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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.06.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-06-16
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970616011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897061601
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897061601
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-06
- Tag1897-06-16
- Monat1897-06
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301 Die Morgen-AuSgabe erscheint um '/,? Uhr. die Abend-Au-gabe Wochentags um 5 Uhr. Redaction »nd Expedition: JohanneSgaffe 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: vtt» Klemm'« Sorlim. (Alfred Hahn), Universitätsstraße 3 (Paulinum), LauiS Lösche, Katharinenstr. 14, part. und König-Platz 7. Bezugs-Preis I» d« Hauptexpedition oder den im Stadt bezirk und den Vororten errichteten Aus gabestellen abgeholt: vierteljährlich^l4.5O, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Haus .41 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteliährlich 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandiendung ins Ausland: monatlich 7.50. Morgen-Ausgabe. UciMM TagMaü Anzeigeu-PreiS die 6 gespaltene Petitzelie 20 Pfg. Reclamen unter dem Redactionsstrich (4gc» spalten) 50^, vor den Familiennachrichtea (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Zisjernsatz nach höherem Tarif. 0xtra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-AuSgab«, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbeförderung ./l 70.—. Anzeiger. Amtsblatt des Aömglichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Mathes und Molizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Mittwoch den 16. Juni 1897. Annahmeschlnß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. S1. Jahrgang. Proc. 1816 1837 1865 1895 1891 1890 1888 459 345 701 258 12015 11827 3,9 5,2 Bäuerliche Z-Hl 25,0 28,6 Dienend c 424913 374697 598012 604113 2189 1270 164570 191122 135240 168116 35.7 45.7 55,9 41,6 2 , 1882 18986494 1324924 24910695 45222113 Zusammen .... Iggh 22913691 1339318 27517275 51770284 Procentualer Antheil der Landwirthschaft 1) unter der erwerbsthätigen Bevölkerung: Umfang in Morgen Millionen Erwerbstätige 8236496 8292692 7966783 10619738 397582 432491 1031147 1426169 1354486 2142601 ganzen . 1882 . 1881 . 1880 . 1870 . 1880 . 1876 . 1870 zwiefache RillergUIer Zahl 538523 453046 1027265 1217931 756496 1016145 Umfang in Morgen Millionen 34,4 35.7 32.7 1880 47,3 „ Bevölkerung: 42,5 Proc. 48,8 - 60.7 - 42,5 - 45.2 - 55.2 - 54.8 - Berechnungsform (8uk> 1 und 2) statistischen Materials erforderlich, .rgleichung mit thunlichst geringen Zglichen. Die Ziffern schließen sich im Berechnungen des Kaiserlich Srannsähige Baucrngllier Zahl 351 607 353 454 349 836 Landwirthschaft . . Industrie, Handel,) 1882 Verkehr f 1895 Häusliche Dienste . Oesfentliche Beamte,) 1882 freie Berufe / 1895 Ohne Berufsangabe . Vereinigte Staaten . 2) unter der Deutsches Reich Frankreich . Oesterreich . Schweiz. . Dänemark . Norwegen . Schweden . Vorstehende war nach der Natur des um die internationale Vergleichung mit thunlichst geringen Fehlern zu ermöglichen. Die Ziffern schließen sich im Wesentlichen den Berechnungen des Kaiserlichen Statistischen Amtes an. Die hier vergleichsweise gegenüber gestellten Ziffern der Landwirthschaft und der Industrie bedürfen kaum einer näheren Erläuterung; sie sprechen für sich. Der starke Rückgang des procentualen AntheileS der Landwirth- schast von 46,7 Proc. im Jahre 1882 auf 39,9 Proc. im Jahre 1895 ist bedenklich. Im Gegensatz hierzu kommt Professor Sch moller zu dem Ergebniß, daß auf Grund der Berufszählung von 1895 die landwirthschaftlichen Betriebe von 100—10 000 du zwar abgenommen, dagegen die Betriebe von 5—100 km, die den wirklichen Bauernstand repräsentiren dürften, zuge- nommcn hätten. Allzu großen Befürchtungen um die Existenz des Bauernstandes brauche man sich daher nicht hinzugeben. Hinsichtlich des Handwerks sei zu unterscheiden zwischen den jenigen Zweigen, die gegenüber der Großindustrie bereits im Todeskampf lägen (Schuhmacherei, Tischlerei rc.) und solchen Zweigen, die sich nicht nur hielten, sondern mit steigender Bevölkerungsziffer aufwärts entwickelten (wie Bäcker, Metzger, Kaminkehrer u. A.). UeberdieS zeige die ganze Bewegung Tendenzen, die auf Neubildung des Mittelstandes hinauS- liefen. Professor Schmoller belegte seine Auffassung mit folgenden, zum Theil noch nicht publicirten statistischen Zahlen: 1) Vertheilung des Gr u n d e i g e n t h u m s in Alt preußen (ohne Rheinprovinz und Reg.-Bez. Stralsund). Kleinstellen Umfang in Morgen Millionen Zur Locialftatiftik. Wie wir bereits hervorgehoben haben, waren die wichtigsten der Vorträge, die jüngst auf dem 8. evangelisch- socialen Congresse gehalten wurden, die der Herren vr. Oldenberg über „Deutschland als Industriestaat" und vr. Schmoller über „WaS verstehen wir unter dem Mittel stand? Hat er im 19. Jahrhundert zu- oder ab genommen"? Beide Vorträge werden zweifellos, sobald sie im Druck vorliegen, nicht nur die Presse lebhaft beschäftigen, sondern auch den politischen Parteien neue Waffen im nimmer ruhenden Kampfe liefern. Aus dem Oldenberg'schen Vortrage werden voraussichtlich die bochconservativen Agrarier und die Blätter von der Richtung der „Kreuzztg." und der „Deutschen Tageszeitung" ihr Arsenal verstärken, während die Rede Schmollers die Gegner jener extremen Richtung befriedigen und mit neuen Argumenten für ihren Standpunct versehen wird. Auf die „Klange auS zwei verschiedenen Welten", die trotz ihrer Unvereinbarkeit mit gleicherBestimmtheit und mit gleich entschiedenerBerufung auf ein reiches Zahlenmaterial den Congreßtheilnehmern zu Gehör gebracht wurden, schon heute näher einzugehen, verbietet der Mangel an ausführlichen Berichten; dagegen dürfte eS sich empfehlen, schon jetzt von dem Zahlenmateriale Kenntniß zu nehmen, daS die beiden Herren ihren Ausführungen zu Grunde legten, einem Materiale von mehr als gewöhnlichem Interesse, daS die Tagesbericht erstattung aus leicht begreiflichen Gründen nur flüchtig streifen konnte. Und doch bietet eS für Diejenigen, die solche Zahlen zu lesen verstehen, eine Fülle von Anregung zu vergleichender Kritik. Herr vr. Oldenberg, dessen Ausführungen in dem Satze gipfelten: „Deutschland müsse eine Wirtschaftspolitik der Selbstgenügsamkeit treiben und aus die breitspurige Welthandelspolitik verzichten; eS dürfe seine wirthschastliche Zukunft und seine nationale Existenz nicht auf den Flugsand ces internationalen Austausches bauet., sondern auf den festen Grund und Boden, über den eS selbst verfügt", hatte seinem Vortrage folgende Zahlen untergelegt: Brrufsstatistik des deutschen Reiches. Angehörig« Zusammen 10564046 19225455 9833918 18501307 12l»24365 20589160 14996235 26220086 938294 886807 2222982 2835222 2246222 3326862 Deutsches Reich . 1892 46,7 Proc., 1895 39,9 Proc. Frankreich . . . . 1881 46,3 „ 1891 44,8 England . . . . 1881 14,0 „ 1891 10,4 Schottland. . . . 1881 18,8 „ 1891 14,1 ,, Irland . . . . 1881 48,8 „ 1891 36,7 Schweiz. . . . . 1870 45,9 „ 1888 44,0 Italien.... . 1871 62,6 „ 1881 59,0 E/ Ungarn.... . 1880 67,2 „ 2) Berechnung der Gewerbetreibenden Berlins und ihrer Gehilfen für 1730—1890 von vr. Wied- feld t (noch nicht publicirt). Selbständige Gewerbetreibende Abhängige (Gehilfen, Arbeiter) Selbständig beschäftigte Abhängige 1730 3 748 4 382 1,166 1786 13 321 13 546 1,017 1801 11093 30294 2,731 1810 19 033 11 763 0,618 1846 27125 50933 1,880 1861 39 674 89 428 2,254 1871 58291 155 900 2,675 1890 92 012 309 987 3,369. 3) Handwerksmeister in Altpreußen und im Umfang des heutigen deutschen Reiches: Preußen Deutschland 1816 ... 258 830 ca. 516000 1861 . . . 534 556 ca. 1068000 Die Zahlen für daS Gebiet deS deutschen Reiches sind hierbei nur Schätzung, in der Weise berechnet, daß Altpreußen in seinem Umfange vor 1866 etwa die Hälfte des jetzigen Reiches ausmachte. 4) Verbältnißzahlen über Meister, Gesellen und Lehrlinge in Altpreußen 1816—1861. Es kamen auf 1000 Einwohner: Meister und GehUien Meister allein Gesellen und Lehrlinge Aus je 100 Meister kamen Gesellen 1816 . . 38,8 24,9 13,9 56.19 1834 . 42,1 26,8 15,9 60,48 1846 . 52,0 28,3 23,8 84,13 1861 . 59,1 28,9 30,2 104,44 1858 kamen in Preußen auf 48 Stadt- 52 Landmeister. Auf 100 Landmeiftcr kamen 1828 26, 1858 72 Gehilfen. 5) Beweise für die Verbreitung der Verbindung von kleinbäuerlichen und kleingewerblichen Betrieben. Nach der deutschen Berufszählung von 1882 kamen 18.9 Millionen Fälle deS Hauptberufs auf 4,2 Millionen des Nebenberufs. Nach ter deutschen Berufszählung von 1895 kamen 22.9 Millionen Fälle des Hauptberufs auf 4,9 Millionen deS Nebenberufs. In den 60iger Jahren kamen nach Rümelin in Württem berg auf etwa 300 000 Grundeigenthümer ca. 117 000 reine Bauern, ca. 33 000 solche, bei denen die Landwirthschaft die Haupt-, daS Handwerk die Nebensache war, ca. 33 000 solche, bei denen beide Beschäftigungen sich die Waage hielten, circa 36 000 Tagelöhner mit landwirthscbaftlichem Betrieb und 78 000 Grundeigenthümer, die nicht Landwirthe waren. Im Kreise Weimar hatten in den 60er Jahren 17 329 Familien Grundeigruthum, davon waren 3577 rein bäuerliche, 11 752 solche mit einem Nebenbetriebe. Betriebe 41 666 -t- Aus jc 10ÜV Seelen temmen Meist«r 52.8 24,2 10,3 849 037 849 432 1613 217 68,8 45,3 34,6 13,5 954 662 894 221 1 362 333 der im 1895 1 361 284 60 555 1858 1088 115 .610 121 391 502 1011623 1882 1 165 675 898 688 292 152 besonderen .Handwerkerenquete des Neichsamtes 1895. -s- oder — s- 126117 z- 18 889 unter 4 Morgen „ 4-10 „ „ 40—400 „ 4-400 „ c 8) Sociale Berufsgliederung 25,8 28,6 31,3 21,1 12,0 3,2 1882 1895 7) Sociale s chaftlick in den Städten über 100 000 Seelen 13,4 - - - von 20—100000 - 27,9 - - - - 10— 20000 - 27,4 in Zählbezirken mir Über 200 Seelen pro Quadratkilometer 27,0 - 150-200 - - - 28,5 - 100—150 - 50—100 - 25— 50 unter 25 a. cck 32,6 55,3 41,0 Selbstständige (Betriebsleiters 2 201 146---34,4° , 2 061870--- 24.9°, Abdilngige (Arbeiter, Gcbilfen 4 195 319---65,6°, 6 219 360---75,1°, 105 625 44 789 250 884 Gewerbe, im Bergbau und in der Industrie thätigen Be völkerung in Deutschland 1882 und 1895. Ueberbaupt «billige Personen 6 396 465--100 8 281 230--100 . , . . Der Rückgang der kleinen Betriebe und die Zunahme der Arbeiter sind augenfällig. 9) Hand Werker za hl im Gebiete des heutigen deutschen Reiches. Zahld.Meister Bevölkerung Aus WiX) Seelen kamen 1816 V, Mill. 27,8 MiU. 24,9 Meister 38,8 Meister u.Gebilscn 1861 1 - 37,7 - 28,9 - 59,1 - - 1895 1,3 - 52,2 - 26,7 - 56,9 - - In den letzten beiden Ziffern der rückgängigen Meister und Meister und Gehilfen in 1895 drückt sich bereits der TodeSkampf gewisser Handwerksgebiete aus. 10) DaSVorkommen der Handwerker nach der besonderen .Handwerkerenquete des statistischen 6) Bodenvertheilung im Gebiete des altpreußifchen Staates 1849—82. 1849 871 990 520 499 370190 890 689 (1 üa) (1—10 da) (10—100 ü< (1—100 tm) 1190 840 Berufsgliederung der landwirtb- thätigen Bevölkerung des ganzen preußischen Staates nach den Berufszählungen von 1882 und 1895. Selbstständige Betriebsleiter 1 235 167 Verwaltungs-Aufsichtsperson. Familienangehörige in der Wirthschaft des Haushaltung^ Vorstandes thätig . . . Landw. Knechte n. Mägde u. Landw. Tagelöhner . Meist" HilsS- unrHusi- kerscne» rcrsoi.cn zusammca 46,0 83,2 68,4 Güter unter 5 Morgen „ über 5— 30 „ „ „ 30-300 „ Charlotte Wolter. Von Tamillo Heyden. Nachdruck »erboten. In einer Loge des Wiener Karl-TheaterS saß der Burg- theater-Director, der grimmige Heinrich Laube, um dem Gastspiel deS gefeierten Berliner Tragöden Hendrichs beizu wohnen. Er war durch und durch ein Practicus, und da Hendrichs ihm für seine „Burg" nicht erreichbar war, so blickte er nur mit mäßigem Interesse auf die Bühne. Plötzlich ging es wie ein Schlag durch den kleinen Mann, und gespannt richteten sich seine Augen nach der Scene, richteten sich auf eine boye schöne Frauengestalt, die Vertreterin einer tlcinen Rolle, die ziemlich gleichgiltig, fast träge und schleppend ihre wenig bedeutungsvollen Worte vortrug. Die Logen gefährten neckten den Director; er war wegen seiner „Talentriecherei" bekannt, und man fragte ihn, ob ihm der Jnstinct vielleicht auch in dieser langen Choristin ein „Genie" gezeigt habe. „DaS habe er", antwortete Laube mit Nachdruck. DaS hatte e^ wirklich. So wunderbar es tlingt, der Mann hatte herauSgefühlt, daß in diesem Mädchen etwas Geheimes stecke, etwas Geistiges, daS selbst durch diese matte Rolle hindurchschimmerte; ihm hatte eS der Blick ver- rathen, der verhaltenen Feuers voll zuweilen leidenschaftlich aufleuchtete, und die Stimme, durch deren gleichgiltlgen Ton fall doch der Saitenklang einer reichen Empfindung hindurch zitterte. Diese Choristin war Charlotte Wolter. Laube hatte sie in einem Augenblicke gefunden, wo die Wellen deS Lebens selbst dieses tapfere Mädchen zu bewältigen drohten. Hinter ihr lagen Jahre der schwersten Kämpfe, Demüthigungen, Entbehrungen, und da« Ergebniß dieser Jahre war eine untergeordnete, das Leben kümmerlich fristende Anstellung gewesen. Ihr letzter Halt war eine nicht zu erstickende Neber- zengung, daß sie trotz alledem und alledem zu etwas Hohem in der Kunst berusen sei, zu der sie, wie ihr wohlwollende Tirectoren und Collegen versicherten, kein Talent habe. Lange hätte vielleicht auch dieser Halt nicht mehr sich be hauptet, — da fand sie Laube. Sie war eine Kölnerin. In den einfachsten Verhältnissen wuchs sie auf, elf Geschwister theilten mit ihr das Vaterhaus. Zum Theater brachte sie der beste aller Vermittler, der Zufall, ter die Zehnjährige einmal in« Schauspielhaus führte. Da sah daS Kind mit großen leuchtenden Augen Schicksale und Helden über die Bretter schreiten, und seitdem schlich sie sich bei jeder Gelegenbeit ins Theater, um, in einem Winkel zu- samniengekauert, sich über den Vorgängen auf der Bühne im Lauschen und Schauen ganz zu vergessen. Sechs Jahre später war ihr Entschluß gereift: sie schlug den Weg zum Theater ein, der ihr zunächst ein Dornenweg werden sollte. Nach einem kurzen Unterricht bei der Burgschausvielerin Gottdank in Wien trat sie ihr erstes Engagement in Pest an, wo sie am 25. Mai 1857 als Jane Ehre in der rührseligen Waise von Lowood debütirte. Ein wunderliches Ding, diese Debütantin. Schlank und schwank, unfertig, unausgeglichen in ihren Bewegungen, mangelhaft ausgebildet in ihrer Sprache, deren Dialect noch stark an ihre rheinische Heimath erinnerte, hätte sie in der unentwickelten Herbheit ihres Mädchen- thums sicherlich wenig Anziehendes auf der Bühne gehabt, wäre nicht diese merkwürdige verhaltene und nur zuweilen durchbrechende Leidenschaft gewesen, die, wenn sie aufflammte, unwiderstehlich mit sich sortriß, und wäre nicht die spröde, stolze Schönheit gewesen, die ihr Gesicht unvergeßlich machte. So kam es, daß sie. Alles in Allem genommen, doch gefiel, und ihre zweite Rolle, die Deborah, verstärkte den günstigen Eindruck. Da geschah das Ereigniß, das sie ganz aus der Bahn warf: der Direktor stellte seine Zahlungen ein, die Mitglieder des TkeaterS waren stellenlos, mittellos, hilflos. Und nun begann die Zeit der Schmiere. Mit einer fahrenden Truppe durchwanderte Charlotte Ungarn, um vor Bauern und Kleinstädtern öde Späße zu reißen oder ihnen die dramatische Poesie nach ihrem Geschmacke vorzuführen. Ihre Habseligkeiten gingen eine nach der anderen weg, ihre Stimmung sank von Bitterkeit und Empörung schließlich bis zur tobten Gleichgültigkeit, und sie mußle e« schließlich mit Dankbarkeit annehmen, als sie an das Wiener Karl-Theater mit 50 fl. MonatSgage für kleine Rollen engagirt und mit der Aufgabe betraut wurde, in den Possen, mit denen Nestroy das Wiener Publicum regalirte, ihren Part zu agiren. Hier im Karl-Theater sah sie, wie bemerkt, Laube. Am liebsten hätte er sie gleich engagirt, denn er traute seinem Instinkte und hoffte, sie heranbilden zu können. Aber so ent gegenkommend sein Chef, der Gras LanckorowSki, im All gemeinen den ihm etwas wunderlichen Einfällen de« Directors war, dagegen legte er doch entschieden Protest ein, baß eine Choristin vom Karl-Theater schlankweg an bie Burg engagirt werde. So mußte sich Laube darauf beschränken, ihr zunächst weiter zu helfen, um sie so „burgtheatersähig" zu machen. Er verschaffte ihr zunächst ein Gastspiel in Brünn, wo Charlotte, von neuer Hoffnung und Kraft belebt, und unaus sprechlich glücklich, statt der Possr-PepiS die Stuart und die Lccouvreur spielen zu können, hinreißend wirkte und Triumphe feierte, die ihr einen sofortigen Antrag an daS Berliner Victoria-Theater eintrugen. Hier schuf sie ihre Hermione, die seither in unserer Theatergeschichte zu einer klassischen Rolle geworden ist. Briefe auS jener Zeit beweisen, wie geradezu überwältigend ihre Schönheit in dieser Rolle wirkte, und daS künstlerische Urtheil prägte sich in der Kritik auS: „DaS ist nicht nur ein Talent, daS ist ein Genie." Damit war ihr Geschick entschieden. Sogleich holte sie der findige Maurice nach Hamburg, und schnell hatte sie sich hier eine glückliche Position geschaffen, al« Laube nun seinerseits die Zeit für gekommen hielt, sie für sich zu reclamiren. Er hatte zwar ihretwegen einige Streitigkeiten mit Maurice, aber er setzte doch seinen Willen durch, und Charlotte trat an der Burg auf. Eine große Enttäuschung. E« gab wohl eine Partei, die die Debütantin enthusiastisch begrüßte, aber sie war nicht in der Mehrheit. Die Mehrheit lehnte Charlotte ab. Mildere Seelen fanden sie recht begabt, aber mäßig. Eine „Tragödin für eine zweite Bühne", wie ein Kritiker sich wohlwollend ausdrückte. Entschiedenere Gemütber sprachen ihr überhaupt das Talent ab. WaS war es nnr, das einen so gemischten Eindruck hervorrief? Es war, kurz gesagt, das Unausgebildete und Unausgeglichene ihres Spiels. Ihre Kraft durch alle Theile einer Rolle gleichmäßig auszugießen, mit ihr hauSzu- halten und sie klug zu steigern, — dessen war sie noch nicht fähig. Vielen Momenten, ganzen Theilen ihrer Rolle stayd sie hilflos gegenüber, andere trug sie mit einer wilden Ge walt der Leidenschaft weit über Menschenmaß hinaus. Das Publicum aber liebt von je das Runde und Fertige, hat von je eine gewisse instinctive Abneigung gegen das Dämonische und freut sich immer über das Nette und Zierliche, daS Charlotte so ganz fremd war. So erklärt sich sein Urtheil. Nun, Laube war zum Glück nicht der Mann, sich danach zu richten. Er wußte, was Charlotte bedeutete, rr engagirte sie und trat unverzüglich mit ihr in die Arbeit ein. Für die damals 28 jährige Schauspielerin begann eine zweite Lehrzeit. Sic galt der Läuterung, Durchbildung, der Ausgleichung. Ist Maß zu halten nach dem Ausspruch des griechischen Weisen stets das Schwerste, wie schwer mußte eS dieser Schauspielerin fallen, die ihrem ganzen Wesen nach zur Eruption, zum Dämonischen neigte. Dadurch aber erwarb sie sich in der deutschen Theatergeschichte eine historische Stellung, dadurch wurde sie zur Vertreterin eines Stiles, daß es ihr in harter Arbeit wirklich gelang, sich zu bezwingen. Charlotte Wolter wurde daS, DaS man von ihr nuno 62 am wenigsten erwartet haben würde: sie wurde klassisch. Classisck — darunter verstehen wir die monumentale Vollendung, deren Gefüge unantastbar erscheint, daS innere Ebenmaß, das sich selbst genug ist und nicht nach dem Erfolge schielt. Durch diese Eigenschaft wurde Charlotte Wolter unter den deutschen Heroinen ihrer Zeit die größte. ES ist nicht leicht, hinter den wechselnden Nollen, die ein Schauspieler darstelll, sein eigene- Antlitz, seine eigene geistige Physiognomie zu erkennen. Bei Charlotte Wolter scheint der tiefste Zug ihrer Eigenart in der plastischen Größe ihrer An schauung zu liegen. Sie kannte keine Klcinmalerei, weder in der Darstellung deS äußeren, noch des Seelenlebens, und sie war dadurch für immer davor behütet, in einen naturalistischen Stil zu verfallen. Sie sah die dramatische Gestalt al- etwas Große« und Ganze«, wenn ich so sagen darf, etwa so, wie man ein Gebirge sieht: leuchtend erscheinen zuerst die höchsten Gipfel und bestimmen unsere Auffassung von der Form, dann erscheinen un« die breiten Massen und die tiefen Thäler, aber in kleine Einzelheiten vermag der Blick, erfüllt von der Größe de« Ganzen, nicht einzudringen. So erfaßte Charlotte zuerst die Höhepunkte der Rollen, die Stellen, m denen sich da« Empfindung«leben der dramatischen Gestalt zum ge waltigsten Au-druck zusammendrängte. Dann spannte sie alle Kräfte an, der flammende Glanz ihre« Auge«, die natürliche Macht ihrer Schönheit und edlen Gestalt, die Größe ihrer Bewegungen und letzten«, aber nicht zuletzt, der tiefe, seelen volle, dämonische Klang ihrer Stimme vereinigten und steigerten sich bis zum größten Augenblicke — dem berühmten Wolterschrei. Auf diese Momente hin legte Charlotte Wolter ihre Charaktere an. So wurden es breite, große, wuchtige Charaktere. Es lag etwas in ihr von Grillparzer'S Medea, die sich vergeblich bemüht, ein zierliches Liedchen zur Laute zu singen. DaS Zierliche lag ihr fern, daS Süße, Spielerische Liebliche war ihr nicht gegeben, ihr wuchsen die Gestalten; selbst wo sie Sanftheit und Milde darstellte, klang der Ton einer nur schlummernden dämonischen Natur durch. In dieser Gemischtbeit der Empfindungen war sie eine echt moderne Schauspielerin. Sie war weit davon entfernt, ihren Gestalten gewissermassen den Zettel eines einzelnen CbarakterzugeS umzuhängen und sie so abzufertigeu. Liebe und Haß, Hingebung und wilde Herrschsucht, milde Klarheit und finstere Gedanken stritten in ihren Gestalten miteinander, und die, in denen dieser Kampf am härtesten tobte, gelangen ihr am vollendetsten, ob sic nun, wie „Fedora" der modernen Zeit angehörten, ob der Vergangenheit, wie Phädra, Sappho, Mcdea, Cleopatra, Lady Macbeth. Seit 1862 gehört sie ununterbrochen dem Burgtheatcr an, daS ihre Lehrzeit und ihre Meisterzeit gesehen hat. Es Hal nicht zu lange gewährt, da war die Stimmung der Wiener in Bezug auf sie völlig umgeschlagen: und als ein mal Beckmann sich den Scherz erlaubte, in einem Couplet statt der Verse „Diese Eine, — diese will er", zu sagen „Diese Eine, — diese Wolter", da bezeugte der Jubel des Publicums, daß man sie in der Thal für die Eine kiel:. Ganz Deutschland hat sich dieser Ansicht aiigefcklossen Wenige Schauspielerinnen sind so mit Ehren und Anszciw nungen aller Art überhäuft worden wie Charlotte Wolter — Gräfin Sullivan, wie sie feit 1874 hieß. Es ist ja im letzten Jahrzehnte zweifellos eine andere Art der Schauspiel kunst in Deutschland erwachsen und mehr und mehr zur Geltung gekommen, eine Kunst des psychologischen Sensiti- viömuS, eine Kunst die auf das Uebermaß der dramatischen Gestalten verzichten und sie zu einer größeren Bescheidenheit zurückführe» will. An der Burg sand diese Kunst in Adele Smndrock ihre Vertreterin, und in dem thcatcreifrigen Wien haben sich sogar Parteien „Hie Wolter! Hie Sandrock!" ge bildet. Der Vergleich ist ganz verkehrt. Nicht allein, daß jede der charakterisieren Darstellungsarten an sich berechtigt ist — Charlotte Wolter, ihrer Größe und ihrem Ruhm konnte und kann eine neue Kunst nie Eintracht thun. Sie ist historiscb, bleibend klassisch. Sie stellt die Epoche dar, in der die deutsche Schauspielkunst dem Geiste Schiller's und Goethe s soweit nachgewachsen war, daß sie einen monumentalen Stil von großen Dimensionen für die klassischen Werke zu bilden vermochte. Will eine andere Zeit diese Gestalten anders sehen, — gut. Was aber die Wolter darstellte, bleibt eines der edelsten und feinsten Erzeugnisse unserer vaterländischen Schauspielkunst, sie hat Ungezählten die großen dramatischen Werke mit einer Größe der Auffassung, mit einer Macht der Form und mit einer Cultur vermittelt, die unter ihren Nach folgerinnen keine besitzt. Und weil in der Kunst wie im Leben Alle« einzig ist, so müssen wir sagen: wir werde» nimmer ihre« Gleichen sehen.
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