01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 22.05.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-05-22
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970522013
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897052201
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897052201
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-05
- Tag1897-05-22
- Monat1897-05
- Jahr1897
-
-
-
3832
-
3833
-
3834
-
3835
-
3836
-
3837
-
3838
-
3839
-
3840
-
3841
-
3842
-
3843
-
3844
-
3845
-
3846
-
3847
-
3848
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezugs-Preis D» H«r Haoptexpeditton oder den kn Stadt» b«irk und den Vororten errichteten Au«» aabestrvea abgrholt: vierteljährlich^ 4.50, »et zweimaliger täglicher Zustellung in« hau« ^l 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich ^l 8.—. Direkte tägliche Kreuzbandienduug tu» Au»laud: monatlich 7.50. Die Morgeu-AuSgabe erscheint um Uhr. di« Lbend-AuSgabe Wochentag« um b Uhr. Lrdactiou und Ervedttio«: 8o-anne»»«ffe 8. Di»E«-«ditio» ist Wochentag« ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi« Abend« 7 Uhr. Filialen: vtt» Klemm'» kortim. (Alfred Hahn), Umversitätsstraße 3 (Pauliniun), LouiS Lösche. Aatharinenstr. 14, Part, und KSnigSplah 7. Morgen-Ausgabe. KipMerTaMM Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Aathes und Vokizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Auzeigeu-Preis die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Rrclamen unter dem Redaction-strich (4ge- spalten) 50^, vor den Familiennachrichte» (6 gespalten) 40/^- Gröbere Schriften laut unserem Preis» vrrzeichnih. Tabellarischer und Zissernsatz nach höherem Tarts. «öxtra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesorderung ^it 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 258. Sonnabend den 22. Mai 1897. 91. Jahrgang. Ein neues Arbeiterschutzgeseh. Im Februar 1896 wurde durch einen großen Streik im ConfectionSgewerbe von Neuem die allgemeine Aufmerksamkeit auf die traurige Lage der hierin beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen gelenkt. Schon 1885 hatte sie in Folge des drohenden NähfadenzolleS Anlaß zu einer Reichstagsenquete gegeben, die sehr bedenkliche Mißstände aufdeckte. Jetzt werden mit vermehrter Kraft die Klagen über unzureichende Lohne, Zeitverlust bei der Arbeitsaushändigung und Ablieferung, ungerechtfertiHte Beanstandung der Arbeit, unzulässige Lohn abzüge, unpunctliche Lohnzahlung und namentlich über das Zwischenmeistersystem und über die schlechten Gesundheits verhältnisse in den Werkstätten und den Wohnungen der Heimarbeiter erhoben. Alle diese Beschwerden sind in der Arbeitercommission eingehend untersucht worden, die bekanntlich einen Theil der Klagen, besonders die über die Zwischenmeister, nicht als zu treffend anerkannte, in den wesentlichsten Puncten jedoch be stätigte, daß ein Eingreifen der Gesetzgebung diesen Verhält nissen gegenüber dringend erforderlich sei. Jetzt ist nun ein Gesetzentwurf veröffentlicht worden, der dasjenige enthält, waS die Regierung zur Regelung der Arbeitsverhältnisse auf diesem Gebiete für nothwendig und erreichbar hält. Die übermäßige Dauer der Arbeitszeit ist als vorhanden festgestellt worden. Jedoch betont der Entwurf, daß eine Beschränkung der Arbeitszeit bei den HauS- industriellen nicht durchzuführen sei, weil sie an dem Mangel einer wirksamen Controle scheitern müßte. Wenigstens soll aber die Arbeitszeit der in Werkstätten beschäftigten Arbeite rinnen und jugendlichen Arbeiter der Kleider- und Wäsche- consection geregelt werden. Zu diesem Zwecke sollen die Bestimmnngen der Gewerbeordnung über die Arbeitszeit der in Fabriken beschäftigten Arbeiterinnen und jugendlichen Ar beiter (tz 135 ff.) durch Erlaß einer demnächst zu erwarten den kaiserl. Verordnung auf die Werkstätten ausgedehnt werden. Dagegen soll die Gesetzgebung herangezogen werden, um zu verhindern, daß die Arbeiterinnen noch über die übliche Arbeitszeit hinaus durch Mitgebcn von Arbeit zu mehr stündiger Hausarbeit veranlaßt werden, wie eS jetzt geschieht. Ohne solche Bestimmungen wäre jede verordnungsmäßige Einschränkung der Arbeitszeit illusorisch, ja, die Heim arbeit der Werkstättenarbeiterinnen würde noch größeren Umfang annehmen. Da die Gewerbeordnung bis jetzt keine Handhabe zur Unterdrückung dieses Mißstandes bietet, so wird folgende Ergänzung durch Art. 1, Ziffer 3 und 4 der Vorlage vorgeschlagen:" Hinter 8 137 wird folgende Bestimmung eingeschaltet: 8 137a. Für bestimmte Gewerbe kann durch Beschluß des Bundesrathes angeordnet werden, daß den Arbeiterinnen und jugend lichen Arbeitern, sofern ihre tägliche Beschäftigung in der Fabrik sechs Stunden übersteigt, Arbeit nicht mit nach Hause gegeben werden darf. Die von dem Bundesrathe getroffenen Anordnungen sind durch das Reichs-Gesetzblatt zu veröffentlichen und dem Reichstage bei feinem nächsten Znsammcntritte zur Kenntnißnahme vorzulegen. Im 8 146 Absatz 1 Ziffer 2 ist statt „8s 139 und 139a" zu setzen: 88 137 a, 139, 139a". Die Beschaffenheit der Werkstätten und der Arbeitsräume der zu Hause beschäftigten Ar beiterinnen giebt ebenfalls zu erheblichen Bedenken Ver anlassung. Jedoch ist von einem Eingriff zur Beseitigung der Mißstände in den Wohnungen der Heimarbeiterinnen ab gesehen worden, schon deswegen, „weil die Geltendmachung der vom gesundheitlichen Standpunct an die Beschaffenheit der Arbeilsräume zu stellenden Anforderungen einem Verbote der Heimarbeit nahezu gleich käme, gegen das die ernstesten Bedenken bestehen" — wie die Begründung sagt. Auch die Gefahren für die Gesundheit der Consumenten durch Uebcr- tragung ansteckender Krankheiten aus den Räumen von Heim arbeitern werden anerkannt, die polizeilichen Befugnisse werden jedoch für ausreichend gehalten. Zur Herbeiführung besserer Zustände in den Werkstätten bieten schon die ZK 120uff. (Schutz gegen Gefahren für Leben, Gesundheit und Sittlich keit) der Gewerbeordnung eine ausreichende Handhabe; durch die bevorstehende Ausdehnung der KZ 135 ff. auf die Werk stätten erscheint die wirksame Durchführung jener Be stimmungen mehr als bisher gesichert; so werden z. B. die gesundheitsschädlichen Kohlenbügeleisen aus den Werkstätten beseitigt werden können. Eine gesetzliche Regelung des Lohnes, dessen außerordent liche Niedrigkeit anerkannt und beklagt wird, lehnt die Be gründung ab. Doch soll die Lohnberechnung durch Be stimmungen geregelt werden, die dem Arbeiter vor Uebernahme des einzelnen Auftrages Klarheit über den Preis seiner Arbeit gewähren. Der Arbeitsvertraz erstreckt sich in der Confection nur aus den einzelnen Auftrag, darüber hinaus hat der Unter nehmer keine Verbindlichkeiten; und im Lause einer Saison ergeben sich oft Veränderungen der Preise und Lohnsätze sür dasselbe Stück, die der Confectionsindustrie als Saisongewerbe eigenthümlich sind. Die Bedingungen sind bei den Unter nehmern auch in der Lieferung der Stoffe und der Werk zeuge verschieden, und die Einzelaufträge sind von ver schiedenem Umfange. Trotz dieser schwankenden Zustände sind schriftliche Bescheinigungen über die Lohnberechnung nicht üblich. Nur selten sind, wenn derartige Scheine wirklich ausgegeben werden, darin die Preise oder Löhne, wie die Bedingungen über Lieferung von Stoffen und Werkzeugen, höchstens Angaben über den Umfang des ertheilten Auftrags enthalten. So besteht die Gefahr, daß die Arbeiter nicht wissen, welchen Lohn sie zu beanspruchen haben. Dem soll durch folgende Bestimmung abgeholfen werden. Hinter 8 114 der Gewerbeordnung wird folgender 8 114 u ein gestellt: „Für bestimmte Gewerbe kann der Bundcsrath Lohnbücher oder Arbeilszettel vorschreiben, in denen Art und Umfang der über tragenden Arbeit, bei Accordarbeit die Stückzahl, ferner die Lohnsätze und die Bedingungen für die Lieferung von Werkzeugen und Stoffen zu den übertragenen Arbeiten von dem Arbeitgeber oder dem dazu Bevollmächtigten zu beurkunden sind. Auf die Eintragungen finden die Vorschriften des 8 111 Absatz 2 bis 4 (Eintragung von Merkmalen oder Urtheilen) entsprechende Anwendung. Das Lohnbuch oder der Arbeitszettel ist von dem Arbeitgeber auf feine Kosten zu beschaffen und dem Arbeiter nach Vollziehung der vorgeschriebenen Eintragungen vor oder bei der Uebergabe der Arbeit kostenfrei anszuhändigen. Die Einrichtung der Lohnbücher und Arbeitszettel wird durch den Reichskanzler bestimmt. Die von dem Bundesrathe getroffenen Anordnungen sind durch das Reichs-Gesetzblatt zu veröffentlichen und dem Reichstage bei einem nächsten Zusammentritte zur Kenntnißnahme vorzulegen." Außerdem sollen die Strafbestimmungen der 88 146 und 150 entsprechend auf Lohnbücher und Arbeitszettel aus gedehnt werden. Der zweite Theil der Vorlage dehnt die Versicherungs pflicht gegen Krankheit, Invalidität und Alter auf die Hausindustriellen der Confcctionsbranche aus. Der Entwurf überträgt auch dem Bundesrath die Befugniß zur Ausdehnung der Versicherungspflicht gegen Krankheit, die bis her nur den Communalverbanden zustand. Gleichzeitig wird Vorsorge getroffen, daß die Confectionaire direct zu den Leistungen der Arbeitgeber auch für diejenigen Hausgewerbe treibenden herangezogen werden können, welche sie nur in direkt durch Zwischenpersonen beschäftigen. Dies empfiehlt sich auch im Interesse der besseren Durchführung der Jnvali- ditäts- und Altersversicherung. Während die für die letztere erforderlichen Bestimmungen in die bevorstehende größere Novelle zu dem Gesetz vom 22. Juni 1889 aus genommen werden und in dem dem Reichstag vorgelegten Entwurf der Novelle bereits vorgesehen sind, finden die zur Erreichung deS angestrebten Erfolges bei der Kranken versicherung erforderlichen Abänderungen in dem vorliegen den Gesetzentwurf ihre Stelle. Wie man sieht, beschränkt sich die Vorlage nicht auf eine Art Ausnahmegesetz für die Confectionsarbeiter, sondern schafft eine generelle Erweiterung der Gewerbeordnung. In Betriebe, die auf bloße Handarbeit oder auf leichte Maschinen, wie Näh- und Strickmaschinen, angewiesen sind, kommen überall ähnliche Uebel zum Vorschein wie in der Confection. Sehr häufig ist die Möglichkeit geboten, die jugendlichen Arbeiter und die Arbeiterinnen während der gesetzlich zu lässigen Zeit in der Fabrik zu beschäftigen und daneben ihnen noch Arbeit mit nach Hause zu geben. Dies scheint, nach den Berichten der Fabnkinspectvren, in erheblichem Umfange in der Corsetfabrikation der Fall zu sein, findet sich aber n. A. auch in der Posamentenindnstrie, der Strumpf- und Wirkwaarenindustrie, der Rauchwaarenindustrie, in Con- serven-, Cigarren-, Stahlwaaren- und Kerzenfabriken. Die Begründung des Entwurfes läßt es dahingestellt, ob eS sich in allen diesen Fällen um Mißstände handelt, die ein Eingreifen der Gesetzgebung erforderlich machen. Jeden falls aber, so wird betont, wird die Mitgabe von Arbeit nach Hause in solchen Gewerbszweigen zu untersagen sein, wo sie sich zu einem die Absicht deS Gesetzgebers, die Arbeitszeit der Arbeiterinnen und der jugendlichen Arbeiter zu beschränken, vereitelnden Uebelstande herausgebildet hat, oder wo durch eine zu große Ausnutzung dieser geschäftlichen Gepflogenheit denjenigen Gewerbetreibenden, welche von einem solchen Verfahren absehen, eine nicht zu billigende Concurrenr bereitet wird. Dabei wird ferner daraus Bedacht zu nehmen sein, daß das Verbot nicht auch für solche Betriebe erlassen wird, wo es die Zurückdrängung der Fabrik oder Werkstattarbeiter in die Hausarbeit nach fick ziehen würde, ein Bedenken, das bei der Kleider- und Wäsche confection im Allgemeinen nicht vorliegt. Aus diesen Gründen werden die in Aussicht genommenen neuen Vorschriften nicht auf die Confectionsindustrie be schränkt, sondern ihnen eine Fassung gegeben, die ihre An wendung auf alle diejenigen Betriebszweige ermöglicht, in denen dies nach eingehender Prüfung sich als zweckmäßig Herausstellen wird. Deutsches Reich. L Berlin, 21. Mai. Es bestätigt sich, daß für die Neichstagöersayw ahl in Königsberg der Vertreter der Stadt im preußischen Abgeordnetenhause, Or. Krause, als Candidat der Nationalliberalen aufgestellt worden ist. Wir begrüßen die Nachricht mit großer Genugtuung. Es handelt sich in der ostpreußischen Hauptstadt um den Versuch, ein lange in bürgerlichen Händen gewesenes Mandat der Socialdemokratie wieder abzunehmen. Eine Weile schien eS, als ob die Nationalliberalen dies Ziel am besten dadurch erreichen zu können glaubten, daß sie von Anbeginn die Bewerbung des der freisinnigen Vereinigung angehörigen LandtagsabgeordnetenB roemel unterstützten. Das wäre sicherlich ein Jrrthum gewesen. Herr Broemel ist vor allen Dingen manchesterlicker Doktrinär, ein vom Zeitgeist unberührt gebliebener Jünger Ludwig Bambergers, eine Eigenschaft, die auch den der Kaufmannschaft angehörigen nationalliberalen Wählern Königsbergs fremd und so wenig sympathisch ist, wie den dortigen Couservativen. Die Führer der Letztere» haben allerdings erklärt, für eine von Herrn Liebermann v. Sonnenberg betriebene antisemitische Candidatur eintreten zu wollen. Die Zahl der Parteigenoffen, die ihnen hierin folgen, wird sich aber mindern, wenn statt eines Freisinnigen ein Nationalliberaler in Frage kommt, zumal da der Antisemit notorisch keine Aussicht hat, in die Stichwahl zu gelangen. Jedenfalls kann der wegen des Vereinsgesetzes entstandene Streit, wenn in ihm auch zufällig der Person deS Königsberger nationalliberalen Candidaten eine hervorragende Rolle zugefallen ist, den Couservativen kein Hindernitz sein, für vr. Krause zu stimmen. Denn auch die Antisemiten bekämpfen die preußische Regierungsvorlage und ihre Beweggründe weichen sogar von denen der National I liberalen nach einer Richtung ab, die ihrem Candidaten in I den Augen eines Conservativen, der die Bezeichnung verdient, I nicht gerade den Vorzug geben dürfte. Immerhin aber > erkennt man an der nunmehrigen Wahlconstellation die FöurHetsn. Oer kleine ürnder. Eine Kindergeschichte von Paul und Victor Margueritte. Ans dem Französischen von Leon Weiden. Nachdruck »erboten. Es geht etwas Wichtiges vor. Das Haus ist seit acht Tagen in Aufregung; Willy zerbricht sich den Kopf. Er hat gut sich erkundigen, Jeder nimmt eine geheimnißvolle Miene an, legt einen Finger auf seinen Mund und reißt die Augen auf: Bst! Bst!" Er sieht seine Mama nur noch deS Nach ¬ mittags und immer findet er sie auf ihrer Chaiselongue aus gestreckt. Papa hat ganz gewiß etwas. Er geht ungeduldig auf der Terrasse hin und her, die Hände auf dem Rücken . . . Er erwartet Jemand. Wen? . . . Man klingelt! Wer klingelt da? Willy stürzt hinaus auf die Freitreppe. Ei sieh da! Doctor Nipert, der Arzt. Es ist aber doch Niemand krank... Er ist ganz munter heute Morgen, der Doctor Nipert. Willy, der sonst eine schreckliche Ängst hat vor Aerzten, verabscheut gerade ihn nicht zu sehr; er lächelt immer so freundlich, ist frisch rasirt, klein, dick, rosig und hat gewöhnlich in seiner Westentasche eine kleine runde Schachtel aus Schildkrot, voll mit Anis-BonbonS. „Guten Morgen! guten Morgen!" sagt Doctor Ripert, indem er Willy im Vorbeigehen flüchtig auf die Wange klopft. Mutter, ohne Zweifel, aber in Gedanken. WaS geht da vor? Doctor Ripert muß eine wichtige Nachricht bringen. Vielleicht ist die AniSbonbonSverkäufrrin gestorben . . . oder auch — wer weiß — giebt e« etwas Neue« von da drüben, von China her . . . Halt, da eilt Luise eben rasch vorbei. Sie trägt einen ganzen Berg von Servietten. „Luise! Luise!" „Ich habe keine Zeit." Willy läuft ihr nach, hängt sich an ihre Röcke. „WaS giebt e« denn, Luise?" „Lassen Sie mich schnell los, ich habe keine Zeit!" Willy strampelt und heult: „Ich will eS wissen!" „Mau erwartet Ihre kleine Schwester! So, sind Sie nun zufrieden?" Luise ist verschwunden. Willy steht da wie angewurzelt, mit offenem Munde. Ist eS wohl wahr? Ist eS möglich? ... Schon seit mehreren Monaten erwartet man sie nun, die kleine Schwester. Willy hat wobl sagen hören im ver gangenen Jahre, daß man sie in China bestellt habe. Aber sie kommt nicht. Vergebens hat Willy lange Zeit hindurch täglich an einer Stelle deS Gartens, von der auS man das Meer erblickt, AuSguck gehalten. Sein Herz hat geklopft bei jedem Schiffe, baö er bemerkte, ein ferner Rauch zuerst am blauen Himmel, dann ein niedliche«, kleine« Boot, dessen feine Masten und winzigen Schornsteine man nach und nach unter scheidet. Aber immer wurde da« Schiff größer und größer und lief schließlich mit entfalteten Segeln in den Hafen ein, ohne ein Schwesterchen zu bringen. Es war am Ende zum Perzweifeln, Willy hatte die Hoffnung aufgegeben, die ver- prochene kleine Schwester überS Meer kommen zu sehen. Er erwartete sie überhaupt nicht mehr. Luise wollte ibn augenscheinlich zum Besten halten. Nicht ein einziges Schiff am Horizont gestern. Es müßte höchstens diese Nacht eines angekommen sein. Aber Willy würde ja den Ruf gehört laben, den die Schiffe ausstoßen, wenn sie in den Hafen ein kaufen wollen, jenes fürchterliche Brüllen, das aus dem Schlunde eines höllischen Ungeheuers hervorzukommen scheint und bei dem die kleinen Knaben über HalS und Kopf die Flucht ergreifen. Uebrigens, ist es denn überhaupt bewiesen, daß die kleinen Kinder von China kommen? Glaubwürdige Personen be tätigen es, daS ist wobl wahr. Aber es giebt auch andere Ansichten. Jean, der Kammerdiener, zum Beispiel behauptet — und Willy glaubte eS noch jüngst — daß man sie unter dem Kohl findet. Wie oft ist er neugierig im Küchengarten berumgelaufen und hat unter alle Blätter geguckt! Nichts! ... Firmin, der Gärtner, hat im Frühling auf seine Bitte hin sogar ein Beet mit einer besonderen Sorte von Kohl be pflanzt, Kleinschwester-Kohl genannt. Aber die Kohlköpfe waren ganz wie die gewöhnlichen, und Willy hat unter ihren Blättern nie die geringste Spur von einer kleinen Schwester entdeckt. Wenn es aber nun doch wahr wäre? Wenn sie diese Nacht angekommen wäre, mit einem heimlich in den Hafen einzelaufenen Schiffe? Wahrscheinlich ist daS die Nachricht, die Doctor Ripert bringt .... Und von einem plötz lichen Schwindel erfaßt, hüpft Willy vor Freude auf einem Bein und stößt unartikulirte Schreie aus. Man sollte aber doch Klarheit haben in der Sache. Gehen wir Großpapa fragen! . . . Großpapa Vernobre wohnt am Ende des Garten» in einem alten Pavillon. Willy begiebt sich mit kleinen Sprüngen dorthin. Aber man kommt nicht rasch genug vorwärts so- er zieht die Knie hoch hinauf und fängt an zu galoppiren. Er wiehert wie ein junges Füllen. Die Thür deS SalonS steht offen. Willy macht einen Einfall. „Kleine Schwester kommt, Großpapa!" Herr Vernobre fährt in die Höhe. WaS hat er denn? Er schlief ohne Zweifel. Seine Zeitung fällt ihm aus der Hand. Er wird sehr roth. Duckmäusig erkundigt sich Willy: „Ist denn ein Schiff von China angekommen?" „Freilick, Dummkopf! Gieb mir meinen Stock!" Aber da kommt Jean herbeigelaufen. Es giebt etwa» Neue«, ohne Frage! .... Er sagt Herrn Vernobre einige Worte ins Ohr. Großpapa murmelt: „Gut, gut! Sehr gut!" und ohne sich erst die Zeit zu nehmen, seinen Hut auf- zusetzen, eilt er davon, ist schon weit. Jean giebt Willy den Rath, einstweilen in der Platanenallee spazieren zu gehen. Seine Mama wird ihn bald holen lassen. Und Jean nimmt eine geheimnißvolle Miene an; er legt einen Finger auf seine Lippen: „Bst! Bst!" Kein Zweifel mehr .... der liebe Gott hat eine Sendung auS China gemacht. Die kleine Schwester ist angekommen. Willy wußte übrigens sehr wohl, daß sie kommen würde. Alle Kinder kommen von Cbina. Darum sammeln die Missionäre auch die Briefmarken. Sie nehmen alle, die sie bekommen können, und wenn sie tausend haben, kommt ein kleines Kind zur Welt! Und so oft daher Will» eine Marke ablösen kann, thut er es auch. Er hat seit sechs Monaten mehr als dreihundert alte Couverts zerrissen, um seiner Mama die kostbaren kleinen gelben, grünen, rothen und blauen Vierecke zu überbringen. Jette, seine kleine Freundin, hat Reckt. Uebrigens, die große Lacksckachtel, welche auf dem weißen Marmorspiegel tischchen des SalonS stebt, erlaubte auch gar nicht daran zu zweifeln. Er selbst, Willy, wurde ja in dieser Schachtel von China herübergeschickt — seine Mama versicherte eS ihm noch vor vierzehn Tagen. Und es ist bekannt, jedes Kind kommt inmitten von Blumen zur Welt. So ist Jette in einem ganz mit Lilienblättern gefüllten Kästchen geboren worden. Die Schachtel Willy's war mit frischem Laube und Akazienblüthen ausgeschmückt. Welches Glück, ein kleines Schwesterchen zu haben! In was sür Blumen wird sie zur Welt kommen? Jette ist ohne Widerrede sehr artig. Aber oft ist sie auch launenhaft und eigensinnig. Sie schreit wie ein Seelöwe, wenn Willy eine ihrer Puppen anrühren will. Die Mädchen begreifen nichts! Und dann, man muß ihnen immer ihren Willen thun. Sie ist durchaus nickt guter Laune, wenn sie die „gnädige Frau" spielt .... „Willy! Klopfen Sie den Teppich auS! Willy! Holen Sie für zehn Pfennige Butter! Willy! Bringen Sie mir meinen Schirm! . . . ." Nein, mag Jette auch langes flatterndes Haar haben, so weich wie goldige Seide, Willy hat es satt, den Bedienten zu machen. Er hat sich immer eine kleine Schwester gewünscht. Vor Allem wird sie nicht so groß sein wie er. Ob, lange nicht! Wenn sie miteinander spazieren gehen, wird sie den Eimer und die Schaufel tragen. Sie wird ihm unter allen Um ständen gehorchen. Niemals wird sie ihre Puppen ankleiden, ohne Willy um Rath zu fragen. Andererseits wird er für sie die zartesten Aufmerksamkeiten haben. Er wird sie gegen Hunde und andere böse Thiere vertheidigen; und indem er daran denkt, stemmt er sich stolz eine Faust in die Hüfte. Er wird ihr Beschützer sein und ihr Freund. In Gedanken geht seine Zärtlichkeit sogar so weit, daß er sich zu einer zukünftigen gerechten Theilung der eingemachten Früchte, Schaumrollen und gefüllten Bonbons entschließt. Willy besitzt ein großes Herz. Ah, da unten, am Eingänge der Allee, steht Luise und macht Zeichen .... Kein Zweifel. Sie ruft .... Es ist so! Die Schachiel muß eingetroffen sein, während sich Willy zu Großpapa begab.... Und seine kleinen Beine zappeln dahin! „Kommen Sie schnell! Mama und Papa verlangen nach Ihnen!" „Sie ist angekommen?" „Wer, sie?" „Die kleine Schwester... die Schachtel..." wirft Willy athemlos bin. „Vor Allem war keine kleine Schwester in der Schachtel" .. . „Was denn, Luise, was denn?" „Ein kleiner Bruder, meiner Treu! Ein zweiter Willv!" „Ein zweiter Willy?" Was Zoll das für ein Scherz sein? Ein zweiter Willy? Nein, das ist nicht möglich! Und der wahre Willy, Will» der Erste, der Einzige, bleibt von einem wahnsinnigen Zorn erfaßt stehen, bricht in ein erschütterndes Schluchzen aus, stampft mit dem Fuße und brüllt: „äch will ihn nicht! Ich mag ihn nicht! Was thut er denn da? Eine kleine Schwester! Eine kleine Schwester möckt ich haben!" Luise sucht ihn zu beruhige». Vergebliche Mühe! Ein kleiner Bruder, erklärt sie, ist immerhin sehr unterhaltlich. Willy ist untröstlich. Seine langgehegten Zukunftöpläne, seine Träume von Zärtlichkeit, von Protection . . . Alles daS stürzt zusammen, vergeht, verschwindet. Keine kleine Schwester mehr, keine unschuldigen Spiele mit Puppen und Flitter. Es ist ein wahrer Herzenskummer. Anstatt dcö ersehnten niedlichen Geschöpfes, ganz frisch, ganz rosig, denkt Willy mit Sorge an diese neue Persönlichkeit, an diescn kleinen Bruder, der so in sein eigene» Leben hineintrin, ohne erwartet zu sein. Er hat daS unbestimmte Gefühl, als sei er durch ihn geschädigt. Er kann keine Neigung für ihn empfinden. Ein zweiter Willy! WaS soll das heißen „Ihre Mama liegt zu Bett. Sie ist gefallen, als sie Ihre: i kleinen Bruder entgegenging. ES wird nicht gefährlich sein." Willy hört nicht. Willy ist getheilt zwischen seinem tiefen Leid und der Neugierde. Ein kleiner Bruder? Wie sieht er au»? Schnell, schnell die Treppe hinauf, den Corridor ent lang und tapp! tapp! tapp! öffnet sich die Thür. Mama liegt in ihrem Bette, ganz blaß, den Kopf aus daS Spitzenkiffen gestützt. Sie lächelt sanft. Papa steht bc, ihr. Er hat ihre Hand in der seinen. Großpapa und der Doctor sprechen leise mit einander in der Fensternische. Uno Alle haben sie zufriedene Mienen. Willy bleibt beklommen auf der Schwelle stehen. Wo ist er denn, dieser zweite Willy? Aber Papa wendet sich um: „Komm schnell, mein Dicker!" Und Willy, von zwei kräftigen Armen emporgehoben, siebt unter sich das gute, glückliche Gesicht seines Vaters. Und Mama küßt ihn auf die Stirne, indem sie sagt: „Geh' und sieh' Dir Deinen kleinen Bruder an!" Willy sucht ihn. Ach! Da steht eine Wiege auf ver änderen Seite des BelteS. Willy kennt sie, diese Wiege, cs ist die seinige. Man beraubt ihn schon! Keine Schachtel . . . man hat sie wohl fortgetragen . . . Doctor Ripert schiebt vorsichtig den leichten Vorhang bei Seite. Willy bemerkt ein röthlicheS Klümpchen in der Weiße der Kiffen. Soll daS der kleine Bruder sein? Mein Gott! wie ist er häßlich! . . Ein zweiter Willy? Nein, wahrbastig nicht! Und wieder beruhigt, betrachtet Willy stillschweigend, mit etwas Stolz und Mitleid diese« ein^eschlafene Fleisch, diese« kleine, lebende und geheimnißvolle Häufchen.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Keine Volltexte in der Vorschau-Ansicht.
- Einzelseitenansicht
- Ansicht nach links drehen Ansicht nach rechts drehen Drehung zurücksetzen
- Ansicht vergrößern Ansicht verkleinern Vollansicht