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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.06.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-06-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970610019
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897061001
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897061001
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-06
- Tag1897-06-10
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Es laufen dabei die kritischen Ausschreitungen und gedankenlosen Tugendhaftigkeiten mit unter, wie sie sich immer bemerkbar machen, wenn außerordentliche criminalistische Vor fälle das Publicum erregen. Sie gipfeln diesmal zum Theil in dem Verlangen nach gänzlicher Beseitigung der angeblich überflüssigen politischen Polizei. DaS ist Tagesstimmung, die bald verstiegen wird und sofort in ibr Gegentheil Um schlägen würde, wenn morgen zufällig bekannt würde, daß ein militairischer Spion des Auslandes unbeobachtet werth volle Bente an wichtigen Geheimnissen in Deutschland ge macht hätte, oder wenn anarchistische Attentate wie das für die Einweihung des Niederwald-Denkmals geplante oder wie die Ermordung des Polizeiraths Rumpf sich wieder holen sollten. Die politische Polizei ist nothwendig, zu ihrer correcten Handhabung bedarf es jedoch der scharfsinnigsten und loyalsten Bestimmung der Objecte, die sich zur Bearbeitung durch diese Behörde eignen. Nnd diese Aufgabe kann nur einer geistig hochstehenden, autoritativen Persönlichkeit zufallen, die, vorbebältlich höchstens einer Berufung an den obersten Chef der gesammten Bundespolizeiverwaltung, nicht nur generelle Vorschriften über den Wirkungskreis der Beamten und Agenten zu erlassen, sondern auch in delicaten Fällen in speois zu entscheiden hätte, oh eine Sache anzufassen sei oder nicht. Beispielsweise würde nach der Verzichtleistung auf die regel mäßige Ueberwachung der Presse und insbesondere auf daS Ausforschen der Verfasser von irgendwo unliebsam vermerkten Zeitungsartikeln die Berücksichtigung berechtigter Wünsche nach einem Abgeben von dieser Regel, die an sich ebenso zulässig als nützlich wäre, nicht ausgeschlossen erscheinen. In solchen Fällen hätte der Leiter der politischen Polizei vor allen Dingen die Be rechtigung dcS Verlangens nach einer Auskund schaftung unter dem Gesichtspunkte des öffentlichen Interesses und nur unter diesem zu prüfen. Es ist in den letzten fünf Jahren — wir können mit Beispielen auf warten — die reclieroüe cle la patoruitv hinsichtlich total gleichgiltiger und für den Urtheilsfähigen auf den ersten Blick als solche erkennbarer Zeitungsartikel angeordnet und durchgesührt, bezw. versucht worden. Hätte man sich wegen der Einleitung derartiger Untersuchungen an eine politisch versirte und auf ihre politische Reputation haltende Stelle wenden müssen, die solche Ansinnen mit der mehr oder wenigerdurchsichtigen Umschreibung des UrtheilS„DummesZeug" zurückweisen durfte, die Tausch und Lützow hätten beträchtlich weniger Arbeit gehabt. Wenn das öffentliche Interesse die Ermittelung eines Autors wünschenswerth macht, so, wenn eine amtliche Jn- diScretion vorliegen kann, dann würde der Leiter der poli tischen Polizei noch immer zu entscheiden haben, ob seine Behörde oder die gewöhnliche Criminalpolizei mit der Angelegenheit zu befassen sei. Man weiß, daß oft ein Amtsvergehen verübt worden zu sein scheint, wo eS sich um den gewöhnlichen Diebstahl eines nicht beamteten Menschen handelt. DaS war z. B. der Fall bei der vorzeitigen Veröffentlichung des Gnadenerlasses des Kaisers zum ReichSjubiläum. Ein Bediensteter der Druckerei des MilitairwochenblatteS hatte ein Exemplar der betreffenden Nummer entwendet und sie dem „Vorwärts" gebracht. So viel wir wissen, ist die Entdeckung deö ThäterS auch gar nicht durch die politische, sondern durch die Criminalpolizei erfolgt. Eine ausgezeichnete, mit einer bedeutenden Selbstständig keit auSgestattete Persönlichkeit ist an der Spitze der politischen Polizei ferner nöthig, damit der Unfug aufhört, daß jede Behörde einem Beamten der Polizei von sich aus Befehle er- tbeilen kann, ohne daß — laut der Aussage des Polizeiraths Muhl — die Vorgesetzten des Beauftragten über die Natur und den Zweck deSAustrageS unterrichtet wären. Der ProceßTausch bat daS Unhaltbare dieses Zustandes deutlich ergeben. Der Kriegsminister will die Quelle eines Telegramms kennen lernen, er requirirt einfach ein untergeordnetes Organ, und dieses, Herr v. Tausch nämlich, findet, einem Sentiment entsprechend, den Herrn v. Köller als den Urheber einer in Anbetracht seiner Stellung als Minister schändlichen IndiScretion. Hätte der Vertreter deS KriegSministcrs, anstatt mit Leuten wie v. Tausck und v. Lützow zu verkehren, einen hochgestellten, angesehenen Beamten um seine Dienste ersucht und hätte dieser daS Weitere zu veranlassen gehabt, so würde selbst ein v. Tausch wahrscheinlich, höchstwahrscheinlich, Herrn v. Köller gar nicht „entdeckt" haben, und wenn doch, so wäre seine Entdeckung so sorglich nachgeprüft worden, daß der Kriegsminister keinen Augenblick in die Lage gekommen wäre, seinen Ministercvllegen einer schmählichen Handlung für überführt zu halten. Hier handelt eS sich um rein politische Angelegenheiten, zu deren Einleitung und Ueberwachung ein hoher politischer Beamter ohne Zweifel geeigneter ist als ein Angehöriger des Kriegs- Ministeriums. Aber auch wegen anderer Dinge, wo die noth- wendige Kenntniß technischer Einzelheiten bei dem an einer Aus kundschaftung zunächst betheiligten Reffort zu finden ist, wie in Fällen deö Verraths militairischer Geheimnisse beim KriegS- iiiinisterium, ist es keinesfalls nothwendig, daß die betheiligte Behörde von sich auS die Beamten der politischen Polizei zu Dienstleistungen direct heranzieht. Der Leiter der politischen Polizei kann durch ihm beigegebene sachverständige Organe ausreichend informirt sein, und diese Organe können nöthigen Falles auf Grund der Erlaubniß deS Chefs rasche Befehle an die Commissare und Agenten gelangen lasten. Jedenfalls erfordert auch daS Interesse der Landesvertheidigung nicht, daß die verschiedenen Behörden die Angestellten der politischen Polizei herbeiholen, wie man einen Dienstmann von der Gasse inS HauS winkt. Natürlich ist es auch ein Mißstand, daß andere Behörden als die vorgesetzte an solche Beamte Geldzuwendungen, seien es feste Beträge, seien eS Remunera tionen, macht. Der Punct der Moral. Der Leiter einer politischen Polizei wird so wenig wie die Polizei überhaupt zur Er reichung seiner amtlichen Zwecke die Verwendung von Per sonen und die Anwendung von Mitteln verbieten und ver hindern können, die im bürgerlichen Leben keine Achtung bezw. keine Billigung verdienen. Aber wenn er selbst doch gestellt ist, kann er sein Amt heben und infolgedessen zunächst vielen, heute dazu wenig geneigten gut qualificirten Staatsdienern den Eintritt in dasselbe wünschenSwerther machen, und er wird weiter einen Geist in die Verwaltung bringen können, dem der Gebrauch bedenklicher Personen und Mittel als ein trauriger Nothbehelf erscheint, während er heutzutage — der Proceß Tausch hat das zur Genüge dargethan — vielfach als eine fröhliche Uebung gilt. v. Tausch hat an den Streichen deS Normann-Schumann und deS v. Lützow offenbar seinen Spaß gehabt, und er selbst ist von Vorgesetzten — obwohl er sie z. B. nachgewiesener Maßen belogen hatte! — mit einer Toleranz beurtheilt worden, die ein normal denkender und empfindender Mensch nie und nimmermehr als ein unent behrliches Requisit der geheimen Polizei anerkennen wird. Deutsches Reich. Berlin, 9. Juni. Die Deutsche Colonialgesell schaft, deren Mitglieberzahl vor Kurzem daS 20. Tausend überschritten hat, hält Ende der Woche ihre ordentliche Haupt versammlung ab, und zwar in München. Der Ort ist ja schon im vorigen Jahre dafür vorgeschlagen und von der Generalversammlung schon bestimmt worden. Damals konnte kaum vorhergesehen werden, ob etwa und welche Fragen be handelt werden sollten, die zugleich „trennende" Fragen für die der Colonialpolitik freundlich gesinnten Parteien sind. Nun trifft eS sich, daß die unter Mitwirkung, um nicht zu sagen, auf Veranlassung deS CentrumS betriebene Ablehnung von Schiffsneubauten im Mittelpunct der Verhandlungen deS Münchener „Tages" stehen soll. Die Abtheilung Berlin der Colonialgesellschaft beantragt, daß die schon zu Beginn deS vorigen Jahres einmal beschlossene Agitation im Sinne einer fortschreitenden Erstarkung unserer Seewehr thatkräftig, einheitlich und in Gemeinschaft mit „verwandten" Körper schaften ausgenommen werde. Ueber diesen Antrag hat in zwischen auch der Ausschuß der Gesellschaft, das eigentliche leitende Organ derselben, sich schlüssig gemacht; er wird den Antrag Berlin durchaus unterstützen. Dann ist zuletzt von der Abtheilung Coblenz noch ein Antrag v. Kusserow gestellt, der in der Sache auf dasselbe Ziel hinstrebt, aber zur Sache selbst auf die Bedürfnißfrage, wie betreffs der Agitation auf den Weg und die Mittel derselben etwas näher eingeht und auch einen „Flottenagitativnsfonds der Deutschen Colonial gesellschaft" verlangt, um diese Belehrung und Werbung nachhaltig betreiben zu können. Der eine von den beiden Anträgen bat sicher auf eine große Mehrheit der in München auS allen Theilen deS Reiches sich versammelnden Colonial politiker zu rechnen und wird auch in der Stadt München selbst bei einem großen Theil der dortigen Bevölkerung leb haften Anklang finden —, freilich auch ebenso scharf den Gegensatz zum anderen Theile der Bevölkerung hervor kehren; und doch sind angesehene parlamentarische Vertreter dieses anderen TheileS ebenso angesehene Förderer der colonialen Sache. Wir nennen in erster Linie den Namen des Prinzen von Arenberg, der einer der vier Stell vertreter deS Präsidenten ist, aber auch Cahensly, v. Grand-Ry, Freiherr v. Heereman, Freiherr v. Huene und vr. Porsch sitzen mit im Hauptvorstand der Gesellschaft, der Welfe Freiherr v. Hodenberg ist zufolge eines einmaligen großen Beitrages ständiges Mitglied der Gesellschaft u. s. w. Man darf mit Spannung erwarten, wie diese „Floltenfrage" im Schooße der Gesellschaft behandelt wird, ohne daß das Ergebniß einem Dcsaveu für die an der Ablehnung der beiden Kreuzer betheiligten Mitglieder so ähnlich geräth wie ein Ei dem andern. Dennoch wäre es auS manchen nahe liegenden Gründen dringlich zu wünschen, daß daS praktische Weiterarbeiten in der Gesellschaft gerade jetzt nicht gestört würde. Nachdem vor Kurzem der Reichstag das Aus wanderergesetz erledigt und der Bundesrath seine Zu stimmung gegeben hat, steht die Gesellschaft vor der ungemein wichtigen Frage der Einrichtung jener Auskunftei in AuSwandersachen, zu deren Einrichtung das Reich selbst und die Colonialverwaltung deS Reiches nicht gedrängt werden durste. Soll eS aber eine private Stelle sein, von der die Auskunftei begründet und demnächst betrieben wird, so kann dies lediglich durch die Colonialgesellschaft geschehen, und in München wird man wohl erfahren, daß eine und die andere Vorbereitung hierzu schon getroffen ist. Gerade für die Zwecke einer solchen Auskunftei sind aber die Verbindungen von großem Werthe, welche durch Sachverständige, wie den Prinzen von Arenberg, Herrn Cahensly u. s. w. vermittelt werden können. Im Uebrigen dürfte darauf zu verweisen sein, daß alle anderen Völker, alt und jung, es unbedingt ablehnen, die Streitfragen der Parteien in ihre Colonial vereine oder -Clubs als „trennende" Fragen hinüberwirken zu lassen, wenn es auch unvermeidlich ist, dann und wann die Gesellschaft als solche zu bestimmten Fragen dieser Art Stellung nehmen zu lassen. — Sodann bringt die Münchener Tagfahrt neben vielen Angelegenheiten der praktischen Colonisation (Cultivation von Ostafrika, Eisenbahnen daselbst, Frauenfrage in Südwestafrika rc.) auch einige Fragen der Verfassung der Gesellschaft selbst aufs Tapet. Die Abtheilung Berlin will in der Centralleitung eine mechanische Ver tretung der Abtheilungen rc. durch je einen Vertreter für volle 100 Mitglieder; kleinere Vereine sollen berechtigt sein, sich zu diesem Zweck zu verbinden, um einen Vertreter entsenden zu können. DaS Bedürfniß einer solchen Statuten änderung ist aber so wenig abzusehen, wie die Möglichkeit einer Bildung von Zweckverbänden lediglich zum Zwecke der Vertretung im Hauptvorstand. Hingegen wird wohl mit Rücksicht auf den Präsidenten, den gegenwärtigen Regenten von Mecklenburg, für nothwendig erkannt werden, die Ein richtung eines Vicepräsidenten im Statut zu schaffen. Ein dahin gehender Antrag Schwerin ist gewiß im Einver nehmen mit dem Herzog Johann Albrecht selbst gestellt und ist der einstimmigen Annahme sicher. Berlin, 9. Juni. (Telegramm.) Der Kaiser und die Kaiserin unternahmen gestern Nachmittag 3 Uhr eine Segelfahrt, zu welcher Einladungen erhalten hatten die CapitainS zur See Fischel, Iaeschke und Büllers und die CorvettencapitainS von der Groeben und Truppel. Später wohnten die Majestäten dem Blumencorso in der Russischen Colonie bei. Heute Vormittag hörte der Kaiser die Vorträge des Chefs des Civilcabinets und des Präsidenten deS evan gelischen Oberkirchenraths vr. Barkhausen. — Herr v. Tausch, dem als k. bayerischem Premier lieutenant a. D. vor einigen Jahren erst das Recht zum Tragen der Uniform verliehen wurde, wird sich nun auch vor einem bayerischen Osficiers-Ehrengerichte zu ver antworten haben. Hierin liegt jedoch nach der „Augsb. Ab." nichts Auffallendes, da nach einer alten Vorschrift jeder active und inactive Officier, dem vaS Tragen der Uniform zusteht und der auS irgend einem Anlasse vor daS Criminal- Forum gestellt wurde, nach Beendigung des betreffenven Verfahrens auch noch der ehrengerichtlichen Procedur unter zogen wird. Da die bayerischen Officiere des inactiven und Beurlaubtenstandes, welche im rechtsrheinischen Preußen ibren Aufenthalt haben, dienstlich zum BezirkScommando Hof ressortiren, wird also wahrscheinlich dieses mit der Sache sich zu befassen haben. — Wie Professor Bornhak und vor ihm das „Militair- Wochenblatt" so hat sich neuerlich auch Oberregierungsratb v. Massow für die Verwendung der Unterofsiciere als Volksschullehrer ausgesprochen. — Eine mildere Praxis ist in Sachen der Ausweisung russischer Untert Hanen auS Berlin in letzter Zeit ein getreten. Vielen der AuSgewiesenen wurde die Ausentbalts- erlaubniß auf ein halbes Jahr verlängert und ihnen, bei guter, einwandsfreier Führung, eine weitere Verlängerung in Aussicht gestellt. — Die Erhöhung und Regelung deS Diensteinkommens der Geistlichen in Preußen wird, wie der „Hambg. Der Nester des Diebstahls. Skizze von Jean Richepin. AuS dem Französischen von Fritz Jäger. Nachdruck verdotrn. In ihrem Schlafzimmer, halbverdeckt durch die offen stehende Tbür, die Füße auf einem Polsterschemel, die Finger an ihrem Strickzeug, die Augen von Zeit zu Zeit auf daS Fenster gerichtet, wo ein Vogelkäfig hängt, überwacht Madame Pßne, ohne daß es den Anschein hätte, mit einem Seitenblick die im Nebenraum sitzende Näherin, die „große Julie", welche nun schon seit 15 Jahren jeden Donnerstag zu ihr kommt, um die Flickarbeiten zu besorgen. DaS, waS sie bemerkt, ist nicht die Frau, sondern ihr Bild im Spiegel, der Reflex ihrer langen, am Herzen wie ein hartes Nähkissen mit Nadeln gespickten Büste, die flinke Be wegung ihrer Finger, welche hier und da einen leichten harten Schlag deS Fingerhuts auf die Rücklehne deS vor ihr stehenden Stuhle« scandirt, auf dessen Querleisten sie ihre Füße stützt. Wenn Madame Pßne die Näherin auf diese Weise über wacht, so ist eS nicht auS Mißtrauen: Julie verliert nie ihre Zeit. Aber wenn man alt ist und allein mit seinen Ge danken, so ist jede kleine Zerstreuung gut. Man kann ja auch nicht immer die Maschen seines StrickstrumPf» zählen oder den kleinen Aeisigen zulächeln, die dort im Kafia umher flattern, an dem Stückchen Zucker picken, sich den Schnabel wetzen und sich da« Gefieder zerzausend mit närrischen kleinen Purzelbäumen in der niedlichen Zinkwanne ihr Bad nehmen. Zuweilen ließ sich Madame in ihren Lehnstuhl zurück sinken, und gestützten Hauptes durchlebte sie ihre Erinnerungen, — viel Freud, viel Leid — abgöttisch geliebte Kinder, die sie, groß geworden, verlassen haben, weil da» Leben e« so will. Ein verheiratheter Sohn lebte in Kairo. Eine Tochter be wohnte ein kleine« Städtchen tief in der Bretagne. Man sah sich selten. Und sie wurde älter, jeden Tag ein wenig müder, jeden Tag rin wenig resignirtrr, und die unerbittliche Asche der Vergessenheit fiel auf ihre Augen und auf ibre Seele. Nur ihr alte« Herz verhärtrte sich nicht; sie blieb gut und hilfreich, und gar oft öffnete sich ihr schmale«, ab genutztes Maroquin-Portemonnaie .... Ihr Portemonnaie sie bemerkte es soeben auf dem Buffet. Wie hatte sie, so ordnungsliebend sonst, eS nur an diesem Platze, im Bereiche der großen Julie, liegen lassen können! Oh, guter Gott! Nicht etwa, daß die Versuchung groß gewesen wäre! DaS, WaS daS alte Ledertäschchen ent hielt, sie wußte es beinahe auf einen Sou: ein Zehnfrank stück in Gold, ein Zweifrankstück, sechs SouS in Scheide münze und außerdem einen durchlöcherten Frank. Durch löcherte Geldstücke bringen Glück. Sie hatte Lust, sich zu erheben. Ohne sich etwas merken zu lassen, indem sie mit Julie sprach, eine Ausbesserung be mängelte, oder sie wegen einer Naht lobte, würde sie ganz unauffällig daS Portemonnaie an sich nehmen, und die Näherin, die eS kaum beachten dürfte, würde sich daran nicht stoßen, denn Madame Pßne fürchtete nicht« so sehr, al« den Leuten wehe zu thun. Sie hatte immer kleine, zarte Rücksichten für sie, zumeist verloren allerdings, deren sie sich jedoch, in Ermangelung der Anderen, wenigstens selbst Dank wußte. Aber warum scheint denn nur die große Julie so unruhig? Sind Gedanken mittheilsam? Warum betrachtet sie daS Portemonnaie? Warum richtet sie einen forschenden Blick nach der Kammer, wo Madame Pßne bewegungslos in ihrem großen Lehnstuhl ruht? Julie befindet sich nicht Wohl, daS ist leicht ersichtlich; sie bleibt einen langen Augenblick über ihre Arbeit gebeugt, als bedrücke sie etwas, dann erbebt sie daS Haupt wieder, stößt einen schweren Seufzer auS und blickt nach dem Buffet. Madame Pßne erfaßt den Ausdruck dieses Blicke«: Zwei große, von einem düsteren Feuer verzehrte Augen und in ihrem ganzen Gesichte etwa«, daS sie an ihr nicht kennt, nie an ihr gesehen bat. DaS Herz Madame Pßne'« fängt an, schrecklich zu klopfen. Sie hat den bösen Wunsch geahnt, den unwider stehlichen Lockruf der schlechten That. Sie denkt an jene Magd, die ihre Herrin erwürgt hat, um sich in den Besitz de« kleinen Schatzes zu setzen, den diese in ihrem Schranke verborgen hielt. Sie erinnert sich an die Artikel ihre« Journals von schauerlichen Blutthaten, von kreischenden Schlössern, schleichenden Schritten auf den Dielen, und einem fürchterlichen Antlitz, da« sich unter drohendem Meffrrschwingen über sein Opfer beugt, indem r« murmelt: „Keinen Laut, oder Du bist «ine Leiche!" Die große Julie — oder vielmehr ihr Spiegelbild — hält sich steif und unbeweglich, wie hypnotisirt; sie hat sich erhoben, sie blickt um sich. „Meine Gott!" sagte sich Madame Pßne, „wenn eS wäre, um nach der Uhr zu sehen? . . . . Vielleicht will sie wissen, welche Zeit eS ist?" Eine wohlwollende, großmüthige, aber alberne Hoff nung. Die große Julie streckt, geräuschlos vorwärts gleitend, die Hand auS, berührt das Portemonnaie, zieht sie zurück und wendet sich gegen die offene Thür. Sie bat Furcht, überrascht zu werden. Sie nähert sich mit leisen Schritten. Madame Pßne, deren Blut erstarrt bei dem Gedanken an die große Scheere, welche am Kleide der Näherin nieder hängt, stellt sich scklafend. Sie zwingt sich, regelmäßig und ruhig zu athmen, aber der harte, lauernde Blick, den sie auf ihrem Antlitze ruhen fühlt, reizt ihr die Haut, verletzt sie, beängstigt sie, al« kröche ein giftiges Insect über ihre Stirn und über ihre Wangen. Ein leichtes Knarren de« ParquetS; Julie entfernt sich beruhigt; ein klappernde- Geräusch, eS ist der Fingerhut, die Nadelbüchse, welche fallen, begleitet von dem weichen Rauschen deS weißen Stoffe«, mit dessen Ausbesserung sie beschäftigt war. Von Neuem schleicht sie heran, und wieder ruht ihr miß trauischer Blick halb ängstlich auf dem Antlitze der Madame Pßne, die in tiefen Schlaf versinkt. Entschlossen kehrt Julie nun in da« Nebenzimmer zurück. Sie kehrt zurück, und ihr Reflex erstarrt im Spiegel. Sie öffnet da« Portemonnaie, durckwÜhlt e«, nimmt da« Gold stück heraus, zögert, überlegt dann, daß der Verdacht auf sie fallen würde, daß e« besser ist, wenn Madame Pßne ihr Portemonnaie verloren glaubt, und vergräbt e« mit einer hastigen Bewegung in der Tiefe ihrer Tasche. Schon hat sie sich wieder niedergrsetzt, ihre Arbeit wieder ausgenommen und Madame Pßne, die zwischen ihren halb geschlossenen Wimpern Alle« gesehen, Alle« belauscht, möchte fast glauben, daß sie geträumt hat, wenn nicht da« starre, düstere Bild der großen Julie jetzt eine dumpfe Erregung verrathen würde, eine Art grausamer Gewissensbisse de« vollbrachten Diebstahl«. Madame Pßne fühlt einen großen Kummer. Wem noch trauen? Diese Person, die so ehrlich schien, so rechtschaffen, deren Moralität man ibr verbürgt hatte! Sie kennt sie seit Jahren, sie würde ihr ihr Leben anvertraut haben; sie er innerte sich eines Winter«, wo sie sehr krank gewesen: ackt Tage lang, mit einer freiwilligen Aufopferung, hatte die große Julie sie gepflegt, hatte die Nächte durchwacht, ans einem Stuhle geschlafen. Und nun stieg sie durch einen un verantwortlichen Fehltritt hinab in die Reihen Jener, die m, Schellen an den Händen zwischen zwei Gensdarmen in den düsteren Gängen des Iustizpalastes einhergehen! Und die würdige Frau erhebt ihre Augen und betet für die Diebin. Ja, da«, was die große Julie soeben getban, ist schlecht, sehr schlecht! Aber sie möge cs bereuen, möge n>- mehr in Versuchung kommen, nicht wiederum beginnen, d. GewissenSqualen mögen sie peinigen und erschrecken, und um diesen Preis will Madame Pßne gern daS alte Portemonnaie opfern, obwohl sie sehr daran hing, und den Inbalt dazu, obwohl diese« Geld — bei ihren mehr als knappen Verhält nissen — ein wahrer Verlust für sie ist. . Aber was geht denn setzt wieder vor? Die große Julie scheint zu ersticken. Oh, wie schmerz erfüllt ihr Bild ist! Da« Blut ist ihr in den Kopf gestiegen und ihr ganzer, einem langen Futteral ähnlicher Körper ist von einen, krampfhaften Beben erfaßt. Sie richtet sich auf, sie zieht da« Portemonnaie aus ihrer Tasche und wirft eS, als wäre es glühendes Eisen, auf daS Buffet. E« ist vollbracht, daS Gute bat gesiegt, daS Böse ist unterlegen. Madame Pßne kann aus ihrem schweren Traum erwachen. Welche Erleichterung! Aber auch welche Besorgniß für die Zukunft! Bah! Jeder Sünde ihre Verzeihung! Derjenige, der soeben ihr demütbigeS Gebet erhört bat, wirb Vie große Julie nicht wieder in Versuchung fallen lassen. Und Madame Pßne klagt sich selbst an. Auch ihre Schuld ist eS. Sie hätte nicht so nachlässig sein sollen. Sie erhebt sich und geht inS Nebenzimmer. Alle« ist an seinem Platze. Die Näherin arbeitet mit einer förmlichen Erbitterung, ihre spitzen Finger gehen hin und her, und Madame Pßne thut, als bemerke sie die zwei großen Tbränen nicht, die in den Augen deS armen rcumütbigen Mädchen« perlen und, langsam hinabrollend, auf ihre Brust fallen, die, wie ein Nähkissen mit Nadeln gespickt, gleichsam ein Symbol der Stacheln ihrer Gewiffen-bisse darstellt.
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