast Du mich so lange geliebt, ohne zu wissen, waS Liebe ist?" Sie würde ihre Arme um seinen Nacken geschlungen haben, aber er verbarg sein Gesicht in den Händen und regte sich nickt. Er schien sich der niedrigste, der erbärmlichste der Menschen, so unschuldig er auch war, so fern ihm auch jede Absicht gelegen batte, BöseS zu thun. Er verwünschte seine Schwäche, nack jenen UnglückSiagcn nackgegeben zu haben und bewußtlos zusammengebrochen zu sein, um entkräftet durck schwere Krankheit wieder zu erwachen, außer Stande, sich dem Zauber zu entwinden, der ihn übermächtig zu Hilda zog. In seinem Herzen nannte er sich einen Verrätber, einen Feigling, einen Elenden ohne Glauben und Ehrgefühl. Er crinnerie sich jene« Morgens vor achtzehn Monaten, als er nach Wildenberg gekommen war, den Kampf für die Ehre auszufechtcn, er erinnerte sich der Todesqual jenes bitteren Kampfes, jenes schmerzlichen Triumphes, al« er die letzte verzweifelte Anstrengung gemacht und siegreich aus all dem Ringen hervorgegangen war, obgleich daS Fieber bereits in ibm raste und er kaum den Weg unter seinen Füßen sah. Wenn er auch tapfer geblieben wäre, als sein Körper noch schwach war, hätte das nicht eintreten können, was ihm jetzt das Gewissen beschwerte. Ohne Hilda würde ibn Name und Rubm noch weniger gekümmert haben. Aber er batte nach gegeben, die Schmack seiner Geburt auf den fleckenlosen Stamm derjenigen übertragen, die er liebte, und da« Vcr- bängniß hatte daS Ucbrige gethan. Da« erbarmungslose Schicksal, da« seinen Vater, seine Mutter und seinen Bruder ereilt, halte auch ihn in dem falschen Paradiese aufgespürt, das er stck erbaut. Er sagte sick, daß auch er sterben müsse, denn er war der niedrigste und verächtlichste der Menschen. „Willst Tu Dich nicht überzeugen lassen, Greif?" fragte Hilda nach einer langen Pause. „Siebst Du nicht ein, daß ich Recht habe und Du im Unrecht bist?" „Nein, ich sehe nichts ein, al« daß ich nickt wieder gut- zumachende Schmach über alle die gebracht habe, die ich liebe, wie der, Ler mich am meisten liebte, Schmach, unvergängliche Schmack über mich brachte." „Und wenn ick mich weigere, mich in Schmach stürzen zu lassen, wa« dann?" „Was dann? Ich weiß cS nicht", antwortete er. „Willst Du mich in Schmach stürzen, Dir selbst, meiner Liebe zum Trotz?" Dieses Mal antwortete er nicht, sondern vergrub wieder sein Gesicht in die Hände, um die geliebte Frau nicht sehen
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