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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 26.06.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-06-26
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970626020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897062602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897062602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-06
- Tag1897-06-26
- Monat1897-06
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Wir sind in der letzten Zeit sogar in conservativen Blättern Besprechungen über die letzten Kundgebungen des Kaisers in Bielefeld und Köln begegnet, die sich in direkten Gegensatz zu der ReichSverfassung setzen. Heule lesen wir in den „Berl. Polit. Nachr.": „In den weitesten Kreisen des nationalen Erwerbslebens, welche durch die häufig genug mit größter Frivolität hervorqerufenen Streiks in Beunruhigung und directen geschäftlichen Nachtheil ver setzt worden, hat man mit erleichtertem Ausathmen das Wort des Monarchen begrüßt, welches schwerste Strafe Demjenigen androht, der sich untersteht, einen Nebcmnenschen, der arbeiten will, an freiwilliger Arbeit zu hindern. Nur zu häufig war eS ja leider der Fall, daß gerade ältere Arbeiter, die Familienväter sind, durch den Terrorismus der jüngeren Elemente an der Freiheit, ihre Arbeitskraft in der ihnen genehmen Weise zu verwerthen, brutal verhindert wurden. Und selbst jetzt, nachdem die in Bielefeld gehaltene kaiserliche Ansprache unter be geisterter Zustimmung aller tüchtigen Volkselemente ihre Runde durch das ganze erwerbsthätige Deutschland gemacht hat, scheint es, als wäre noch keineswegs an sämmtlichen Stellen, welche berufen sind, der Allerhöchsten Willensmeinung zu der gebührenden Nachachtung zu verhelfen, das volle Verständniß für ihren Sinn und ihre Tragweite aufgegangen. Insbesondere gehen uns Mit theilungen zu, wonach bei Durchführung des jetzt in Berlin in- scenirtcn Maurerstreiks fast täglich die empörendsten Vergewal tigungen ruhiger, solider Arbeiter seitens ihrer streikenden Genossen zu beobachten sind; daß Maurer, welche an den bisherigen Lohn- und Arbcitszeitverhältnissen sich genügen lassen, beim Ver- lassen ihrer Arbeitsplätze in gefährlicher Art beschimpft und thätlich belästigt werden, ohne daß ihnen irgendwie das Maß behördlichen Schutzes zu Theil würde, auf das sie als Staatsbürger Anspruch haben. Es liegt uns völlig fern, der Coalitionssreiheit der Arbeiter und dem Bestreben, sie zur Durchsetzung von Streik forderungen auszunützen, Steine in den Weg legen zu wollen, Wohl aber meinen wir, daß es die Coalitionssreiheit in ungeheuerlicher und vom Gesetzgeber nicht gewollter Weise mißbrauchen heißt, wenn unter ihrem Vorwande das natür« liche Recht eines jeden, von seiner Arbeitskraft den ihm Persönlich zusagenden Gebrauch zu machen, beeinträchtigt wird. Solchen Mißbräuchen der Coalitionssreiheit nach drücklich entgegen zu treten, ist nicht nur das Recht, sondern vor Allem auch die Pflicht der Behörden um so mehr, nachdem Seine Majestät Allerhöchstselbst in einer jeden Zweifel auSschließenden Weise zu dieser bren nenden Tagesfrage Stellung genommen hat." Diese Mahnung an die Behörden unter Berufung auf eine kaiserliche Kundgebung ist durchaus ungehörig, sofern sie mehr bezweckt, als die Aufsichtsorgane an die Pflicht zu er innern, Vergewaltigungen solider Arbeiter durch streikende Genossen zur Anzeige zu bringen. Sollte aber, wie eS nach der Berufung auf die kaiserliche „Androhung schwerster Strafen" Anschein bat, die Mahnung auch auf die Richte r gemünzt sein und sie unter Berufung auf eine „Allerhöchste WillenSmeiniing" veranlassen wollen, ein besonderes strenges Strafmaß bei solchen Ausschreitungen zur Anwendungzu bringen, so wäre daS nicht nur ein durchaus unzulässiger Angriff auf die Unabhängigkeit des Richterstandes, sondern auch ein Attentat auf die Reichs verfassung. Nach nichts hat der Richter bei der Fällung seines Urtheiles sich zu richten, als nach den bestehenden Gesetzen. Glaubt der Kaiser, daß diese Gesetze zum Schutze der Ordnung nicht ausreichen, so steht ihm nach der Verfassung zur Beseitigung dieses Uebelstandes kein anderer Weg offen, als in seiner Eigenschaft als König von Preußen sein Ministerium zur Ausarbeitung eincrG es etzes- vorlage zu veranlassen,diees dem Bundes rat he zurBeschluß- fassung vorzulegen hat. Hier haben die Bundesregierungen ihre Ansichten geltend zu machen und je nach der Zahl der ihnen eingeräumten Stimmen ihren Einfluß auszuüben. Erst der Bundesratb giebt der Vorlage die Form, in der sie vom Kaiser an Len Reichstag zu bringen ist, der nun seinerseits sich zu äußern hat. Wird zwischen ihm und dem Bundes rath Uebereinstimmung erzielt, so ist das Gesetz vom Kaiser zu publiciren und bildet die alleinige Richtschnur für Alle, die es zu handhaben berufen sind. Nicht einmal ein Vetorecht ist dem Kaiser durch die Verfassung eingeräumt. Eine schärfere Bestrafungvon Vergewaltigungen solider Arbeiter durch streikende Genossen ist mithin, sofern die Aufsichtsbehörden ihre Schuldig keit thun und vor allen Dingen die Vergewaltigten selbst ihr Recht suchen, einzig und allein auf dem Wege der Reichs gesetzgebung, nie und nimmer aber durch eine noch so ent schiedene „Allerhöchste Willensmeinung" zu erreichen. Wir sind auch fest überzeugt, daß der Kaiser selbst, der stets mit peinlicher Gewissenhaftigkeit die verfassungsmäßigen Rechte seiner fürstlichen Bundesgenossen respectirt, peinlich berührt sein wird von derartigen servilen Auslassungen, deren Verfasser nicht daran zu denken scheinen, daß ihre Servilität gegen das NeichSoberhaupt eine Mißachtung der verfassungsmäßigen Rechte der übrigen deutschen Fürsten und des Reichstags und eine verfassungswidrige Zumuthung an die streng an die Reichsgesetze gebundenen richterlichen Be hörden involvirt. Jedenfalls vergessen sie bei dieser Servili tät, daß sie dem Reichsoberhaupte der in Verfassungsfragen un kundigen Masse des Volkes gegenüber eine Verantwortung zuschieben, die dieses Haupt nicht tragen kann. Gewöhnen sich weite Kreise an die Meinung, der Kaiser brauche nur eine „Aller höchste Willensmeinung" auszusprechen, um sogar den richter lichen Behörden ihre Pflicht vorzuschreiben, so nährt das in unseren verworrenen Zeiten eine Mißstimmung, deren Folgen unübersehbar sind. Wenn die Mitglieder der Commission deS preußischen Herrenhauses, die gestern die VcrcinSgcsctznovrllc im Wesentlichen nach den von den Freiconservativen im Abge ordnetenbause gestellten Anträgen anzunehmen beschlossen haben, einen praktischen Zweck im Auge hatten, so müssen sie glauben, die nationalliberale Fraktion deS Abge ordnetenhauses werde auf einen mehr oder minder sanften Druck von oben „umfallen" oder wenigstens sich spalten. Sie in diesen Glauben zu versetzen, hat sich allerdings ein Theil der conservativen, freiconservativen, demo kratischen, ultramontanen und socialdemokratischen Presse bemüht, indem er das Gerücht ausstreute, 14 Mit glieder der nationalliberalen Fraktion hätten nach der ent scheidenden Fractionssitzung erklärt, daß sie, falls man so weit gehe, den Nest des Gesetzvorschlages zu beseitigen, die freiconservativen Anträge sich aneignen würden. Diesem Gerüchte, an daS wahrscheinlich die Verbreiter selbst nicht geglaubt haben, macht nun beute die „Nat.-Lib. Corr." ein Ende, indem sie es in aller Form als völlig aus der Luft gegriffen zurückweist und außerdem folgende FractionSerklärung veröffentlicht: „Auf einstimmigen Beschluß der Fraction ist die Erklärung des Abg. Hob recht erfolgt, daß die nationalliberale Fraction des Abgeordnetenhauses die Commissionsfassung für eine nützliche Correctur des Vereinsrechtes hält; daß sie der Ueberzeugung war, die Regierung und die conservative Partei im Herrenhause handelten richtig, diese Fassung unverändert anzunehmen; daß die Fraction jede Zumuthung einer weiteren Aenderung des Vereins- und Ver sammlungsrechtes zurück weist; daß schließlich auch nicht einBruch- theil der Fraction zu haben ist, fei eS für die Regierungs vorlage, sei es im Sinne der An träge, wie sie im Abgeordnetenhaus« gestellt waren. Entsprechend der bisherigen Haltung, werden auch für die Zukunft alle Speculationen, einzelne Mitglieder der Fraktion zu einer andern Stellungnahme zu veranlassen, sich als müßig erweisen. Die Erklärung der Fraction ist aber auch wesentlich in der auch ausgesprochenen Absicht abgegeben worden, eine überflüssige Verlängerung der Landtagssession zu vermeiden. Wenn trotzdem diese weiter fortgesetzt wird, so trägt lediglich die Mehrheit des Herrenhauses dafür die Verantwortung und die Staatsregierung." Gehört unter die Mitglieder deS Staatsministeriums, die das Experiment mit dem Herrenhause fortzusetzen angeratben haben, auch der Finanzminister Or. v. Miquel, so wird der sonst so sparsame Herr nunmehr einsehen, daß die Len Ab geordneten der zweiten Kammer für die überflüssige Ver längerung der Session zu zahlenden Diäten zum Fenster hinausgeworfcn sein werden. Warum gerade er zu derBer- muthung gekomme ist. seine früheren FraölionSgendffea würden „umfallen", das erzählen vielleicht seine Memoiren. In Oesterreich hat die Arbeitseinstellung der deutschen Behörden begonnen. Die Gemeindevertretung vonLeitmeritz hat, wie gemeldet, den Anfang gemacht und die Besorgung der nicht durch Reichs- und Landeszesetz bestimmten Geschäfte des übertragenen Wirkungskreises eingestellt. Nach einer unS heute aus Wien zugehenden Nachricht sind die Stadtvertretungen von Brüx und Teplitz diesem Beispiele gefolgt, andere werden sich anschließen. Es handelt sich vorzugsweise darum, daß die Städtever waltungen die Erhebung der Steuern, die ihnen im „übertragenen Wirkungskreise" auf Grund von Verordnungen und nickt von Gesetzen obliegt, ablehnen. Der „übertragene Wirkungskreis" der Gemeinden besteht in der Verpflichtung, für die Zwecke der öffentlichen Verwaltung auf Grund der allgemeinen Gesetze und innerhalb derselben aus Grund der Landesgesetze mitzuwirken. Nach dem Wortlaut dieser gesetzlichen Bestimmung haben die Gemeinden eine Verpflichtung zur Mitwirkung im übertragenen Wirkungskreise nur dann zu erfüllen, wenn entweder Reichs, oder Landesgesetze dies bestimmen. Die Gemeinden werden jedoch nicht nur auf Grund von Gesetzen, sondern auch auf Grund von Ver- Ordnungen bei der Besorgung der Geschäfte des übertragenen Wirkungs kreises in Anspruch genommen, und die Landesvertretungen einzelner Länder, namentlich von Böhmen und Nicderösterreich, sind für eine Be schränkung der Inanspruchnahme der Gemeinden zur Mitwirkung für die Zwecke der öffentlichen Verwaltung auf Grund von Ver ordnungen eingetreten. Das VerwaltungSgericht hat auch mehrfach eine Verpflichtung der Gemeinden zur Mitwirkung im übertragenen Wirkungskreise dort nicht anerkannt, wo nur Verordnungen, nicht aber Gesetze diese Mitwirkung bestimmen und festsetzen. Eine der schwersten Belastungen der Gemeinden im übertragenen Wirkungs kreise besteht in der ihnen auserlegten Erhebung der directen Steuern, wozu sie nicht gesetzlich verpflichtet sind. Eine weitere schwere Belastung der Gemeinden besteht in der ihnen bisher auf erlegten Zustellung der Erlasse und Erledigungen der politischen Behörden; auch hierfür besteht keine gesetzliche Ver pflichtung der Gemeinden; ebenso ist die bisher beanspruchte Mit wirkung der Gemeinden bei den Einberufungen der Reserve und Ersatzreserve des Heeres und bei der Weitersührung der Verzeichnisse der dauernd Beurlaubten im Gesetze nicht vor geschrieben. Tie Erbebung der Militairtaxe ist nach tz 10 des Ge setzes durch jene Organe zu besorgen, denen die Erhebung der directen Steuern obliegt. Es besteht somit auch hinsichtlich dieses Punctes keine gesetzliche Verpflichtung der Gemeinden, ebensowenig für die Mahnung und Aufzeichnung der Zahlungssäumigen, was einen gewaltigen Arbeitsapparat erfordert. Ebenso wurden die Gemeinden in Gewerbe-Angelegenheiten weit über da» Maß der gesetzlichen Bestimmungen in Anspruch genommen. Im Uebrigen gehen die Vexationen der Deutschen durch die Behörden ihren Gang weiter. So in Aussig, wo die Statthalterei den Recurs des Bundes der Deuischböhmen gegen das Verbot des Bundesfestes abgewiesen hat. Die vorschriftsmäßig gemeldete Jahresversammlung findet pro grammgemäß am 27. d. M. in Aussig statt, aber ledliglich für Bundesmitglieder. Zur Geschichte der Genter socialdemokratischen Vooruit- Gcnossenschaft, über deren direct arbeiterfeindliche, aus beuterische Wirtschaft wir wiederholt Mittheilung gemacht haben, bringt der in Gent erscheinende „Jndspendant" inter essante Ausführungen. Es wird davon ausgegangen, daß der belgische Socialismus anfangs der denkbar radikalste, ja baß er geradezu anarchistisch war und daß seine Führer eS vor Allem waren, die unablässig zum internationalen Kladderdatsch drängten. Dann aber, so fährt der „Jndspendant" fort, je älter und erfahrer<«r die jungen Neuerer wurden, um so mehr belehrte Lie TageSgeschichte die Maul helden, daß sich das Alles nur auf dem Papier sehr schön ausnahm. Anderseits waren die Arbeiter mit den endlosen platonischen Zugeständnissen nicht zufrieden. Die Revolu tion schien auf eine so ferne Zeit verwiesen, daß Niemand mebr an sie glauben wollte. Da machten die Führer eine völlige Schwenkung. Sie sahen, daß eine günstige Gelegenheit gekommen sei, die Leichtgläubigkeit der Menge in anderer Weise auSzunützen, und sannen darauf, ihren socia- listischen Kram in ein Unternehmen umzuwandcln, in welchem alle Mißbräuche des Capitalismus planmäßig ein- gefübrl und im Großen durchgeführl wurden. Die von ihnen anfänglich verweigerte Freiheit der Vereinigung benutzten sie dazu, die unwissende Menge zu fesseln; aus der Genossenschaft, von der sie um keinen Preis etwas hören wollten, machten sie ihr Streitroß, und schließlich sollte die Politik Len Führern Gelegen heit geben, Ehrenstellen und Wahlmandate unter einer Herrschaft zu erlangen, die man bis dahin verschrieen hatte und die dem Untergang geweiht sein sollte. Thatsachen und Gerichtsacten beweisen es. Der Vooruit ist eine unbedingt kapitalistische Maschine im schlechten Sinne des Wortes geworden, und die Organisation der Genter Socialisten ist, wie Paul de Witte (der frühere Redacteur Les Blattes Vooruit) gesagt hat, die Verneinung des SocialiSmus. Auf dem Londoner Congreß wurde Änseele von Len Puritanern des CollectiviSmuS arg mitgenommen, und das von Burke und MandSley den Genter Socialisten zugetheilte Beiwort „Parlamentarier" hatte den völligen Nllimy Trauner. 4j Roman von C. Schrorder. NaLdruck verboten. „Ob eS mir leid thut!" Ein Augenblitz, den er nicht sah, überzeugte sie von der Diskretion der ältlichen Cypressen, dann lagen ihre Arme um seinen Nacken, brannten ihre Küsse auf seinen Lippen. Er sah ihre Augen durch wildlodernde Flammen lachen und locken, sah das heiße Blut durch ihre mattweißen Wangen schimmern und war einen Moment wie überwältigt von der Leidenschaft der sonst so Kalten, dann aber erfaßte ihn der Taumel. Er riß, er preßte sie an sich und küßte sie, wie er nie ein Weib zu küssen gedacht, ein Weib, das er liebte und ehrte vor allen. Sein rücksichtsloses Ungestüm verursachte ihr Schmerzen, sie fürchtete zu ersticken in seiner eisernen Umarmung. „Günther!" schrie sie aus, doch er hörte sie nicht. Da verlieh ihr die Todesangst Kraft, sich zu befreien. Sie riß sich loS, stieß ihn mit gewaltiger Anstrengung von sich, strauckelte und stürzte in den Schnee zu seinen Füßen. Das gab ihm die Besinnung wieder. Er stand entsetzt, vernichtet, unfähig, einen Finger zu ihrem Beistand zu regen. Allein sie hatte sich auch ohne seine Hilfe rasch wieder erhoben, trat vor ihn hin, am ganzen Körper bebend, nach Athen» und — wenn ihre funkelnden Augen wahrsagten — nach Worten ringend, ihn in den Boden zn schmettern. „Anna!" Er warf sich vor ihr in die Knie und barg daS Haupt in den Falten ihres Gewände-. „Wie — wie durftest Du e» wagen?" grollte die empörte Richterin. „Hab' Mitleid, Anna! Ich weiß nicht, welcher Teufel mich packte!" Die Schale ihre- Zorne« schien voll zum Uebersprudeln, aber der „Teufel" hemmte die siedende Fluth. ES flimmerte auS ihren Augenwinkeln, eS zuckte um ihre Lippen, durch ihre Züge, und plötzlich lachte sie. Es war ein belle-, lautes, ent schieden lustiges Lachen, eine sarkastische Färbung erhielt eS erst, als er, der gerechten Tadel erwartet hatte, befremdet, fast vorwurfsvoll aufblickte. „Welcher Teufel!" spottete sie, „o Ihr armen, schwachen, unselbstständigen Männer — noch von Adam Herl Welcher Teufel! Ha, ha, ha!" Dann als er zerknirscht schwieg, in verändertem Tone: „Ich will Dein ungehörige- Benehmen auf Rechnung deS Abschiedsschmerzes setzen, Günther, und Gnade für Recht ergehen lassen, aber" — mit warnend ge hobenem Finger — „eS darf niemals wieder passiren!" „Niemals", stammelte er, und die mahnende Hand an seine Lippen pressend: „Du Engel!" Der „Engel" erschien ihr fast ebenso komisch wie der „Teufel", doch sie ließ eS sich nicht merken. Der Abschied war ganz ernst und feierlich, ihrerseits flössen Thränen. Aber — als er sich, ermuthigt durch diese glänzenden Ver führer, vom Pferde auS noch einmal zu ihr nirverbeugte und mit unsicherer Stimme fragte: „Wirst Du den Maskenball besuchen, Anna?" — da be zwang sie ihre Heiterkeit nicht. „Hch meinte, Du wolltest Dir die Eifersucht abgewöhnen?" lachte sie. „Das will ich auch, aber —" „Ich soll Dich im Anfang nicht allzu hart auf die Probe stellen? Nun, da» ist nn Grunde ein billige- Ver langen, deshalb könnte eS geschehen, daß ich den Maskenball — nicht besuche." Glückselig — in seinem Schmerz — ritt er von dannen. m. Capitel. Der Eisenbahnzuz trennte sich mit heftigem Stoßseufzer von der hochüberwölbten, elektrisch erleuchteten Halle und dampfte in die schneebedeckte Landschaft hinein, in wachsendem Eifer dem Sturmwind entgegen, der sein junges Feuer mit EifeSathem zu kühlen strebte. DaS trotzige Stampfen der Lokomotive, daS wilde Wuth- geheul ihres Angreifers, waren deutlich vernehmbar in dem milddurchwärmten, weichgefütterten Coups, aber sie dienten hier nur, die Situation noch behaglicher zu machen. Drei der Insassen gestanden sich'- leise ein, eine nicht mehr junge Amerikanerin proclamirte r- laut: „Gott sei Dank, daß ich nicht draußen bin!" Sie war eS, die soeben den blauen Seidenschleier um die Deckenlampe gezogen hatte, mit der Absicht, »brc- Gatten Augen vor dem „New Jork Hrrald" zu schützen; sie war e-, die sich so recht gemüthlich zum Schlafen auSstreckte, nachdem sie ihren Herrn und Gebieter ersucht hatte, die verbotene Lektüre «inzustecken und im Halbdunkel rin bischen Acht auf die BabieS zu geben, die wie ZwillingS- röSchen in seinen Reisepelz gewickelt schlummerten. Er wartete blinzelnd seine» Amte-, bi» der Ehrgeiz ihn zu einem Schnarchwettkampf mit der Mutter seiner Kinder trieb. Dieser war noch lange nicht entschieden, als die Locomotive draußen auf schneebedeckte Schienen stieß. Ruck- und stoß weise, wie über holperige Pflastersteine ging es nun vorwärts, heftig schwankte der Wagen — unsanft berührten sich die Köpfchen der BabieS. Jedes öffnete zwei große Augen, seinen Schmerz zu malen, und einen kleinen Mund, ihn laut zu bejammern; da sah eS ein trostlächelndeS Antlitz über fick schweben, fühlte eS eine streichelnde Hand — viel seiner und weicher als Mamas Hand — auf der krausen Stirn, und i»n Erstaunen über das Niedagewesene vergaß cs seinen Kummer und schlief wieder ein. DaS Antlitz aber, daS den Trost gelächelt, neigte sich auf einen kleinen, zottigen Muff und folgte dem guten Beispiel. Nun wackre in dem Coups nur noch Einer — unser Freund von Paris her — Franz Flemming. Die Jahre hatten seine Gestalt kräftiger entwickelt, hatten ihm einen dunklen Bart um Kinn und Wangen gegeben und ihn im Uebrigen gelassen, wie sie ihn gesunden. Selbst daS Tiefäugige, Hohlwangige von damals war seinem Antlitz ver blieben; denn wenn ihm auch die Zeit her der Ruhm so hell gestrahlt, Fortuna so freundlich gelächelt hatte, wie nur irgend einem seiner Kunstgenoffen, sein Ehrgeiz war nicht zu befriedigen gewesen. Er gehörte eben zu Denen, die sich ihr Ziel sehr hoch gesteckt haben. Gott weiß, ob sie eS je er reichen werden, aber sie ringen und hoffen — und so lange sie hoffen, können sie wenigstens nie ganz unglücklich sein. Er war auch nicht glücklich, Franz Flemming, aber mehr al- mancher Andere Stimmungen unterworfen — jetzt auf der Höhe der Schaffen-freudigkeit, jetzt in der bitteren Tiefe der Enttäuschung. Er war auch mehr al- mancher Andere allein, fand an großen, lärmenden Gelagen keinen Gefallen, fühlte sich im engeren Kreise der College» nur selten behaglich, war nach nervöser Künstlerart leicht verletzt zurück gestoßen. Und dann — der größte Schöpfer der Welt hat es in einem ganz besonderen Sinne gesagt: „Es ist nickt gut, daß der Mensch allein sei." In diesem Sinne empfand es Franz Flemming. Früh verwaist, von einem Erziehung«- institut in da- andere geschickt, kaum erwachsen sich selbst überlassen, hatte er zwar nie eine Häuslichkeit kennen gelernt, aber vielleicht gerade deshalb malte er sich «ine solche so reizvoll. Nun gab eS in dem weiten Kreis« srinrr Be- wundrrer wohl mehr als Eine, die ihm willig geholfen hätte, einen eigenen Herd zu gründen, allein eS gab Keine darin, die im Stande gewesen wäre, ihn eine gewiße holde Jugend erinnerung vergessen zu machen, und darauf kam eS vor allen Dingen an. Die kleine stumme Scene zwischen den BabieS und ihrem Schutzengel, die er soeben mit angesehen, hatte ihn erst lächeln und dann aufseufzen gemacht. Wie er sich jetzt abwandte und mechanisch den Athemhauch von der Fenster scheibe neben sich strich, erschrak er fast; denn groß und deutlich stand es da von unbekannter Hand in das GlaS geritzelt: „Stellas das war es, was ibm fehlte sowohl, als der matt im Schneelicht schimmernden Landschaft draußen — Stella — ein Stern, ein schöner, hellleucktender Liebe-stern. Sein Blick blieb an den ungefügen Lettern haften. „Kinder- und Narrenhände —" dachte er und fühlte rin sehnsüchtige«, rin glühendes Verlangen, einmal wieder ein Narr zu sein. Seit zehn Jahren floh sie ihn, die Narrheit; da- heißt, eines denkwürdigen Tages in Venedig war es ihm doch gelungen, sie im Fluge zu erhaschen und ihr die Schellen kappe abzuzwingen, aber als er dann im Spiegel das baumelnde Ding über seiner Stirn gesehen, hatte er sich geschämt und eS weil von sich geschleudert. Stella — Stern, hellstrahlend durch die Nacht!— Heute ist eS ihm spät geworden über seiner Arbeit — später als sonst, weil die Arbeit weniger gelang. Müde und muthlos schiebt er die Pinsel bei Seite, verdrossen schließt er die Thür seiner Werkstatt. Draußen atbmet er auf, hebt er da« Haupt, klärt sich allmählich sein trüber Blick, denn — Gott sei Dank — sein Trost ist nicht fern! Vorwärts eilt er durch treibenden Schnee, dem schneidenden Nordost entgegen, der Athen» gefriert ihm auf der Lippe, sein Bart ist starre» Ei» — er merkt e« nicht, siebt nur die Fenster seine« Heim« näher und näher blinken. Jetzt ist er zur Stelle. Leise klinkt er da« Gartenthor auf, überraschen will er sie. Doch giebt eS ein Ohr so scharf wie da- ihre? Dort — da« war ihr Gesicht hinter der Scheib«! Nun springt die Thür auf, und mit ausgebreitetrn Armen, von Licht umfloffen, sieht sie, selbst da« herrlichste der Lichter de- Himmel- und der Erde — Stella, sein Ster»! Franz seufzte. Den Traum hatte er schon oft geträumt, nur Stella hatte er sein Glück noch nie genannt. Sein Glück? ES gehörte ja einem Andern. Der die Schrift da eingegraben, dielt e- letzt an seiner Brust, dem küßte e» das Eis von den Lippen, die Sorgen von der Stirn! Alles Glück gehörte Anderen und i«der Andere hatte ein Glück, der Gleichgiltizste und Unwürdigste immer das böchste — so war eS einmal in der Welt! Dunkle Baumschatten huschte»
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