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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 28.06.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-06-28
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970628023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897062802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897062802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-06
- Tag1897-06-28
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Boetticher habe nunmehr sein Abschiedsgesuch eingereicht, richtig ist, so muß, da seine Entlassung seit mehr als fünf Wochen festbeschlossene Sache ist und er selbst noch dieser Tage im Reichstage erklärte, er habe ein solches Gesuch nicht eingereicht, angenommen werden, daß der Kaiser die Vor legung des Gesuchs befohlen hat, nachdem er über die Person des Nachfolgers schlüssig geworden ist. Mit Bestimmtheit ver lautet denn auch, daß Graf PosadowSky als Staatssecretair des Innern ausersehen sei. Ueber seinen Nachfolger als Reichs- schatzsecretair werden die verschiedenartigsten Bermuthungen ausgesprochen, und wenn eS wahr ist, waö bisher geglaubt wurde, daß nämlich die kaiserlichen Entscheidungen — es stehen deren bekanntlich noch mehrere auS — nicht vor dem 2. oder 3. Juli bekannt gegeben werden sollen, so wird in den wenigen Tagen bis dahin die Luft noch mit allerhand einanver widersprechenden Gerüchten erfüllt werden. Graf Waldersee ist in Kiel, desgleichen Herr v. Kiderlen-Wächter. Der letztgenannte Herr wird, wie alljährlich, den Kaiser auf der Nordlands fahrt begleiten, aber bis zum Antritt derselben war es bei seinem Eintreffen in der Hafenstadt noch eine gute Weile hin. Herr v. Kiderlen wurde wochen lang unter den Männern genannt, die als Kommende" in Betracht zu ziehen wären. Nach dieser Richtung ist es von ihm jetzt still geworden. Aber seine — und des Grafen Eulenburg — frühzeitige Berufung an das „Hof lager" dürfte trotzdem von nicht geringer Bedeutung sein. Wie man sich erinnert, bat noch fast jede Nordlands reise eineu wichtigeren Entschluß gezeitigt. Wenn der Kaiser diesmal, wo Entscheidungen vor der Fahrt fallen sollen, seine regelmäßigen Reisebegleiter lange vor dem Beginn der Reise zu sich befiehlt, so scheinen damit Diejenigen Recht zu be kommen, die den politischen Einfluß dieser Vertrauten recht hoch taxiren. Insofern ist eS bedauerlich, daß das Gerücht von der Berufung des Gesandten in Kopenhagen in eines der Aemtcr, die man früher für verantwortliche ansah, sich noch nicht bewahrheiten dürfte. Schließlich ist das Einzige, was man in Bezug auf die Regierungsverhältnisse verständiger Weise noch wünschen und boffen kann, ein Zustand, in welchem die Persönlich keiten, die thatfächlich das Ohr des Monarchen haben, an Stellen gebracht werden, wo sie den Parlamenten Rede und Antwort stehen müssen. Eine etwaige ungewöhn liche Vorcarriöre wäre nicht als Hinderniß der Berufung anzusehen, nachdem nicht mehr bezweifelt werden kann, daß der ehemalige Husarenofficier v. Podbielski als Staatssecretair des Reichs Postamtes bestallt werden soll. Von dieser Ernennung war unmittelbar nach dem Tode des Herrn von Stephan, dann aber bis vor Kurzem nicht mebr die Rede. Daraus und aus der außergewöhnlich langwierigen Verzögerung der Ent scheidung ist wohl mit Sicherheit zu schließen, daß Minister der Berufung eines Nichtfachmannes, der auch sonst nicht ausgezeichnet ist. Widerstand entgegengesetzt haben, aber schließlich damit nicht durckgedrungen sind. Einen zwingenden Schluß auf ministerielle Mißerfolge gestattet auch das jüngste Schicksal der preußischen Vereinsgesetznovelle. Wir haben die Version, daß der Beschluß des Staats ministeriums, die Vorlage für den Fall, daß sie vom Herren bause geändert werden sollte, zurückzuziehen, auf einem Bierabend beim Handelsminister ertränkt worden sei, scherzhaft zurückgewiesen. Auch im Ernste glauben wir nicht daran, daß die Herren v. Manteuffel und v. Stumm auch bei jener Gelegenheit den Fürsten Hohenlohe anderen Sinnes gemacht haben. Die Conservativen müssen vielmehr eine Entscheidung des Kaisers in ihrem Sinne erwirkt haben, und die Unterwerfung unter dieselbe mag ja wohl bei der geselligen Zusammenkunft bei Herrn Brefeld dem Herrn v. Manteuffel notificirt worden sein. Die Verhandlungen deS Staatsministeriums über das Verhalten gegenüber dem erwarteten HerrenhauSbeschlusse haben sehr lange gewährt, eS sind also dort Meinungsverschieden heiten zu Tage getreten. Da das Fallenlassen der Angelegenheit des Vereinsgesetzes beschlossen wurde, so muß angenommen werden, daß eine Minderheit der Minister für den — dem Brauche nach einstimmigen — Beschluß ge wonnen werden mußte. Die Annulirung desselben be deutet also eine Niederlage der Mehrheit, und jedenfalls eine solche deS Ministerpräsidenten, der ohne Zweifel daS Ab- stimmungsergebniß herbeigeführt hatte. Wenn ein reactionairer Schritt, dessen Aussichtslosigkeit nicht bezweifelt wird, hinter dem man also weiter gehende Pläne vermuthen kann, auf solche Weise eingeleitet wird, so kann man es vielleicht bedauern, aber nicht überraschend finden, wenn ein rheinisches national liberales Blatt sagt, die Verhältnisse spitzten sich so zu, daß auch der gemäßigtste Mann sich dem Feldschrei „Sammlung aller bürgerlichen Elemente gegen das Junkerthum" kaum noch entziehen könne. Die Fortführung der Action mit dem Vereinsgesetz ist zweifellos eines der „beunruhigenden Symptome einer fortschreitenden Unterwerfung der Staats leitung durch das Junkerthum", von denen das westdeutsche Preßorgan spricht. Denn, wie immer man über die Regierungsvorlage und selbst über die freiconservativen Anträge denken mag: das in der sicheren Voraussicht eines Mißerfolges, entgegen einem Staatsministerial- beschlnsse herbeigeführte Festhalten bedeutet einen Schritt auf dem Wege, auf den die RechtSconservativen und Herr von Stumm Reich und Staat dem Conflict entgeaenführen wollen. Die Freiconservativen die in ihrer Mehrheit andere c>lS verfassungsmäßige Zu sammenstöße zwischen Regierung und Volksvertretung nicht zu wollen scheinen, sind auch von dem Verlaufe der Sache nicht erbaut. Sie wissen eben, und die „Post" sagt es geradeheraus, daß das einzige noch übrige verfassungsmäßige Mittel, dem Entwurf der Regierung oder dem des Herrn v. Zedlitz zur Gesetzeskraft zu verhelfen, die Auflösung des Abgeordnetenhauses, vom Ziele ab führen würde. Als dieser Tage plötzlich bekannt wurde, daß der Ab geordnete vr. Förster au« der antisemitischen Fraktion des Reichstags ausgeschieden sei, wurde dieser Schritt mit Differenzen über die Handwerksvorlage erklärt. Die Fraction hoffte bekanntlich auS der Verwerfung großes politisches Capital zu schlagen, und Herr Förster hat dem Gesetze zugestimmt. Wie sich jetzt aber herausstellt, hat die Trennung mit dem Handwerksgesetze nichts zu tbun. Herr Or. Förster ist nicht zum Austritt auö der Fraction veranlaßt worden, hat ihn vielmehr zu ihrer unangenehmen Ueberraschung — am 11. Juni— erklärt. In seinem Schreiben an den Abgeordneten Zimmermann heißt es, der Entschluß sei gefaßt worden, weil Förster sich „mit der Führung der Partei je länger je weniger eins weiß, sowohl was unsere politische Fortbildung, den weiteren gedanklichen Ausbau auf Grund des Programms betrifft, als bezüglich unserer Taktik, Agitation und Geschäftsführung". DaS sind viele,wenn auchnicht durchweg klare Scheidungsgründe. Dennoch hat Herr Zimmer mann den Versuch gemacht, den FractionSgenossen zu halten oder ihn wenigstens zur Verschiebung seine» Entschlusses zu bewegen. Er machte ihn in seinem Erwiderungsschreiben daraus aufmerksam, daß der Schritt „Deutungen und Miß deutungen ausgesetzt sei, die der antisemitischen Bewegung nicht zum Vortheile gereichen würden", und forderte ihn auf, die er hobenen „Anschuldigungen gegenüber der Fraction und der Parteileitung im Einzelnen auch durch Tbatsachen zu erweisen". Hierauf antwortete l)i. Forster: Friedenau, 13. Juni 1897. Geehrter Herr Abgeordneter Zimmermann! Den Schritt habe ich mir seit Längerem weislich über legt, ich werde ihn nicht zurückthun. Auf eine Mißdeutung desselben muß ich es schon ankommen lassen, indcß das kann ich wohl um so eher, als ich, wie ich Ihnen schon schrieb, in ein gegensätzliches Verhältniß zu der Partei nicht treten will. Sie wünschen Thatsachen. Ich könnte Allerlei anführen, begnüge mich aber mit dem Folgenden: Fractionssitzungen sind seit Monaten gar nicht mehr abgehalten worden, früher auch nicht in genügender Weise. Die beiden Wahlen in Königsberg und Wiesbaden sind nicht besprochen, kein Ent schluß ist gefaßt worden. Der nächste Parteitag Hütte m. E. längst vor bereitet werden müssen, soll er nicht eine ziemlich belanglose Zu sammenkunft, wie der in Halle, werde». Dazu hätten dann auch die vr. Stolp'schen Sätze mit besprochen werden müssen, die wohl umständlich, aber doch geeignet sind, uns ein Stück vorwärts zn bringen. Und gerade in der socialen Politik fehlt es uns noch an der rechten Stellungnahme und an der rechten Auslegung unseres vorläufig brauchbaren, indeß doch nicht ausreichenden Programms. Mittelstand und Mittelstand, darauf sitzen wir fest, ohne daß recht ersichtlich wird, was wir wollen und was wir nicht wollen Von dem überaus mangelhaften Besuche des Reichstages auf Seiten unserer Fraction, von unseren ganz unzureichenden Preßverhältnissen will ich nicht weiter reden. Die Folge jenes Be suches und des Mangels an aller Beredung ist, daß die Stellung zu den wichtigsten Gegenständen dem Belieben des Einzelnen überlasten bleibt. Und demgemäß wird unsere Bewegung auch im Lande keine rechte» Forischr^ mache». Stillstand und Mangel an Leben überall! Oder zu viel Leben, d.h. oberflächlicher Radau mit verbrauch ten Schlagworten! Welchen Werth hat die Zugehörigkeit zu einer solchen Partei! Und welche Lücke andererseits reißt mein Austritt in das Partei gefüge! Ich will also auch seiner in Allem mithelfen, was ich ver treten kann, lehne aber jede Verantwortung ab und gehe meinen eigenen Weg. Heil! P. Förster. Natürlich erklärt die antisemische Fraction Alles für unwahr und kündigt an, daß sie Herrn Förster, der auch auS der antisemitischen Partei ausgetreten ist, in seinem zum Besitzstände der Partei gehörigen Wahlkreise Neustettin bei den nächsten Wahlen bekämpfen werde. Die Erklärung der Fraction endet nicht mit „Heil!" Die am 25. Juni stattgehabten Stichwahlen zur zweiten Kammer der holländischen Generalstaaten haben für die Liberalen noch ein unerwartet günstiges Er- gebniß gehabt, Dank dem Umfall der Orthodox-Protestanten, die nur kleinentheils den zwischen den Führern der kirchlichen Parteien abgeschlossenen Pact gegenseitiger Unterstützung ein gehalten haben. Dadurch haben die Katholiken aus dem Bundesverhältnisse den Kürzeren gezogen, die Stichwahlen brachten ihnen nicht den mindesten Zuwachs, und so bleibt ihre Zahl 22. Die Orthodox-Protestanten nehmen mit Ein schluß eines Hospitanten 23 Sitze, 8 mehr wie in der vorigen Kammer, ein, die Liberalen zählen 47 Mitglieder und sind damit um 10 vermindert, die Radicalen und die Socialisten haben es auf je 4 Sitze gebracht. Mithin besitzen weder die Liberalen noch die verbündeten kirchlichen Parteien die absolute Mehrheit mit 51 Stimmen; gegen die Schutzzöllner werden die freihändleriscken Radicalen in den meisten Fällen den Ausschlag geben. Unter diesen Umständen geben die Ansichten der holländischen Presse über die künftige CabinetS- bildung noch weit auseinander; vorläufig ist, wenn auch nicht der Rücktritt, so doch die Umbildung des jetzigen Ministeriums Roell-van Houten wahrscheinlich, indem Herr van Houten, der Vater der Wahlrechtserweiterunz, sich zurückziehen dürste. Einem antiklerikalen Ministerium würde es gewiß Schwierig keiten bereiten, Liberale, Radicale, Orthodox-Protestanten und Socialdemokraten unter einen Hut zu bringen, aber in den Hauptfragen: Persönliche Dienstpflicht, Schulzwang, Unfall und Altersversicherung dürfte ihnen dies Wohl gelingen und damit wären ja die Wünsche der Liberalen in der Hauptsache erfüllt. Auch die Einführung deS Schutzzollsystems dürfte nunmehr nicht zu befürchten sein. Zur Zeit bereist eine vom König von Schweden er nannte besondere Befe st igungscom Mission das Land, um festzustellen, welche Orte in Schweden befestigt werden sollen und wie hoch die Kosten dafür sich belaufen würden. Die Regierung will dem nächsten Reichstage einen allgemeinen Befestigungsplan unterbreiten und gleichzeitig die zur Durch führung deS Plans nöthigen Credite nachsuchen. Es handelt sich hierbei, wie der „Franks. Ztg." berichtet wird, um scbr bedeutende Summen. Der Generalstab behauptet nämlich, daß, um das Land „nur einigermaßen" zu sichern, ein Be trag von rund 30 Millionen Kronen nothwendig sein werde, nämlich für Befestigungen an der Einfahrt nach Stockholm 5,9 Millionen, für solche bei KarlSkrone, ohne Armirung, 2,4 Mill., für die Insel Gothland 5,2 Mill., für die Einfahrt nach Gothenburg 3,9 Mill., für eine Festung in der Provinz Norr- land nicht wesentlich mehr als 7 Mill. Kronen und für die Vollendung der centralen Hauptfestung Karlsborg, die bereits viele Millionen verschlungen hat, noch 6 Mill. Der General stab möchte aber daS Land vollständig sichern und spricht — vor läufig nur leise — von einer zu bauenden strategischen Bahn in der Provinz Norrland, die 60 Mill. Kronen kosten würde, ferner von der Landbefestigung Stockholms zu einem Preise von 40 Mill., von einer „Operationsfestung" zu 23 Mill, im großen See Mälaren, von einer Festung in der Provinz Schoonen, von einem befestigten Centraldepot im mittleren Norrland u. s. w. In unterrichteten Kreisen bält man eS keineswegs für ganz unwahrscheinlich, daß der Reichstag, der sich bereits in der gewöhnlichen Session so entgegenkom mend gezeigt hat, daß nahezu 40 Proc. der Gesammtein- nahmen des Landes dem Kriegs- und dem Marineminister zur Verfügung gestellt worden sind, sich bereit zeigen könnte, wenn feierlich zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen berufen, die Regierung zu autorisiren, eine große Befestigungs anleihe abzuschließen. Im Jahre 1892 gelang es ja der Regierung, den außerordentlichen Reichstag zur Annahme deS neuen Wehrgesetzes zu bewegen. Ferrrlletsir. Nanny Trauner. Lj Roman von L. Schroeder. Nachdruck verboten. Unter Leitung des Laternenmannes setzte sich nun der kleine Zug nach dem Bahnhofsgebäude in Bewegung. Den Nachtrab bildete der geistig und körperlich immer noch außerordentlich schlaffe, amerikanische Familienvater, aus daS Jndivivium mit der Leiter gestützt, den Vortrab Madame, ihre Kleinodien gegen die Brust gepreßt, ein zeterndes Baby an der Rechten, das Centrum die junge, schlanke Dame, ein berubigteS Baby auf dem Arm. Franz, der sich vergebens bemübt batte, ihr die lebende Last abzubetteln, trug ihre todte in Gestalt einer Reisedecke und eines Köfferchens. „DaS hätten wir glücklich überstanden!" bemerkte er. „Ach! Gott sei Dank, ja!" stieß sie in bebendem Tone hervor. „WaS ist in Deiner Stimme, daS mich so sehr erschüttert?" dachte er und ließ den holden Klang in seinem Ohr an-» tönen, bevor er sortfuhr. „Sie haben sich übrigen« brav gehalten, mein Fräulein, nicht zu dem allerleisesten Schrei den Mund geöffnet!" „Als ob mir die Kehle nicht zugeschnürt gewesen wäre vor Schrecken? Mein Herr, hatten Sie denn gar keine Angst?" „Ob gewiß! Man mag den alten Knochenmann in lebensüberdrüssigen Momenten noch so sehnsüchtig herbei wünschen, zeigt er einmal sein grinsende« Gesicht, so findet man e« abscheulich." „In einem Eisenbahnunfall sterben?" schauderte sie. „Es wäre ungefähr daS letzte, wa« ich mir wünschen würde. Nicht so sehr der TodeSart — die mag ja so kurz und schmerzlos sein wie nur irgend eine — al« der Ueberlebenden wegen. Die armen Lieben, denken Sie doch nur, sie würden kommen, zwischen den grauenhaften Trümmern etwa« zu suchen, da« unserem Bilde gliche und würden — vielleicht etwa» finden, da« ihnen die Erinnerung an un« verdürbe ihr Leben lang." „Die Sache von diesem Gesichtspunkt au» zu betrachten", entgegnete er mit einem Achselzucken, „habe ick keine Ver anlassung. Die Lieben, die sich meinetwegen bemühen würden, existiren nämlich nicht." „Auf der Welt nicht." .Nein!" „Ach! lieber Gott — wie traurig!" Er verspürte nicht übel Lust, sich von der warmen Herzensstimme noch ein Weilchen bedauern zu lassen, aber er hielt es doch für richtiger, auf der Unfallstätte einmal nach- zusehen, ob man seiner hilfreichen Hand nicht bedürftig sei. Nachdem er seinen Schützling, ihrem Wunsche gemäß, in der düstersten Ecke des kleinen ungemüthlichen Wartesaales installirt hatte, entfernte er sich also. Jedoch zu Helsen fand er nicht viel, denn dieser Eisen bahnunfall zählte zu den glücklichen Ausnahmen, die nur todtem Holz und Eisen verderblich werden. Die meisten Reisenden entstiegen ihren Käfigen gesund und woblbehalten, die wenigsten wußten von Hautabschürfungen und argen Rippenstößen zu erzählen — selbst das gebrochene Bein er wies sich als eine durch natürliche Aufregung erzeugte Hyperbel für einen verstauchten Fuß. Als Franz in den Wartesaal zurückkehrte, fand er ihn mit redenden, gestikulirendcn Menschen überfüllt. Man ver glich die Eindrücke de« entsetzlichen Momente« und dankte der Vorsehung, daß er nicht schlimmere Folgen gehabt, in deutscher und englischer Sprache. In letzterer besonder« im Umkreis der Amerikanerin, die eine kleine Schaar rade brechender Herren an sich gefesselt hielt, während ihr Gatte in sich zusammengesunken an der Wand lehnte und die Welt grau in Grau sah. Der Juwelenkasten war seiner Obbut anvertraut worden. Die Babie« hatten sich freiwillig unter den Schutz de« schlanken Fräulein« begeben, saßen nun von dessen Arm umschlungen und erzählten ihm Wunderdinge in kindlichem Kauderwälsch. „ES sind solch'zutrauliche Geschöpschen! Schade, jammer schade, daß ich kein Englisch gelernt habe!" seufzte da« Fräulein unserem Freunde entgegen. „Ich bezweifle, daß Sie von dem Geplauder ein Sterbens wörtchen verstehen würden — selbst wenn sie Englisch gelernt hätten", lächelte Franz, nachdem er ein Weilchen gelauscht batte. „In diesen Dialect sind sicherlich nur Mütter und Ammen eingeweiht." „Gleichviel, schade ist eS doch", beharrte sie mit einer halben Wendung des Kopfe« in der Richtung des trostlos dareinschauenden Amerikaners. „Sie meinen, dem Mann wäre mit einem freundlichen Wort geholfen, mein Fräulein? Getrost, daS soll ihm werden!" Damit ging er, im Geiste unzufrieden mit der verrückten Franenmode, die für den gegenwärtigen Winter solch abnorm große Filzdeckel vorschrieb, daß er bis jetzt von dem Gesicht seiner jungen Reisegefährtin noch nichts zu sehen bekommen hatte, als ein feines Nasenspitzchen und einen allerliebsten kleinen Mund. DaS freundliche Wort nahm fünf Minuten in Anspruch und that im Verein mit einem tüchtigen Zuge auS Franzen s dargebotener Feldflasche Wunder. Der Patient erhob sich und ging, seine Nasenlaute in die anderen Laute zu mischen, die seine Gemahlin umschwirrten. Den rückkehrenden Maler lohnte ein Lächeln von lieb reizenden Lippen. „Sie haben ein gutes Werk gethan!" ward er belobt. „Wirklich? Dann ist eS Ihr Verdienst, mein Fräulein", war seine Entgegnung. „Ich pflege an guten Werken blind vorüberzugehen, wenn man mich nicht mit der Nase darauf stößt." „DaS glaube ich nicht", erklärte sie mit solch ernstem Nach druck, daß eS ihn ordentlich angenehm berührte. „WaS möchten nun Ihre weiteren Befehle sein?" er kundigte er sich. „Befehle?" kopfschüttelte sie. „Ich habe keine, aber —" sie nahm wie ein zaghaftes Kind die Unterlippe zwischen die weißen Zähne. „Bitte ganz über mich zu verfügen, mein Fräulein!" „Ich — ich möchte dem armen Onkel so gern etwa« Beruhigendes telegraphiren, aber — Sie sehen e« selbst, das süße, kleine Ding ist eingeschlafen, und wenn ich mich be wege, so —" „Lassen Sie mich nur machen!" ries Franz, sein Notizbuch ziehend. „Ich telegrapbire also —?" „Eisenbahnunfall. Unverletzt. Erwarte mich mit dem — ja, mit welchem Zuge soll er mich denn erwarten?" „Man meinte vorhin, für den Courierzug nach Z. sei das Geleise frei. Dieser wird uns also aller Wahrscheinlichkeit nach aufnehmen und — aber ich kann mich ja einmal er kundigen!" Dazu blieb ihm nicht Zeit, denn kaum daß ihm da« letzte Wort entfahren, kam eS dampfschnaubend und flammenäugig vor den Perron gebraust und wie er die Tbür de« Warte- saaleS erreichte, stieß er gegen ein pflichtbeseeltes Jndivivium, da« mit Stentorstimme zu verkündigen kam: „Courierzug nach !, U, Z! Einsttigen! Aufenthalt, Herr? Eine Minute!" In dieser einen Minute war an ein Telegraphiren nicht mehr zu denken, man hatte Mühe genug, sich in den rasch überfüllten CoupöS einen Platz zu verschaffen. Eine der Letzten Unterkunft zu finden, war das schlanke Fräulein — als cs geschieden sein mußte, hatten sich nämlich die Babies mit Händchen und Lungen gegen die Trennung gesträubt. Wie sie nun saß, preßte sie ihre Gewänder an sich und rückte ihrer Nachbarin so nahe sie konnte, in Franzen'S Interesse, allein die Handbreit Raum, die sie schuf, konnte ihm nicht genügen. „Ach!" rief sie „wie leid mir das thut!" „Nicht halb so leid wie mir", versicherte er aufrichtig. Und den Hut ziehend: „Glückliche Reise, mein Fräulein und leben Sie Wohl." „Tausend Dank!" schickte sie ihm für seine Ritterdienste noch nach. In einem Rauchcoupö ward ihm freundliche Aufnahme und — wenn er sie nur ergreifen wollte, volle Gelegenheit, durch beredte Schilderung der überstandenen Schrecknisse zu glänzen. Doch er befriedigte die Neugier nur oberflächlich, lehnte sich in seine Ecke zurück und schloß die Augen. Nam einer Weile war er fest eingeschlafen. Hinter schneebedeckter Haide ging die Sonne aus, als er wieder erwachte, die Locomotive war eben im Begriffe, ihren Eifer zu mäßigen; eS dauerte auch nicht lange, da kam sic vor einem kleinen Stationsgebäude zum Stillstand. „Hell bronn" las unser Freund und vor seinem Geiste tauchte ein tiefdunkler See mitten im grünen Wald auf, den er vor Jahren mit fröhlichen Genossen einmal besucht hatte. Plötzlich aber nahm eine prächtige alte Jägergestalt sein Interesse ganz gefangen. Ouer über den Perron geschritten kam der Mann, ge rade auf die Wagenreihe zu. „Nanny!" rief er und „Onkel!" jubelte es ihm entgegen. Im nächsten Moment hatten fick zwei Arme um seinen Hals geschlungen, di« Arme des schlanken Fräulein«. Statt des breiten HuteS trug sie jetzt eine Kapuze, da- Köpfchen lehnte an der Brust des Alten, das sanftgeneigte, feine Profil hob sich von seinem grünen Försterrock und weckte in Franz eine Erinnerung, daß er in die Höhe fuhr, daß er im Begriff stand, die Wagenthür auf zustoßen und hinauSzuspringen. Da eben noch rechtzeitig — wandte sie da« Gesicht, erkannte ibn und grüßte freundlich herüber. Narr, der er gewesen, am bellen Tage Gespenster zu seben! Sie war ja so dunkel, wie seine Erinnerung blond.
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