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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 20.06.1897
- Erscheinungsdatum
- 1897-06-20
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189706204
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18970620
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18970620
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-06
- Tag1897-06-20
- Monat1897-06
- Jahr1897
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 20.06.1897
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Di» Morgen-Au-gab« erscheint um '/,? Uhr.» di« Abenb-Au-gabe Wochentags »m S Uhr. Nedaction und Erpe-ilion? JohanneSgaffe 8. Die Expedition ist Wochentag- nnunterbrochnr geöffnet von früh 8 bis Abend» 7 Uhr. Filialen: ktt» Klemm's Lortim. (Alfred Hahn), Universitätsstraße 3 (Paulinum), LoniS Lösche, Datharioenstr. 14, pari, und KönigSplatz 7. BezugS-Preis d»k Hanptrxpedition oder de» im Gtabt« d«trf und den Bororten errichteten AuS- aabestellen abgrholt: vi«rt«IjLhrllch^l>4.L0, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Hau»^i tz.bO. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteliährlich 6.—. Direkte täglich« Kreuzbandsendung de» Ausland: monatlich 7.Ü0. UciDigtr TagMatt Anzeiger. ÄmtsötaLt des Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Nathes nnd Nolizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-Prei- die 6 gespaltene Petitzeile SO Pfg. Reklamen unter dem RedacttonSstriL s4ge spalten) 50^, vor den Famtliennachrichten (6 gespalten) 40^. Dröhne Schriften laut unserem Preis- Verzeichnis^. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (grfalzt), nur mit der vioraen-Ausgabe, ohne Postbefördernng ^l SO.—, mit Postbeförderung ^ti 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgab«: Vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein« halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von <k. Polz in Leipzig. 399. Sonntag den 20. Juni 1897. 91. Jahrgang. Äus der Woche. Nicht bi» zum Herbst vertagt, aber doch vertagt sind die Berliner Entscheidungen. In Aussicht genommen Waren sie für die Zeit vor der Abreise des Kaisers nach Westdeutschland. Es ist gerade kein gutes Vorzeichen für die neue oder vermeintliche neue Aera, daß die Oefsentlichkeit Zeugin ihrer langwierigen Enlstehungsschmerzen geworden ist. Nach dem die auffällige Rückkehr des Herrn Or. v. Miquel alle Welt auf Entschließungen von besonderer Tragweite vor bereitet hatte, so hätte die Entscheidung rasch erfolgen sollen. ES heißt jetzt, die Schwierigkeiten lägen auf Seite der Organisation, bezw. der Vertheilung der Aemter. Das mag richtig sein, aber wenn es richtig ist, so beweist es, daß man die Fragen, die bei einer Umgestaltung der Re gierung nothwendig austauchen mußten, nicht gelöst hat, bevor Herr v. Miquel citirt, die politnche Welt in Spannung und Aufregung versetzt und Leuten wie Herrn Nickler Ge legenheit zu der höhnischen Frage gegeben wurde, für welche Regierung man Wohl bei den bevorstehenden Schluß verhandlungen über die Vereinsgesetznovelle Vertrauen be anspruchen werde, für die Iuniregierung oder für die noch unbekannte Herbstregierung. Uns interessiren jene OrganisationSfrazen wenig, da eS, wie schon hervorgehoben, m der jetzigen Lage anf die Männer und nicht auf die Geschäftsvertheilung ankommt. Nun sind wir seit vorgestern durch Thatsachen in der Ueber- zeugung bestärkt worden, daß zwischen dem Fürsten Hohen lohe, der die Seele der Umbildungspläne ist und die größten Anstrengungen macht,seinen College» Miquel für die tbalsächtiche Leitung der inneren Politik zu gewinnen, und diesem Letzteren ein treues Nebeneinanderarbeiten gesichert ist, wenn die beiden Männer zum Nebeneinanderwirkcn berufen werden sollten. Und das ist die Hauptsache. Wie es gehalten werden soll, wenn Fürst Hohenlohe einmal den Abschied nimmt und Miquel nicht sein Nachfolger wird, dar muß doch wieder von Neuem und mit Rücksicht auf die Person des neuen Mannes bestimmt werden. Mit dem Rücktritte des Reichskanzler» im nächsten Herbst, obwohl eine Aeußerung seines Sohnes darüber colportirt wird, braucht für den Fall, daß daS von ihm gewünschte Arrangement im Wesentlichen zu Stande kommt, unseres Erachtens nicht ge rechnet zu werben. Der Fürst dürfte unter dieser Voraus setzung ebenso geneigt sein, die auswärtigen Angelegenheiten weiter zu führen, wie Herr v. Miquel abgeneigt, sie zu über nehmen. Wenn OrganisationS- oder Aemtervertheilungssckwierig- keiten entstanden sind, so ist es vielleicht nur das Gewand, in das sich die p o l it i sch e n Meinungsverschiedenheiten gekleidet haben. Unsere Mittbeilung, daß Herr v. Miquel — übrigens in voller sachlicher Uebcreinstimmung mit dem Reichskanzler — ein Programm sestzulegen wünscht, wird vom „Ham burger Correspondent" bestätigt. Daß dieses, wie das Blatt weiter meldet, mit dem Kaiser bereits vereinbart sei, scheint man nirgends zu glauben. Die Zielscheiben, die der jetzige Finanzminister aufstellte, und noch mehr die Grenz pflöcke, die er steckte und die auch in der Unterredung mit Herrn v. Lucanus nicht beträchtlich verrückt worden sein dürften, scheinen in dem Monarchen den Wunsch nach einer Bedenkzeit erweckt zu haben, die nun auch die ministerielle Laufbahn des Herrn v. Boetticher etwas verlängert. Die Natur der Schwierigkeiten — sie liegen auf der Hand — ist von uns wiederholt gekennzeichnet worden. Sie im Einzelnen namhaft zu machen, hätte in diesem Augenblicke keinen Werrh. Angesichts der Thatsache, daß die Presse der Parteien, die sich als Hüter der Verfassung preisen, Herrn v. Miquel als den Messias der Reaction ankündigen, sei bervorgehoben, daß in einer Aera Miquel das Spielen mit Staatsstreichs gedanken allen denen verboten sein müßte, denen der Kaiser etwas zu verbieten hat. Das gehört übrigens auch zu den selbstverständlichen Be dingungen eines Politikers wie Miquel, und die Demokraten und Socialdemokraten wissen selbst recht gut, daß von ihm nichts für die Rechtsordnung zu befürchten ist. Aber das ist nur ein Grund mehr für sie, ihn selbst zu fürchten. Der Staatsstreich - Lärm ist den Radikalen aller Scbattirungen sehr gut bekommen und wird auck> ferner hin Wind in ihre Segel treiben. Wie sie sich unter dem gegenwärtigen Regiment überhaupt recht wohl fühlen. Das Geschrei über die „beschämend untergeordnete Rolle" deö Reichstags ist nur Vas Geschrei des schmausenden Wolfes „nach mehr." Das nihilistische Parlamentarierthum hat es seit dem Bestehen des Reiches niemals annähernd so gut gehabt wie jetzt, wo ihm die Autoritätölosigkeit der Regierung und die Besorgniß der Bevölkerung vor blitzartigen Entschlüssen reich liche Nabrung zuführt. Ein einheitlicher und fester Wille in der Regierung ist Dasjenige, was die Nadicalcn am wenigsten brauchen können, und darum wird Herr v. Boetticher in der „Franks. Ztg." als ein Mann gelobt, der seine Sache so gut machte, daß er von einem Miquel nicht übertroffen werden könnte. Den Feinden des Reiches ist es behaglich im Sumpfe unseres jetzigen politischen Lebens, darum ver schreien sie den gesunden, ertrachreichen Boden als den Acker der Reaction. Ob Herr v. Miquel ein Regiment dieser Art zu etabliren vermöchte, ob ihm gelingen könnte, was einem Fürsten Bismarck fehlgeschlagen, das wird von den Freunden einer gründlichen Wandlung stärker bezweifelt, als — ans ihrer Angst zu schließen — von den Gegnern. Einem System der verantwortlichen Regierung stehen zur Zeil wohlbekannte große Hindernisse entgegen. Und Herr v. Miquel muß sich darauf gefaßt machen, baß ihm, so weit diese delicate Frage in Betracht kommt, schärfer auf die Fingern gesehen werden wird, als jedem Anderen vor ihm. Und mit Recht. Wenn es beim „Fortwursteln" bleiben soll, hat die Veränderung der politischen Stellung dieses zu einem sclbstnändigen Verhalten an sich qualisicirteu Staatsmannes keine Be rechtigung. Am Dienstag tritt das preußische Abgeordneten haus zusammen, um über die Vereinsgesetznovelle zu beschließen. Diese hochpolitische Angelegenheit findet noch den alten Negierungszustand >or. Am gleichen Tage versammelt sich der Reichstag, dessen Mehrheit die Unterbrechung der Sitzungen herbeigeführt hat, um über die vorausgesebenen Acnderungen in der Negierung noch ein Wörtchen sagen zu können. Geredet wird auch so werden, aber Herrn v. Boetticher kann man, ohne das Ge lächter aller Parteien herauSzufordern, nicht erwidern lassen, und Herr v. Miquel wird doch wohl nicht von einer Stelle aus sprechen, von der er im nächsten Herbst möglicher Weise nicht schon Besitz ergriffen hat. Der erste Beratbungs- gegenstand des Reichstages ist politisch ziemlich harmlos: die Handwerkervorlage, deren dritte Lesung noch aussteht. Sie wird ein beschlußfähiges Haus haben, denn die durch die politischen Vorgänge der ver gangenen Woche erregte Neugier dürfte sich stärker erweisen als die Abneigung gegen das Vertauschen behaglicher Ruhe mit parlamentarischer Arbeit. Zur Vorbereitung der Debatte schlägt der Abgeordnete Jakobskötter, dem es wohl be kommen möge, einige der blühendsten Lügen und Redensarten todt, mit denen seine Partei in Concurrenz mit dem Centrum Jahre lang die Handwerker am Narrenseile herumgeführt hat. Er schreibt in einer Auseinandersetzung mit dem Antisemiten Viclhaben, der auf die Erbschaft besagter Parteien in besagter Herumführung speculirt, u. a. folgende Sätze: „Es ist eine durch Nichts zu erweisende Behauptung, daß die Gewerbevcreine geleitet werden von dem organisirlen Groß- unternehmerthum, daS von einer Ordnung im Wirihschaftsleben nichts wissen will" In einem großen Theile von Bayern, Württemberg, Baden, Hessen, Thüringen, selbst in preußiicben Bezirken stehen die Handwerker der Jnungsbewegung gleichgillig, der Zwangsinnung aber feindlich gegenüber. Was will demgegenüber die Berufung auf den Zwang der Arbeiter-Versicherung? Hier handelt es sich um ganz bestimmt abgegrenzte Leistungen und Gegenleistungen zum Wohle der Betreffenden und im Interesse der Allgemeinheit." . . . „Hat es jemals zur höchsten Blüthezeit Les Handwerks einen Zustand gegeben, in dem der gesummte Handwerkerstand Deutsch lands einheitlich organisirt gewesen ist? Kann nicht eine freiwillige Innung unter Umsiändcn so segensreich wirken, daß der Beitritt im eigenen Interesse des Betreffenden liegt und es gar keines Zwanges bedarf?" „Auch darüber sollte doch allgemach Klarheit herrschen, daß auch die beste Organisation — und etwas Anderes ist die Innung nicht — nicht im Stande ist, der natürlichen Entwickelung entgegen irgend ein Handwerk zu erhalten. Nicht an den Folgen der Gewerbefreiheit, sondern in Folge der Einsührung der Maschinen ist das ehemals reiche Gewerbe der Tuchmacher und der Leinen- w. Weber dem Handwerk verloren gegangen, sowie jetzt die Schubfobrikation das Schuhmacherhandwerk ernstlich be droht, daran kann kein noch jo wohlgemelntes Gesetz der Welt etwas ändern." Man siebt, Herr Jakobskötter betreibt daS Abschwören von Irrthümern wie sein Kleidergeschäft en gros. Er ver steigt sich im Weiteren sogar zu der Erklärung, daß der Handwerkerstand als „festeste Stütze von Thron und Altar" eine ihm persönlich widerwärtige Phrase sei. In Herrn Iatobskölter ist entweder eine große innere Wandlung vorgegangcn, oder er sucht sich anderen Wandlungen, die er voraussieht, anzubequemen. Der Strafvollzug bei Preßvergehen. Z2 Der letzte Journalisten- und Schriftsteller tag bat eine Petition an den Reichstag beschlossen, von der leider das triviale Wort gilt: Weniger wäre mehr ge wesen. An sich hat die Sache wenig Bedeutung, da es aber außerhalb des Kreises der Presse wenig bekannt ist, daß die politischen Journalisten an den Verhandlungen und den Beschlüssen der alljährlichen Versammlungen der Schriftsteller in sehr geringem Maße betheiligt sind und sein können, so muß es bedauert werden, baß der Schein entstehen konnte, Männer, die Einfluß auf die Gestaltung der Gesetz gebung beanspruchen und üben, träten an einen gesetzgebenden Factor mit einem mangelhaft durchdachten Ersuchen heran. Die Petition, die wir im Auge haben, betrifft den Straf vollzug bei Preßvergehen und gipfelt, nachdem sie die Neformbedürftigkeil des bestehenden Zustandes treffend charakterisier hat, in der Bitte: „Der hohe Reichstag wolle dahin wirken, daß baldmöglichst ein für bas ganze deutsche Reich geltendes Strafvollzugs gesetz erlassen werde, in welchem für Preßvergehen principtell Festungshaft für solche Gefangene vorgesehen wird, deren Straf- that als nicht aus gemeiner Gesinnung hervorgegangen anerkannt ist, und die Entscheidung darüber nicht der Polizei und den Ge- fängnißbeamten überlassen bleibt, vielmehr bem Richter die Pflicht auferlegl wird, die Slrasverbüßungsart iin Urtheil selber anzuordnen." Diese Formulirung läßt stilistisch und juristisch zu wünschen übrig. Die Androhung einer andern oder einer neuen Strafart gekört in daS Strafgesetzbuch, nicht in ein SlrasvollzugSgesetz. Das deutsche Straf gesetzbuch kennt allerdings zur Zeit den Begriff deS Preßvergehens nicht; Alles, waS die Presse sich zu schulden kommen lassen kann, Hochverrath, Beleidigung, grober Unfug, kann von jedem gewöhnlichen Sterblichen ver brochen werben. Aber das läßt sich bei gutem Wille ändern. Es fragt sich aber, ob die Gesetzgebung beim besten Willen so weit zu geben vermag, wie die erwähnte Petition wünscht. Anscheinend sind ihre Befürworter selbst nicht dieser Meinung gewesen. Denn auf dem Journalisten tax ist gesagt worben, man müsse, um etwas zu erreichen, möglichst viel verlangen, und diese den Praktiken des Kuh handels entlehnte Regel blieb siegreich gegenüber dem Ein- wante, daß allzuweit gehende Forderungen Denen, die gar nichts zugestehen wollten, das Spiel erleichterten. Der Antrag, die ausschließliche Zulässigkeit einer Festungs haft auf die politischen Preßvergehen zu beschränken, fand keinen Anklang. Es wurde primär die Festungs haft für alle „literarischen Preßvergehen" — neben diesen die politischen hervorzuheben, ist überflüssig — und zwar ohne daS Requisit des Mangels gemeiner Gesinnung verlangt. Ein Redner wollte die Festungshaft sogar unter dem Gesichlepuncte des Standcsbewußtseins: die Journalisten müßten dieselbe Begünstigung erlangen wie die Studenten Feurlletsn. 0v66v. Zum 60. Regierungs-Jubiläum der Königin von England, 20. Juni. Von Frank Robinson. Nachdruck verboten. Die achtzehnjährige Prinzessin, die in der Nacht zum 20. Juni 1837 im Kensington-Schloß aus dem Schlafe geweckt wurde, um die Mittbeilung entgegenzunebmen, daß sie durch den Tod ihres ObeimS Königin von Großbritannien und Irland geworden sei, pflegte ihre Großmutter, die Herzogin Auguste von Coburg, unter Anspielung auf ihr Geburts datum gern „die kleine Maiblume" zu nennen. Und dieser poetische Vergleich war nicht unzutreffend. Die Tochter des Herzogs von Kent war ein reizendes Geschöpf mit einem zarten, lieblichen Gesichte, einem Vogelstimmchen und einem liebenswürdigen Zuge jungfräulicher Verlegenheit. Für sie bedeutete jener 20. Juni eine gewaltige Umwälzung. Gestern noch eine wenig beachtete, in tiefster Zurückgezogenheit lebende Prinzeß, in deren Elternbause es verbältnißmäßig reckt be scheiden zuging; beute Inhaberin eines der wichtigsten Throne Europas und Besitzerin, wenn nicht großer politischer Macht, so dock ungemein reicher Einkünfte und eines kaum berechen baren EinsiusseS. Sehr wenig wußten England und die Welt damals von dem Charakter dieser aus dem Schatten des Privatlebens in den Lichtkreis der Geschichte eintretenden Persönlichkeit. Sie war 18 Jahre alt, und darin lag eigentlich der Kern ihres damaligen Wesens. Scheu und wiß begierig, schnell in der Parteinahme und eindrucksfähig, «in wenig launenhaft zugleich, — diese Züge tbeilte sie mit den meisten Mädchen jene- reizenden Alters. Doch wußten Die, die sie näher kannten, daß ihr Charakter der Eigenart keines wegs entbehre. Merkwürdig mischte sich bei ibr eine aus gesprochene Fähigkeit zu voller Hingabe und warmem Mit empfinden mit einer entschiedenen Betonung ihrer Persönlichkeit nnd einem starken Eigenwillen; deutsches Blut und englische Erziehung schienen diese Mischung veranlaßt zu haben. Wie sich aber ihre Persönlichkeit weiter entwickeln würde, das hing von dem Einflüsse ihrer neuen wichtigen Stillung und — von ihrem Manne ab. Da hatte sich zwar die junge Königin eine echte Mädchen laune in den Kopf gesetzt. Sie wollte nicht heirathen, wenigstens nickt jetzt heirathen. Der plötzliche Umschwung der Verhältnisse brachte ihr die HeirathSgedankrn aus dem Sinne. Sie selbst bat später mit Unwillen an ihre damalige Absicht, alle Ebeprojecte noch einige Jahre binzuziehen, ge dacht. Doch e» kam ander», al» der Mätchenkopf eS sich zurechtgrlegt hatte: Prinz Albert von Coburg kam, wurde gesehen und siegte, und drei Jahre nach ihrem Regierungs antritt war Königin Victoria eine glückliche Gattin geworren. * * z- Eine glückliche Gattin — wenn je dies Wort an seinem Platze war, so traf es hier zu. Die glücklichsten beiden Jahr zehnte des Lebens der Königin begannen. Von der seltenen Persönlichkeit des Prinzen-Gemahls ging ein belebendes Fluidum auS, das seine ganze Umgebung anregte und mit Lebensfreude erfüllte. Die junge Königin, bis dahin im Ganzen ein unfreies Spielzeug der Verhältnisse, begann durch ibn zum Gefühle wirklichen Lebens, eigener Betbätigung, freien Genießens sich zu entfalten. Sie verdankte ihm Alles. Er war es, der sie schnell von jener Neigung zu eigensinniger Parteinahme curirte, die sic im Anfang ihrer Negierung besonders in der auffallenden Zurücksetzung, ja Kränkung der Tories gezeigt hatte. Er war es, der sie politische Dinge geschichtlich verstehen lehrte, der ihr Einblick in das mensch liche Leben öffnete. Er führte sie zu dem Jungbrunnen der Natur, indem er jene berühmt gewordenen Ausflüge in das schottische Hochland veranstaltete, die bald zu dauernder An siedelung daselbst in Balmoral-Castle führten; er zeigte ihr nicht nur die Schönheiten der Landschaft, sondern lehrte sie sie auch sehen, indem er hier Basel, dort Neapel oder Vlam- land zum Vergleiche heranzog. Und willig ging die Königin auf alle Anregungen des innig geliebten Mannes ein. Sie war ganz Hingabe für ihn. In ihrem Tagebucke auS dem Hochland ist ckear Albert, und was er thut sagt und denkt, der stete Refrain. Was er vollendet, ist ihr geweiht. Wenn die greise Monarchin noch heute ebenso sehr an Balmoral und Osborne (auf der Insel Wight) hängt, als sie Windsor-Castle verabscheut, so verrätst sie im Jahre 1856 einmal selbst den Grund davon in schlichten, innigen Worten: „Mit jedem'Jahre hängt sich mein Herz fester an daS theure Paradies (Balmoral), und um so mehr, als Alles meines theuren Albert eigene Schöpfung, eigenes Werk, eigener Bau und eigene Anlage ist, ebenso wie in Osborne; und sein großer Geschmack und der Abdruck seiner lieben Hand prägen sich überall aus." Ja, Königin Victoria war glücklich. Sie lebte in vollen Zügen. Alle ihre freundlichsten Eigenschaften entwickelten sich. Sie war die zärtlichste Gattin und Mutter. Allem Edlen brachte sie reges Interesse entgegen; sie zeichnete und trieb Musik; sie halte vor den großen Künstlern eine solche Achtung, daß sie zitterte, als sie in Mendelssohn'S Anwesen beit sang; selbst als 65Iährige sagte sie noch zu einem Aquarellisten, der sie zu unterrichten anfanaen sollte: „I ksel quit« vsrrous". Dem Zwange englischer Steifheit und Eti kette war sie entflohen; im stillen Familienleben, in den „geliebten dlgdlancks" oder an Bord ihrer Lustjachten blühte ibr, stilles Glück. Sie liebte den Frohsinn, ibr Helles Lacken erfüllte die Räume ihrer Schlösser; sie war außer sick vor Vergnügen, wenn sie unerkannt mit dem Gemahle durch die Berge reiste, mit drn Leuten sprach und Prinz Albert dann ihre Namen in einer Seltersflasche mittbeilte. All' ibr idyllisches Glück vertraute sie jenen Tagebuckblältern an, die seitdem allgemein bekannt geworden sind: schlichte, einfach und klar geschriebene Blätter, nicht die Ergüsse einer geist reichen Schriftstellerin ober gar eines Genies, wobt aber die Erlebnisse einer glücklichen, lebensfrohen, warmherzigen Frau und Mutter, die, wie mit großen offenen Augen, all' die Herrlichkeiten des Lebens und der Welt entdeckt und sie mit fast kindlicher Freude genießt. All dies Glück zerstörte daS Jahr 1861 mit einem Schlage. Der Witwenschleier, den Königin Victoria seit damals nicht mehr abgelegt bat, ist gewissermaßen ein Symbol ibres ganzen weiteren Lebens geworben. Ein Schleier hat sich darüber gelegt. Die Königin ist gewissermaßen beim Jahre 1861 stehen geblieben. Ihre Anschauungen haben sich nicht weiter ent wickelt, und neue Menschen und Dinge beurlbeilt sie nach den Gesichtspunkten und Ideen jener Zeit. Selbst den Fort schritt der Mode erkennt sie nicht an. Sie verlangt von den Damen ihrer Umgebung noch heute das decollelirte steife Costüm und die Federtoque einer vergangenen Zeit. Allmählich erging es ihr und ihrem Hofe, wie dem Dornröschen im Märchen: die Vergessenheit spann sich um sie und schloß sie von der Gegenwart ab. Der Hof der Königin Victoria ist ein Hof der Vergangenheit und Vergessenheit. Er ist so un endlich still und — das ist nicht zu bestreiten — sestr lang weilig. Die lachende frohsinnige Königin von einst ist schweig sam und mißlaunig. Gar häufig sitzt sie beim Diner in Er innerungen und Gedanken versunken, ohne zu sprechen, und ein tiefes Schweigen herrscht an der Tafel, da Niemand die Königin zuerst ansprechen darf. Es wird gegessen und servirt, der Tag wird eingeiheilt und die Feste werden gefeiert wie einst — damals. Aber die Welt ist der Königin fremd, ja verbaßt, sie zieht sich zurück, überläßt dem Prinzen von Wales die Repräsentation und zeigt sich ihrem Volke nur bei seltenen Gelegenheiten. * * * Mit rührender Pietät hegt und pflegt die Königin Alles, waS auS der Blüthezeit ihres Lebens stammt oder daran er innert. Noch beute empfängt sie keine Frau, die in Trennung oder Scheidung von ihrem Manne lebt, weil ihr die An erkennung eines solchen Verhältnisses wie eine Versündigung an dem Andenken ihrer Este erscheinen werde. Die Liebe zu dem theuren Schottland, wo sie an der Seite des Gemahls ihre glücklichsten Tage verlebte, ist fast zu einem Cultu» ge worden, und keine Unbequemlichkeit kann sie verhindern, ibr geliebtes Balmoral aufzusuchen. In Schottland nahm sie auch noch am längsten selbst an Unterhaltungen Theil, wie z. B. an jenem Balle, auf dem die Mitglieder deS Hofe» mit der Dienerschaft gemeinsam zu tanzen pflegten. Ihre ganze Zärtlichkeit gehört jetzt ihren Kindern und Nach kommen. Sie ist daS Muster eines patriarchalischen Familien oberhauptes. Selbst den entferntesten Gliedern ihrer so weil verzweigten Familie widmet sie von Hause aus eine liebevolle Theilnahme. Sie verfolgt sie alle und ibr Schicksal genau, sie greift fördernd in ihr Leben ein und ist, wie alle echten Großmütter, eine leidenschaftliche Ehcslifterin. Das schließt nickt aus, daß die Familienglieder, die gegen ihren Willen bandeln, ihren ganzen Zorn erfahren müssen: welch' schwere Kämpfe hat es z. B. Prinzeß Beatrice, ihrer jüngsten Tochter, gekostet, ehe sic die Einwilligung zu ihrer Ehe mit dem Prinzen Heinrich von Battenberg erlangen konnte! Dem einmal Acceptirten aber schenkt sie dann wieder ihre ganze Neigung. Zärtlich pflegt sie das Andenken der Verschiedenen, unseres Kaisers Friedrich z. B. und das der Großherzogin Alice von Hessen. . * * ES ist nicht zu leugnen, daß dieser auS der treuen Er innerung an ihr Eheglück entsvringende starke Familiensinn daS Empfindungsleben der Königin einseitig gestaltet hat Sie ist gegen Andere allmählich mit den Jahren rücksichts loser geworden. Besonders von ihren Hofamen und Vor leserinnen verlangt sie überaus viel. Sie dürfen, WaS ihnen auch widerfahre, keine traurige oder freudige Erregung zeigen, sie müssen eine gleichmäßige Stimmnng bewahren, auf ihre eigenen Neigungen und Ansichten zu Gunsten der ihrer Herrin verzichten, Toiletten ihres Geschmacks tragen, immer dienst bereit und dienstfähig sein. Den geringsten Abweichungen von den Anforderungen der Königin und den Gewohnheiten ihres monotonen Lebens folgt sofortige Entlassung. Sie müssen in der erstarrten Formenwelt ihrer greisen Herrin völlig aufzehen. Freilich wäre nichts verkehrter, als die An nahme, daß diese Herrin für sie nun keinen Antheil und kein Herz habe. Sie ist mit den Jahren sehr anspruchsvoll und eigen geworden, aber sie will das Beste der sie umgebenden Personen. Oft bat sie als ckous er wackiuL ihr bedenkliches Schicksal zum Guten gefügt. Für alte verdiente Dirner sorgt sie mit großer Liebe und bekümmert sich um ihr und ihrer Angehörigen Ergehen mit unerschöpflichem Interesse. Oft überrascht sie durch selten tactvollc Rücksicht. So fährt sic noch heute bei öffentlichen Veranstaltungen, an denen sie the»l- nimmt, bei jedem Wetter im offenen Wagen, um die herbei geströmten Massen nickt ihres Anblicks zu berauben. Der artige Züge sind inS Volk gedrungen und haben ibr seine ganze Liebe erworben. Iks tzuoen ist dem Engländer wirklich «Heuer; tbs tzusou ist für alle Parteien ein unverletzliche» Heiligthum. Und auch der Ausländer wird ihre zahlreichen guten Eigenschaften mit Sympathie anerkennen und eS würdigen, daß sie in schweren Schicksalen rin menschenfreund liches Herz bewahrt und der Versuchung widerstanden hat, eine große Stellung zu mißbrauchen. So wird Königin Victoria in der eigenartigen Reihe von Fürstlichkeiten, die gerade die Geschichte unsere» Jahrhundert» aufzuweisen hat, einen ehrenvollen Platz einnrhmrn.
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