Suche löschen...
Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 04.07.1897
- Erscheinungsdatum
- 1897-07-04
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189707041
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18970704
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18970704
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-07
- Tag1897-07-04
- Monat1897-07
- Jahr1897
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 04.07.1897
- Autor
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezugs-Preis K der tzauptexpedltion oder den im Stabt« bezirk und den Vororten errichteten AuS- oabeftellen ad geholt: vierteljährlich^ 4.50, Lei zweimaliger täglicher Zustellung in» Haus 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 8.—. Directe tägliche Kreuzbandiendung kn» Ausland: monatlich 7.50. Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,? Uhr, di, Abend-Ausgabe Wochentags um v Uhr. Redaktion «nd Expedition: Johannesgaffe 8. Die Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bt» Abends 7 Uhr. Filialen: ktto Klemm'» Sortt». (Alfred Hahn), UniversitLt»straße 3 (Pauliuum), Lank» Lösche, Natharsnenstr. 14, Part, und König-Platz 7. MpziM Tagcl>lall Anzeiger. MLsvratt -es Lömglichen Land- im- Amtsgerichtes Leipzig, -es Natljes nn- Notizei-Ämtes -er Stadt Leipzig. Arizeigen-Preis die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reclamen unter dem Redactionsstrich (4g* spalten) 50^, vor den Familiennachrichten (6gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis« verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernjatz nach höherem Tarif. Extra-Beilage» (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbeförderung ./k 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein, halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 335. Sonntag dm 4. Juli 1897. 91. Jahrgang. Aus -er Woche. , Also wieder eine beinahe vollzählige Regierung im Reiche und in Preußen. Der noch fehlende Schatzsecretair soll, wie es heißt, erst ernannt werden, wenn der Schwerpunkt des deutschen Regiments wieder auf das Festland verlegt sein wird. Die Veränderungen bestehen in Folgendem: Für den verstorbenen v. Stephan und die entlassenen Herren Holl mann und v. Marschall sind eingetreten v. PodbielSki, Tirpitz und v. Bülow. Graf Posadowsky vertauscht das Schatzsecretariat — wenn eS anderweitig besetzt ist — mit dem Reichsamt des Innern und übernimmt an Stelle seines Vorgängers auf diesem Posten, v. Boetticher, die Vertretung de« Reichs kanzler». In Preußen endlich geht das Vicepräsibium des Staatsministeriums auf Herrn vr. v. Miquel über, der im Uebrigen bleibt was er war. Der Finanzminister aber besaß als dlenstältester Minister die Anwartschaft auf seine neue Würde; was ihn betrifft, ist also die „Umbildung" politisch so gut wie ganz bedeutungslos, und die Uebertragung der Vertretung des Reichskanzlers auf den Grafen v. Posadowsky hat politisch gleichfalls wenig zu besagen. Der bisherige Schatzsecretair ist ein trefflicher Beamter; für einen Staats mann größeren Stils hält er sich wohl selber nicht. Es ist also Alles beim Alten geblieben und sollte auch dabei bleiben. Herr v. Miquel trat in den Hintergrund, weil er wirkliche Wandlungen — nach positiver wie nach negativer Seite — für den Fall der Uebernahme der „Vice- kanzlerschast" in Aussicht nehmen zu müssen erklärt halte. Er hätte in Wiesbaden blerben können, von wo ihn ja der „Reichsanzeiger" gar nicht hat abreisen lassen. Fürst Hohenlohe allerdings bleibt nicht. Der vor gestrigen Auslassung der „Nordd. Allgem. Ztg." ist mit Sicherheit zu entnehmen, daß der Reichskanzler die ganz und gar aussichtslos gewordene Angelegenheit einer seiner Zusage entsprechenden Reform des Militair- strafverfahreus zum Anlafle seines Rücktritts nehmen will, nachdem er sich — vielleicht im Hinblick auf die gescheiterten, an die Person Le- Herrn v. Miquel ge knüpften Pläne — den thatsächlichen Bruch seines Versprechen wegen des Coalitionsverbotes für Vereine Hal entgehen lassen. Bei der Erörterung der Stellvertretungsfraaen ist vielfach auf ein jüngst veröffentlichtes Schreiben de» Fürsten Bismarck an den Grafen Stolberg vom Jahre 1880 hingewiesen worden. Viel interessanter scheint uns eine andere, unbeachtet gebliebene Stelle dieses Brieses. Biömarck schreibt: „DaS Gefühl, Sr. Majestät dem Könige Verlegenheiten zu er sparen, und die Ueberzeugung, daß ein Minister nicht blos für seine Amtsführung, sondern auch für seinen Rücktritt und dessen Folgen eine Verantwortlichkeit trägt, halten mich bisher in meiner Stellung, können mir aber die schwindenden Kräfte nicht ersetzen.". Wie man weiß, hat Fürst Bismarck dem Kaiser Wil helm II. niemals ein Abschiedsgesuch einaereicht, auch auf Aufforderung nicht. Im Gegentheile. Er überreichte im März 1890 eine Denkschrift, in welcher er die politischen Gründe, die gegen seine Entlastung sprachen, auseinander setzte. Seine Feinde haben ihm dieses Verhalten als Un gehorsam angerechnet und die Absicht untergelegt, dem Monarchen Verlegenheiten zu bereiten. Aus dem Briefe an den Grafen Stolberg geht aber hervor, daß der erste Reichskanzler schon zehn Jahre vorher die Auffassung hatte, ein Minister habe für seinen Rücktritt ebensowohl die Ver antwortung zu tragen, wie für seine Amtsführung. Daß er geirrt, als er im Jahre 1890 üble Folgen von seiner Ent lastung befürchtete, das wagt heute nicht einmal mehr ein Eugen Richter zu behaupten, obwohl sich dessen Haß gegen den Gewaltigen nicht gemildert hat. Von ihm stammt die der neuesten Zeit angehörige Einreibung des Altreichskanzlers unter die Landesverräther. An diese Bezeichnung unseres größten Patrioten hat sich wohl mancher erinnert, als man las, der Großherzog von Weimar habe sich von dem Fürsten in FriedrichSruh mit den Worten verabschiedet: „Ich danke Eurer Durchlaucht für Alles, was Sie dem Vaterlande ge- than haben." Dieses Wort eines deutschen Fürsten, der einst trotz seiner Verschwägerung mit Kaiser Wilhelm I. ein Gegner der Preußischen Politik war, mag übrigens noch Höheren als freisinnigen Agitatoren fatal auch in der Form geklungen haben, die ihm die Berliner Censur zu geben beliebte: „Ich danke Eurer Durchlaucht für Ihre Freundschaft." Bei Gelegenheit des Jubiläums der Königin Victoria bat ein sonst nicht chauvinistische» englisches Blatt, „Daily Cbronicle", seine Leser mit der folgenden Prahlerei gekitzelt: „Wenn wir (die Engländer) von den neuen colonialen ehr geizigen Bestrebungen rivalisirender Mächte hören — mag eS Frankreich, Deutschland oder Italien sein — so können wir nur lächeln. Sie können es einfach nicht... Hinsichtlich Deutsch lands mag eS genügen, auf das schmachvolle Fiasco in Afrika binzuweisen." Es wird keinem verständigen Deutschen rinfallen, sich mit Engländern in einen Streit über ein solch ungeheuerlicde- Unheil einzulaffen. Aber für den häuslichen Gebrauch rst dieses doch nicht ganz unverwendbar. Wir haben in Afrika nicht nur kein Fiasco als Colonialmacht erlebt,sondern im Gegentheil verhältnißmäßig rasche Fortschritte, insbesondere auch nach der civilisatorischen Seite hin, gemacht. Aber diePreisgabe vonZanzibar für einen „Hosenknopf" ist aller dings ein Blatt in der deutschen Colonialgcschichte, dessen wir uns zu schämen haben und das wir immer und immer wieder lesen sollten. Es predigt vor Allem die Lehre für die deutschen Flottenfreunde, sich bei ihren Bestrebungen auf ihre durch politisches und volkswirthschaftliches Denken gewonnene Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer ausreichenden Seewehr zu stützen und auf nichts weiter. So wenig die Träger der Politik von 1890 der Sache nützen, wenn sie sich als Rufer zum Kampfe gegen den Umsturz hören lassen, so wenig eignen sie sich zu Führern einer aussichtsvollen Floltenbewegung. Der schlichte Mann sagt sich: was gestern wcggeworfen wurde, kann morgen wieder weggeworsen werden, so dringend es auch heute ver langt wird. Die Popularisirung deS Gedankens einer stärkeren Kriegsflotte bleibt am besten Denjenigen ausschließlich über lasten, die sich von der Nothwendigkeit, die deutsche Ehre und den deutschen Vortheil jenseits der Meere zu wahren, immer durchdrungen gezeigt haben. . Herr vr. Bosse hat eine gute Note erhalten. In einer Versammlung katholischer Vereine zu Neuß hat sich der Weibbischof Schmitz von Köln über die Unterwerfung der Schule unter den Klerus in folgenden befriedigten Worten geäußert: „Besonder« freue ich mich, es hier aussprechen zu können, daß die hier thatsächlich vorgefundene Harmonie zwischen Kirche und Schule ganz nach den Intentionen der hohen Staalsrcgierung ist. Wenn dennoch zuweilen kleine Geister Conflicte heraufbeschwören, so kommt es wohl daher, daß sie nicht eingeweiht sind in die Intentionen der leitenden Kreise, die anders gesinnt sind." Mehr kann man nicht ver langen. Und das ohne Zedlitz'sches Schulgesetz! Bei Schluß LeS Blattes geht uns aus bester Quelle noch die Meldung zu, daß die preußische Regierung dem Drängen der Eonservativen, das Abgeordnetenhaus nach Ablehnung der Vereinsgesetznovelle aufzulösen, nicht nachgeben wird. Sie will die nationalliberale Partei in Preußen nicht völlig auf- geriebeu sehen, was bei der „Abrechnung" über die lex Ueeüv unvermeidlich wäre. Die „Eons. Corresp.", die nach ihrer Versicherung nichts sehnlicher wünscht als die Auslösung, wird über diese Entschließung sehr unglücklich sein. Ein offenes Wort. Unter dieser Ueberschrift veröffentlichen die „Hamb. Nachr." die folgende Zuschrift aus Wien: „In österreichischen und reichsdeutschen Blättern sind peinliche Vorfälle der letzten Zeit vielfach besprochen worden, zu denen her sogenanm» „Kampf gegen dir Sprachesnverordnungen" Veranlassung gegeben hat. Wir meinen gewisse Reden, die auf dem Abgeordnetentage in Eger in Böhmen und auf dem Commerse des Alldeutschen Verbands tages in Leipzig gehalten sind. Vor uns liegt ein ganzer Stoß von Zeitungen, österreichischer sowohl als reichsdeutscher, die sich mit dem Gegenstand befassen. Nachdem einmal so viel darüber gedruckt worden ist, wäre eine Vogel-Strauß-Politik der Sache gegenüber kaum am Platze. Wir wollen also auch von den Reden sprechen, die in Eger und in Leipzig gehalten wurden und von denen manche doch über die er- laubten Grenzen der öffentlichen Diskussion hinausgehen. Es ist peinlich, sagen zu müssen, daß in Eger, wie in Leipzig öster reichische Redner die Rücksichten, die ein Oesterreicher — seine politische Richtung mag welche immer sein und er mag sich wo immer befinden — der Dynastie und dem Vaterlande schuldet, außer Acht ge lassen haben. Wenn auf dem Alldeutschen Verbandstage in Leipzig auch Redner aus dem deutschen Reiche die schuldige Rücksicht aus den Nachbarstaat vergessen haben, so kann man das als einen bedauerlichen Tactfehler anjehen und schließlich daran Vorbei gehen. Wenn aber österreichische Redner im Auslände direkt gegen Oesterreich Stimmung zu machen suchen, so ist das mehr als ein Tactfehler. Das gehört in die Kategorie Les Unerlaubten. Wir haben verschiedentlich gehört, Laß beim Commerse des All deutschen Verbandstages auf die österreichische Dynastie in un geziemender Weise reslectirt worden sei» soll. In den Zeit ungs- berichten findet sich Nichts davon erwähnt. Wir wollen daher annehmen, daß diese Behauptung nicht zutrifft. Sollte aber wirklich eine derartige Ungebühr in Leipzig begangen worden sein, dann wird man uns zugeben, daß kein Wort stark genug wäre, das Geschehene zu verurtheilen. Es ist ohnehin schon schlimm genug, Laß Deutsche aus Oesterreich sich in Leipzig jo weit vergessen haben, eine Inter vention des deutschen Reiches in österreichischen Staatssragen anzurufen und innere Streitigkeiten vor ein auswärtiges Forum zu bringen. Sie hätten besser getha», sich der Worte zu erinnern, die Fürst Bismarck am 15. April 1895 an eine Deputation österreichischer Gratulanten richtete: „Ihr Wohlwollen für die Etammesgenossen im deutschen Westreiche können Sie nicht wirksamer bethäligen, als indem Sie die Be ziehungen zur eigenen Dynastie pflegen". Weiter sagte der Fürst bezüglich des Verhältnisses der Deutschen in Oesterreich zu ihren Reichsgenossen: „Außer dem Christenthum existirt doch noch das Band der Zugehörigkeit zu demselben Staatsgcbilde, welches ebenfalls zur Nachsicht in der Beurtheilung, auch in der Beurtheilung der feindlichen Acte be fremden nationalen Mitbürgers bewegen soll. Ich will damit für Ihre nicht deutschen Nachbarn eine gewisse Versöhnlichkeit und Nachsicht empfehlen." Das ist eine Politik, wie sie jeder rechtschaffene Deutsche in Oesterreich treiben kann. Aber ins Aus land hinauszugehen, dort de» eigenen Staat und die eigene Regie- rung zu denunciren, ist so ziemlich das Gegentheil dessen, was Fürst Bismarck den Deutschösterreichern empfohlen hat. Daß Deutsche aus Oesterreich in Leipzig die bedenklichen Reden gehalten haben, stellt einen groben Unfug dar, vielleicht aber ist es nicht minderljein solcher, daß man sie dabei gewähren ließ. Abgesehen von socialdemokratischen Versammlungen, würde in Oesterreich in jeder Wählerversammlung, in jedem politischen Verein ein Versuch, innere Fragen eines Nachbar staates in gehässiger Weise zu discutiren, sofort die energischste Zurückweisung finden. Es ist sehr zu bedauern, daß man in Leipzig nicht die gleiche Zurückhaltung beobachtet Feuilleton. Alpensport und Schuicherreisen in alten Zeiten. Von Eduard Feudel. Nachdruck verboten. Nun lockt die ewige Majestät der Bergwelt wiederum Tausende in die Alpcnländer; jedes Jahr wird die Schwei; ein wenig voller, jedes Jahr die Unnahbarkeit der Bergricsen ein wenig eingeschränkter. Was möchte wohl der alte Livius sagen, sähe er diese große Wallfahrt von Menschen, deren Herz darnach steht, in die Alpenwildniß einzudringen oder gar ernsten Gefahren zu trotzen, um die schroffsten höchsten Gipfel zu erklimmen. Er hatte ja nur Augen für die „Scheuß lichkeit der Alpen", und Hannibal'S berühmten Alpenübergang schildert er mit den stärksten Ausdrücken scheuer, ja entsetzter Bewunderung. Und das war nicht etwa nur sein persön licher Geschmack, sondern «S war die Ansicht des ganzen römischen AlterthumS. Der Italiker liebte die Natur nur dann, wenn sie ihm in cultivirter Gestalt vor die Augen trat; für ihre Urgewalt hatte er keinen Sinn, die Schnee berge, die inS Po-Thal hinabblickten, lockten ihn nicht, als ein feindliches Hinderniß scheute er das große Alpen gebirge, und wenn wirklich einmal ein Römer eine Bergbesteigung wagte, so hatte er dabei höchstens wissen schaftliche Zwecke; die Freude an dem durch sie allein zu erreichenden Naturgenuß, das Verständniß für die Empfindung „Auf den Bergen ist Freiheit" ging ihm ab. Wurden so die Alpen als etwas Schreckhaftes und — in den HochgcbirgSpartien wenigstens — ganz Un bekanntes dein Mittelalter überliefert, so war diese Periode aus ideellen und materiellen Gründen unvermögend, über diese Auffassung hinauSzukominen. Denn finsterer war jetzt das GemüthSleben geworden, in der Wildniß dachte man sich die Heimath böser Unholde, und man trüge Sorge, die schwer zu bändigenden nicht in ihrem Reiche zu störe». Dazu aber kamen die unsäglichen Beschwerlichkeiten der Alpenreise, von der wir heut kaum eine Vorstellung gewinnen können. Alle deutschen Lande horchten staunend auf das unglaubliche Gerücht, Laß Heinrich IV., der gebannte Kaiser, im Winter die Alpen überstiegen habe, und Furchtbares wurde von der tausendfältigen Lebensgefahr gemeldet, die er und seine treue Gemahlin Bertha auf dieser wilden Fahrt, die ihm freilich die Krone rettete, überstanden habe. Ein halbe- Jahrhundert später wollte der Abt von St. Trond (bei Limburg) über den St. Bernhard Heimreisen; lange saß er angstvoll im Dorfe EtroubleS am Fuße des Berge« fest: al- er sich endlich auf Len Weg machte, beichtete er und all' seine Gefährten und sie nahmen da« Abendmahl, bevor sie den Uebergang wagten. Aber eben wahrend der heiligen Handlung wurden zehn Führer von einer Lawine getödtet und entsetzt flüchtete der Abt noch einmal zurück. ES ist also nicht allein die Unbequemlichkeit des Reisens, sondern die Eigenheit der Naturaufsassung, die diese Zeit zur „Alpenscheu" veranlaßt. Für die Schönheit der Bergwelt bat man keinen Sinn, eine Bergbesteigung aus touristischer Neigung gilt für etwas Unerhörtes. Darum hielt es auch der erste berühmte Bergtourist, den wir kennen, Petrarca, im Anfänge des 14. Jahrhunderts für nöthig, sich wegen seines unbegreiflichen Planes, den Mont Vewlvux bei Avignon zu besteigen, mit Hilfe historischer Beispiele zu entschuldigen. Ihn beschwor ein alter Hirte, am Fuße deS Gebirgs um zukehren: er habe einmal den Versuch gemacht, und Reue, zerschlagene Glieder und zersetzte Kleider seien sein Lohn ge wesen. Dessenungeachtet bat Petrarca seinen Plan aus geführt, und das Hauptinteresse bei dieser Unternehmung liegt darin, daß er den landschaftlichen und gemüthlicüen Reiz der Bergfahrt erfaßte und empfand. Denn auf dem Gipfel wurde er von der weiten Rundsicht so übermannt, daß ihm die Nichtigkeit des ganzen Erden strebens, das da so klein tief unten zu seinen Füßen lag, mit erschütternder Gewalt zum Bewußtsein kam. Doch was dem Dichter aufging — auch der große Dante batte bereit» eine Bergpartie zum Zwecke landschaft lichen Genusses unternommen —, das blieb nicht allein seinen Zeitgenossen, sondern auch der Nachwelt noch lange verschlossen. Wohl muß der italienische Kosmograph Fazio degli Uberti, dessen „Dittamondo" um 1360 er schien, Berge von mehr als 10 000 Fuß erstiegen haben, weil er, wie Burckhardt bemerkt, Symptome kennt, die sich erst in dieser Höhe einstellen; wohl sind einzelne kühne Gemsjäger von Zeit zu Zeit von den Gipfeln, die in ihre Thäler hinabwinkten, gelockt worden und haben sie zu bewältigen versucht. Doch die Namen dieser Kühnen nennt „kein Lied, kein Heldenbuch", und die euro päische Menschheit im Allgemeinen bat noch Jahrhunderte lang für die Alpen nur Furcht oder Abscheu übrig gehabt; all' die vielen Reisen ins Südland oder zum heiligen Grabe, die Schaaren von Wallern durch die Schweizerberge führten, all' die vielen Kämpfe, die in ihren Thälern aus« gefochten wurden, haben Keinen veranlaßt, den Weg zum Gipfel zu versuchen. Vielmehr hat Felix Fabri aus Ulm, der am Ende deS 15. Jahrhunderts die Alpen durchfuhr, nur für ihre lachenden Tbäler Blick und Lob ; noch 100 Jahre später athmet der gute Kiechel auf, als er, au« den Alpen heranstretend, da« „schöne öbene" Lechfeld erblickt, und auch der Württemberger Heinrich Schickhardt au« Herrenberg ver ließ mit Freuden das „gräulich und langweilig Gebirg, darin wir zehn ganzer Tage zugebracht". Derartige Urtbeile können wir sogar bis tief ins 18. Jahrhundert hinein verfolgen Die Schweiz blieb landschaftlich terra meoguita; ja selbst auf den Karten war beispielsweise die Gegend von Ehamounix etwa so dargestellt, wie heutigen Tag» die unerforschten Ge biete Inner-Afrika- auf unseren kartographischen Darstellungen. Und doch gab eS bereits einzelne Männer, die die hehre Schönheit der Alpennatur würdigten, zu den Bergen nicht mit Schauder, sondern mit froher Bewunderung ausblickten und darnach strebten, die Brust in der freien Luft der Höhe zu baden. Konrad Geßner darf hier genannt werden, der 1541 an einen Freund schrieb: „So lange mir Gott Leben schenkt, habe ich beschlossen, jährlich einige Berge, oder doch wenigstens einen zu besteigen, rhcils um die Gebirgsflora kennen zu lernen, theils um den Körper zu kräftigen und den Geist zu erfrischen." Und in warmherzigen und verständnißvollen Worten preist er die Schönheit der Alpennatur, die zur An dacht stimme und über des Ervenlebens Kleinheit empor hebe. Im selben Jahrhundert wurde schon der Pilatus zum ersten Male erstiegen; freilich blieb das Unternehmen auch in der Folgezeit sehr vereinzelt, ja, eS war noch im 18. Jahrhundert „by lib und guot" verboten, weil es ge eignet sei, furchtbare Gewitter zu erzeugen. Wie schon aus Geßner's Aeußerungen ersichtlich, waren es in erster Linie auch wissenschaftliche Interessen, die zur Bergbesteigung an trieben; Naturforscher waren daher die ersten Touristen, die vom Niesen, vom Stockhorn, vom Calanda zu Thale blickten, und ein wissenschaftlicher Reiseschrist- steller, I. I. Scheuchzer, war der Erste, der mit seinen Schülern in den Jahren 1702—1711 die Schweiz nach allen Richtungen hin emsig bereiste, auch Len verbotenen Pilatus erstieg und barometrische Messungen machte. In ähnlicher Bahn bewegte sich des würdigen Albrecht von Haller Alpen sport, der u. A. die „grausliche und halsbrecherische Unter nehmung" der Besteigung des Stockborns am Thuner See wagte. Keine Unternehmung das, die unseren Alpentouristen, denen kein Gipfel zu gefährlich ist, imponiren könnte; aber wenn nach Horaz „Kernholz und dreifaches Erz Dem die Brust wappnete, der zuerst den gebrechlichen Kahn der grimmen Meerfluth anvertraute", so darf gewiß nicht« Geringeres Dem nachgesagt werden, der zuerst dem ewigen Eise der Gletscher »nd den Schneewänden trotzte. Und so sind wir denn in das Zeitalter gelangt, das in der Geschichte der Alpcntouristik einen Wendepunkt bedeutet und die Eroberung der Alpenwelt einleitet, — in« 18. Jahr hundert. Damals vollzog sich jener große Umschwung im Naturempfinden, den Biese so trefflich dargelegt hat: das Erwachen deS Gefühls für daS Romantische, das sich vor nehmlich an den Namen und die Gedanken Jean IacqueS Rousseau's knüpft, dem, wie er selbst bekannt, „schwierige Bergweae ab und aus, Abgründe zu beiden Seiten, die mir tüchtig Furcht machen", zu einer Landschaft, die ihm gefallen sollte, gekörten. Rousseau war ein leidenschaftlicher Berg wanderer; Loch zum Theil schon vor ihm war die Freude an Alpenfahrlen erwacht und mehrfach bclhätigt worden. 1739 wurde der Titli« erstmalig erstiegen. Zwei Jahre später faßte ein in Genf wohnender Engländer, Namen« Windham, den Plan, in Ehainounix bis dahin noch ganz unbekannte Felsen- und Glelscherwelt einzudringen. Mit sieben Lands leuten brach er auf: „sie haben ohne Zweifel (erzählt Saussure mit stillem Humor) die Bewohner für gefährliche Räuber an gesehen, denn sie begaben sich Labin mit größter Sorgfalt be waffnet und von einer Anzahl gleichfalls gut bewaffneter Diener begleitet; sie wagten sich in kein Hau« hinein, sondern hatten sich Zelte mitgebracht, in denen sie auf freiem Felde ihre Wohnung aufschlugen, unterhielten die ganze Nacht hindurch Feuer und stellten Schildwachen aus." Ein Gipfel nach dem andern wurde bezwungen. 1778—80 machte» sieben ver wegene Gemsjäger aus Gressoney Versuche, Len gewaltigen Monte Rosa zu erklimmen und drangen bis zum sogenannten Entdeckungsfelsen vor (die höchste Spitze des Monte Rosa wurde erst 1855 erreicht). 1779 wagten sich zwei wackere Bergsteiger, der Prior Murith, Pfarrer zu LiddeS im Entre- mont-Tkale, und M. T. Bourrit aus Genf an Len Mont Velan in den Walliser Alpen; und obgleich die sie be gleitenden beiden Gemsjäger zweimal, zuerst vor einer 40 w hohen Mauer von weichem Schnee und dann am Fuße einer glatten, völlig senkrechten Eiswand verzagten und nicht weiter wollten, erklommen sie schließlich doch den Gipfel. Sehr eifrige Freunde des Alpensports waren auch der Pfarrer Element von Champsry, der 1784 die Höhe LeS Deut du Midi erreichte, und der unermüdliche Pater Placidus a Spescba, der sich noch in seinem 70. Lebensjahre an den Tödi wagte. Hatte Gibbon um die Milte des Jahrhunderts schreiben können: „Noch ist cs bei fremden Reisenden nicht Mode ge worden, die Gebirge hinaufzuklettern und die Eisberge zu durch suchen", so beklagte er schon 1787 „die Mode, die Gebirge und Gletscher in Augenschein zu nehmen". Selbst das Unbegreif lichste war damals bereits Ereigniß geworden. „Man weiß keinen Menschen, der den weißen Berg (Montblanc) oder de» Schreckborn erstiegen hätte." So sagte Johannes Müller 1786. Aber im selben Jahre versuchte schon vr. Pacard au« Genf mit einem Führer aus Ehamounix aus rein touristischer Neigung Europas höchsten Berg zu überwinden, und im Jahre 1787 führte der große Gelehrte Saussure dies schwere Wagniß Lurch. Von der eisumgürteten Höbe sah zum ersten Male ei» Menschlein auf die gewaltige Berg welt um und unter sich. Ja, der Mensch hatte gesiegt. Ueberwunden war das Grauen vor den finsteren Geistern der Berge und Abgründe, überwunden die trotzige Unnahbarkeit der Alpen, und erobert das Verständniß für die befreiende Schönheit ihrer Höben, für die stählende Kraft, die in der Besiegung der Schwierig keiten der Bergwelt liegt. In diesem friedlichen Kampfe mit der Natur hat dann unser Jahrhundert große Fortschrille gemacht: zuerst (1811) mußte sich die Jungfrau, zuletzt (l86l) das von Alters ber gefürchtete Schreckhorn dem Touristen ergeben. Und beut empfängt die Schweiz alljährlich große Schaaren von Alpenfreunden au« allen Theilen der Erde. So ist eS zwar nickt ganz, wie Haller e« einst geschildert bat: „Alle Reisenden zu beherbergen, ohne von ihnen Geld an- zunebmen, ist auf den Alpen dieser Gegend (Gurmigel und Neucnen Alp) nickt nur Sitte, sondern so viel als Gesetz". Doch ihr schönstes Gastgeschenk bietet ja noch heut die Schweiz ungeschmälert den Besuchern dar: die Schönheit der einst verachteten und gescheuten Alpenwelt.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite