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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.07.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-07-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970723027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897072302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897072302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-07
- Tag1897-07-23
- Monat1897-07
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Broßere Schriften laut unserem Preis» vcrzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit d« Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderuim 60.—, mit Postbejörderung 70.—. Ännuhmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgrn-Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr. Vei den Filialen und Annahmestellen je einr halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 371. Freitag den 23. Juli 1897. 91. Jahrgang. Der „Fall Lunkofer". * Professor Bunkofer erläßt folgende schon kurz erwähnte »Erklärung an die Oeffentlichkeit": Besser Aeraerniß Als Vertuschung der Wahrheit. St. Bernhard. Folgend der Stimme deS Gewissens, habe ich einen ent scheidenden Schritt gethan, der mir die Ehrenpflicht auf erlegt, der Oeffentlichkeit, insbesondere aber meinen bisherigen Glaubensgenossen, Rechenschaft zu geben. In einem Schreiben an das hochwürdige erzbischöfliche CapitelSvicariat zu Freiburg habe ich meinen Austritt aus der päpstlichen Kirche angezeigt. Es war die letzte Consequenz einer über ein halbes Menschenalter zurück reichenden schweren Geistes- und Gemüthsarbeit, die mich nöthigte, Stein für Stein abzubrechen von einem Bau, der in der ersten Hälfte meiueS Lebens nach ausschließlich römischen Principien und daber mit ungenügendem Material war aufgeführt worden. Die Unterlassung dieser Arbeit hätte mir ein für Geist und Körper bequemeres und ge sünderes Regime möglich gemacht. Aber die mehr und mehr sich aufdrängende Gewißheit, daß das Fortgehen auf dem Wege der Vergangenheit unter den unvermeidlichen Einwirkungen fortschreitender Erkcnntniß mich förmlich in zwei Personen zerspalten würde, die fick gegenseitig ver neinen; — die mehr und mehr zur klaren Erkenntniß ge langende Thatsache, daß nur die völlige Lossagung vom Neuen Testament und der Geschichte der ersten Jahrhunderte des Christenthums es möglich mache, sich nolhdürstig in die letzte Gestaltung der römisch-kirchlichen Verhältnisse zu finden; — das immer wieder von Neuem aufgenommene Studium der kirchlichen Vorgänge vor, in und nach dem vatikanischen Concil; — die fortgesetzte Erfahrung, wie die vom Baticanismus durchdrungene römische Kirche viel fach auch auf der Kanzel den Geist Jesu Schritt für Schritt zurückdrängt; — wie mit Verkennung der Predigtweise Jesu das Volk, das nach der sauren Arbeit der Woche am Sonntag nach Religion seufzt, mit theologischen, polemischen, kirchenrechtlichen Auseinander setzungen belästigt wird; — die Wahrnehmung, wie dem sich in Alles fügenden, braven katholischen Volk im öffentlichen Gottesdienst mehr und mehr die Herzens- sprache zu seinem Gott abgewöbnt wird und man ihm zumuthet, unverstandene Laute für ver nünftiger zu halten; wie man sogar sich nicht scheut, die ergreifende Feier der Beerdigung, die, wenn irgend etwas, die Rechte des Herzens achten sollte, in fremder, unverständ licher Sprache zu vollziehen; — die Wahrnehmung einer fortwährend wachsenden Veräußerlichung der öffentlichen Andachtsübungen — bis zu dem Grade, daß z. B. in der ehrwürdigen Kreuzwegandachl die kirchlicher- seitS versprochene Gnade (Ablaß) abhängig gemacht wird von einem vorgeschriebenen regelmäßigen Wechsel von Stehen und Knien; — die Wahrnehmung, wie überhaupt der Cultuö des Ablasses Dimensionen annimmt, die einen gebildeten Katho liken empören müssen, weil er nach dem apostolischen GlaubeuSbekenntniß an den allmächtigen Gott, Vater und Schöpfer des Himmels und der Erde glaubt und eine Erlösung in seinem Sohn, und diesem Glauben gegenüber deu Ablaßcult als eine bureaukratische Entartung der Gnadenlehre empfindet, ab gesehen von der darin liegenden Herabwürdigung deS Gottesbegriffes; — die Wahrnehmung, wie diese un würdige Veräußerlichung gerade in der Stadt Nom eine Höhe erreicht hat, daß selbst die frömmsten Besucher des „Mittelpunktes der Christenheit" vor diesem Besuche warnen, um nicht am Glauben Schiffbruch zu leiden, in Urbcreinstimmung mit dem Urtheil des Bischofs Hesele: „Ich lebte viele Jahre in einer schweren Täuschung. Ich glaubte, der katholischen Kirche zu dienen, und diente dem Zerrbild, das der Romanismuö und der Jesuitismus daraus gemacht haben. Erst in Nom wurde mir recht klar, daß das, was man dort treibt und übt, nur mehr Schein und Namen des Cbrisieu- thumS hat, nur die Schale! Der Kern ist entschwunden, Alles total veräußerlicht" —; die Wahrnehmung, wie das Bußsacrament hierarchischem Gelüste zuliebe seinen wesentlichen Charakter allmählich ausgebeu mußte und zu einer nur von einzelnen unselbstständigen oder weichlichen Seelen gewünschten, der übergroßen Mehrheit aber mit Un recht ausgedrungenen DevotlvnSform degradirt ist; ich sage Devotionsform, weil es keine Pflickt giebt, vor jeder Communion zu beichten, wenn das Gewissen nicht von schwerer Sünde sich belastet fühlt; — die Wahrnehmung, wie dieser „Bcichtsport" von der Kanzel aus zum Grad messer der Frömmigkeit gemacht und angepriesen wird, ob- gleich die nebenbei gegebene Mittheilung, daß die meisten Beichten sakrilegisch seien, keine verlockende Wirkung haben kann; — die Wahrnehmung, wie einerseits die Todsünde als das schrecklichst- liebel zwischen Himmel und Erde geschildert wird, daS die Seele^ aus dem Sonnenglanz der Gnade in den Abgrund der Hölle stürzt, andererieits aber die Belehrung, daß diese entsetzliche Wirkung durch eine Fleischspeise am Freitag oder eine Kirchen- versäumniß am Sonntag Herbeigeführt wird, so daß der gläubige Katholik vor dem schwer zu begreifenden Problem siebt, daß Christus in die Welt gekommen ist, die Sünde hinweg zu nehmen, in den so verkündeten Geboten seiner Kirche aber für den unausgesetzten Nachwuchs schwerer Schuld reichlich gesorgt wird; — Lehren, die, wenn auch in der kirchlichen Kasuistik begründet, doch infolge von Mangel an tieferer theologischer Bildung, von Mangel an Seelen- kenntniß und psychologischer Einsicht in ihrer nackten juristi schen Aeußerlichkeit zu derben Unwahrheiten werden, welche allerdings die unwissenden Schäfchen bewegen, den regelmäßigen Tribut des Gehorsams zu bringen, viele denkende Zuhörer aber ans Wochen und Monate veranlassen, die Nähe der Kanzel zu meiden, weil sie dortdieVer- nunft und das Wort GvtteS vermissen; — Lehren, die in ihrer die Religion unberechenbar schädigenden, ab stoßenden Zudringlichkeit Demjenigen nicht imponiren, welcher von Zeit zu Zeit durch einen Blick zu der erhabenen Pracht des Sternhimmels auch seinen Geist erhebt und von jenen Sternen herab die Wahrheit sich mitten ins Herz hinein predigen läßt: „Vater unser, der Du bist in dem Himmel!" — die Wahrnehmung, daß alle, auch die ärgstenEntartungen einen zuverlässigen Schutz genießen bei der ultramontanen Presse, die uneingedenk der hohen Aufgabe, welche diesem mächtigen öffentlichen Bildungsinstitut obliegt, nur die eine Pflicht kennt, einzeln oder in stürmischem Chor mit den Ketten deS VaticaniSmus zu rasseln und Jeden, der an idealere, würdigere Religionsformen erinnern möchte, unter Mißachtung aller Gesetze der christlichen Liebe nicht mit den Waffen der Wahrheit bekämpft, sondern mit Spott, Hohn und Verleumdung in den Boden tritt; — die Wahrnehmung, baß dieses Verfahren sehr alt und im System begründet ist, von ihm naturgemäß er zwungen wird, insofern eine absolute Religion immer Recht hat und jedem Widerspruch den Stempel des HochmutbeS und frecher Empörung gegen göttliche Autorität ausdrückt, weshalb auch jede behauptete Entartung in der Kirche nur eine scheinbare sein kann, also geleugnet oder vertuscht werden 1 muß — eine wesentliche Aufgabe der ultramontanen Presse; — die Wahrnehmung also, wie auf diese Weise die große Sünde des Jahres !870 ihre gerechte Strafe in sich selbst trägt, an der sie zu Grunde gehen muß, indem ganz von selbst der Absolutismus den Knechtssinn, die Unfehlbarkeit aber die Lüge züchtet, also die ganze bildungsfähige Welt, welche auf Freiheit und Wahrheit niemals verzichten kann, immer mehr von sich stößt; solche und viele andere schmerz liche Wahrnehmungen, welche bezeugen, daß auf diesem Boden der absoluten Herrschaft deS Einen, welche des unseligen Pius Vorgänger, Gregor der Große, als Gotteslästerung und Wahnsinn bezeichnet bat, und andererseits der rechtlosen Knechtschaft aller übrigen die Religion Jesu nur in ver derbter Form zu finden ist: alle diese tief traurigen Tbat- sachen haben mich bewogen, jetzt in meinem 57. Lebensjahr, dem Gewissen und der besseren Einsicht folgend, die Kirche des Papstes zu verlassen und Unterkunft zu suchen in jener Religionsgemeinschaft, die aus gleichen Gründen sich von der vatikanisch gewordenen Kirche losgesagt und welche der Ultramontaniömus äußerlich verachtet, innerlich aber fürchtet, weil sie sein böses Gewissen ist und weil sie unter schweren Opfern für das edle Ziel arbeitet, dem unverdorbenen alten katholischen Christenthum die Wege zu bahnen und die Einigung der christlichen Confessionen in Liebe zu erstreben. Abfall vom Glauben pflegt man einen solchen Schritt zu nennen und meint damit Den zu brandmarken, der diese» Sckritt thut, obgleich er nur die strenge Forderung seines Gewissens erfüllt. Aber die vatikanische Gemeinschaft kennt nur ein Gewissen mit seinem Sitz in einem der elftausend Gemächer des Vatikans und nur eine Pflicht, die des absoluten Gehorsams gegen den Einen. Sie könnte zwar wissen, welche Fragen der Richter in der letzten kritischen Weltslunde stellt und welche — ganz gewiß nicht. Wohl wird der Valieanismuö das jüngste Gericht nicht erleben, scndern deut Gericht der Geschichte verfallen, welche die Macht hat, jedes Dogma zu überwinden, das nicht von Gott kommt. Die vatikanische Gemeinschaft hat den Wahn, es sei eine innere Unmöglichkeit, von der römischen Kirche anders ab zufallen, als auf dem Weg der Sünde und dadurch der Gottverlassenheit. Dieser Wahn hängt zusammen mit dem Monopol auf den heiligen Geist, in dessen Besitz die Kirche des Papstes allein zu sein behauptet. Ich bezeuge aber vor Gott, daß meine Lossagung das Ergebniß langer, tiefer, schmerzlicher Prüfung war, und ich kann Niemand das Recht zugestehen, diese aus meinem innersten Bewußtsein quellende Erklärung zu bemängeln. Ich bin überzeugt, daß der denkende Theil der Katholiken das Gewissen auch dann respcctirt, wenn cs zu Schritten drängt, die dem VaticaniS mus nicht gefallen. Sicht der römische Katholik in der Los sagung von seiner Kirche ein schweres Vergehen, so hatte ich das Recht und die Pflicht der Selbsthilfe, die ganze Wucht der Motive ihm zur Kenntniß zu bringen, die mein Gewissen zu diesem Schritt drängten, sonst hätte ich ibn in aller Stille gethan. Möge diese Erklärung für die Oeffent lichkeit genügen. Man darf kaum erwarten, daß die päpst liche Presse wenigstens Achtung zeige vor Offenheit und Wahrhaftigkeit des Gegners und daß sie im Kampf der Ideen nicht wiederum auf ein Niveau herabsinke, vor welchem die Angehörigen der päpstlichen Kirche erröthen müssen, während die anderen Christen dem Himmel danken und sich beglückwünschen. Ich selbst aber will mit Freude und Dank gegen Gott das ganze Glück genießen, das in den Worten des Erlösers liegt: „Die Wahrheit wird euch frei machen". Wertheim, 20. Juli 1897. Wilhelm Bunkofer, katholischer Geistlicher und Gymnasiumsprofessor. politische Tagesschau. * Leipzig, 23. Juli. DaS preußische Herrenhaus hat, wie schon berichtet, gestern das der Regierungsvorlage von den Freiconservativen dcS Abgeordnetenhauses, lieS: Herrn v. Stumm, unter geschobene VercinSgeset; „definitiv" angenommen. Das Stimmenvcrbältniß war ungefähr das der dritten Lesung: lll für, 19 oder 20 — die Mittbeilungen widersprechen sich — gegen. Am 30. Juni erklärten sich 128 für und 22 gegen das Gesetz — das relativ große Minus der Jasager hat keine politische Bedeutung. Es ist Hochsommer, und da die mehr oder minder feudalen Herren ihrer Sache sicher waren, so ist es nicht zu verwundern und noch weniger zu tadeln, daß sie einem beträchtlichen Theil ihrer Freunde das Wegbleiben nachsahen. Im Ab geordnetenhaus^ wo morgen die wirklich endgiltige Entscheidung stattsinden wird, liegt es bekanntlich anders. Dort kommt es auf wenige Stimmen an. Eine kleine Mehrheit gegen das Gesetz ist aber auch für den Fall sicher, daß alle konservativen und freiconservativen Herren auf dem Platze sind. Die „Post" und die „Nordo. Allgem. Ztg." geben sich noch einmal, in „letzter Stunde", wir daS Regie rungsblatt sagt, Mühe, die Nationalliberalen zu bekehren. Beide Blätter hüten sich aber, die nationalpolitische Seite der Frage, die Bedenken gegen die particulargesetz- liche Regelung einer formal wie materiell der Reichsgesetz gebung unterliegenden Angelegenheit, zu erörtern. Wir glauben, ohne uns darüber zu freuen, daß mit dem Abend des morgigen Tages die Erörterung über die Bekämpfung deö Umsturzes für eine gute Weile ab geschlossen werden wird. Es ist traurig, es sagen zu müssen, aber es ist die außerhalb dcS Kreises der Puttkamer und Stumm allgemein anerkannte Wahrheit: man hat Deutsch land mit schwereren Sorgen erfüllt, als sie selbst die socialdemo kratische Gefahr ausdrängt. Die revolutionären, ganz besonders die antimonarchischen Bestrebungen werden von oben so eifrig unterstützt, daß cs eine wahre Danaidenarbeit wäre, wollte man ihnen Lurch ein Ausnahmegesetz begegnen. Wer den blindwütbigen socialrevolutionären Bewegung ernstlich entgegentreten will, der muß selbst seyend sein, und er muß vor allen Dingen dafür sorgen, daß diejenigen Elemente, die treu zum Reich und zum Königthum stehen, in ihren Empfindungen nicht irre gemacht werden. Wer aber die Augen aufmacht, der nimmt wahr, daß der socialdcmolratischcn Agitation heute eine starte Concurrenz gemacht wird von der bürgerlich-radikalen, die sich von nationalen und monarchischen Enttäuschungen mästet. Diese Bewegung zielst, nicht überall in Deutschland, aber sehr vieler Orten, bisher zuverlässige Elemente an sich und ist darum gefährlicher als die socialdemokratische Agitation, der bei „Bildung und Besitz" — um den nicht sonderlich gut beleumundeten Ausdruck zu gebrauchen — unübersteigliche Grenzen gezogen sind. Angesichts der deutschen Wahlverhält nisse aber mit ibrcnStichwahlen, beidcnen überwiegend Social- demokraten in Betracht kommen, sind die Socialrevolutionäre die Nutznießer der bürgerlichen Unzufriedenheit, und wer diese nährt, der ist als „Vorfrucht" anzuseben, mag er noch so starke Worte gegen die Socialdemokratie gebrauchen. Das wird morgen im preußischen Abgeordnetenhause zwar leider nicht gesagt, aber gedacht werden, wenn die „Beredtsam- keit Miquels" für die Vereinsgesetznovelle eingesetzt wird. Wir haben kürzlich mitgetheilt, daß die „Allg. Ztg." die Hilfe des Herrn v. Miquel in Aussicht gestellt bat. Nack dem „Hamb. Corr." wird sie in der That geleistet werden. Dieses Blatt druckt, was mau früher wußte, daß nämlich der Kaiser in Kiel den neuernannten Ministern gegenüber Feirilleton. Nanny Trauner. 27j Roman von E. Schroeder. Nachdruck »«rbotk«. „Hier — hier strbt's!" schrie er, mit dem Zeigefinger auf die betreffende Stelle klopfend. „Und da- sollen keine Lügen sein?" Zähneknirschend packte er das Buck mit beiden Händen, bog und brach daran herum, schleuderte e- zu Boden, stieß es mit Füßen. „Legte ihn in'- Gefängniß? Lügen — Lügen!" heulte er. „An der Gurgel packte er ihn, der Schuft, der Halunke — preßte ihm den Athem auS, warf ibn lang bin ins Gra-, schlug ibn mit dem faustdicken Stiel der Reitpeitsche an den Kopf, daß ihm der Schädel krachte, hob den schweren Stiefel absatz und hätte ihm um ein Haar die Augen —" „Entsetzlich!" schrie Nanny aus und bedeckte die eigenen Augen mit den Händen. Für den Moment ging ihre Angst unter in schaudernder Entrüstung. Der arme wandernde Geist war ja jetzt bei dem eigenen harten Geschick und mußte das nickt einen Stein erbarmen? Der Herzenston schien bis in seine Nacht zu dringen. Er horchte auf und nickte: „Jawohl, entsetzlich — entsetzlich — entsetzlich!" Seine Stimme erstarb im Flüsterton. Mit leerem blöden Blick sah er sich um. War ihm der Gedankenfaden entflattert? Vielleicht, aber er faßte — er hielt ihn wieder. Seine Fäuste ballten sich, lodernde Wnttz sprühte ihm au- den Augen. „Und sie ging leer au«!" knirschte, zischte er. „War da- Gerecktigkeit?!" „Nein!" entfuhr eS Nanny in hartem, grollendem Ton. Wenn in früheren Zeiten zwischen dem Onkel und ihr die Begebenheit am See zur Spracke gekommen war, dann hatte sie stets mit beredten Worten Anna von Hellbronn's Partei genommen. Heute war sie so überzeugt von deren Schuld, daß sie einen Eid darauf hätte ablegen können. „DaS sollte ich meinen", schrie der Irre und der Bibel am Boden einen weiteren verächtlichen Fußtritt versetzend: „Aber so dumm wie der da drin steht, war er doch nicht — der Josef," Dann sich vorbeugend, daß sein heißer Athem ihre Wange streifte, in vertraulichem Ton: „Er lauerte ihr auf. Ja. Einmal traf er sie auch zusammen mit ihm — e» war nur zu dunkel. — Schade um die gute Kugel!" Eine kurze Pause. Plötzlich mit schadenfrohem Auflachen: „Heute scheint di« Sonne." „Heute?" stieß Nanny mit bebenden Lippen hervor. Es war ihr, als müsse sie das Gespräch fortsetzen um jeden Preis. All' ihre gräßliche Angst war wieder wack, aber davon durfte sie doch dem Unglücklichen nicht- merken lassen. „Heute?" stieß sie hervor, obwohl es keine Frage Werth war, denn ganz offenbar schien heute die Sonne. Sie erhielt auch keine Antwort. Er lachte nur wieder und fuhr höhnend fort: „So schlau wie sie - ansing -- ha ha! — kroch immer um da- Hau« herum — immer herum — immer herum — ha ha! Au« dem einen Fenster fiel Licht auf den Weg — da blieb sie sieben —" „Wer?" fragt« Nanny von einer plötzlichen Ahnung erfaßt. „Wer ander» al- da- gottverdammte Weib?" knurrt« er, unwirsch über die Unterbrechung. „Welches Weib?" „Potiphar'S!" schrie er, wüthend mit dem Fuß« auf stampfend. „Potiphar'S!" wiederbolte er so gellend laut, daß sie sich mit der Hand nach dem Obr fuhr. „Verzeihung", stammelte sie. „Ich hatte Wohl nicht recht hingehört, ich — Also unter dem Fenster blieb sie stehen?" „Voll im Licht!" hohnlachte er. „voll im Licht! Hätte sie bübsch aufs Korn nehmen können, wen» der Esel von einem Kutscher nicht gerade auS dem Stall gekonimen wäre. Aber — ba ha! — bei Tag ist's am Ende doch sicherer und im alten Kloster stad die Pfeiler so dick, e« braucht einen keiner zu sehen — keiner, ha ha!" „Im alten Kloster?" wiederholte sie, die Hand auf da- Herz gepreßt. Sir zitterte davor, mit neuen Fragen seine Wildheit zu entfachen und mußte doch mehr wissen um jeden Preis. „Da geht er morgen« hin zu malen", fuhr cs ihm un geduldig heraus. „Meinen Sie, das hatte sie aus dem Hans narren von Kutscher nicht bcrausgekriegt? Ja Die! der Teufel ist nicht schlauer. Aber — so dumm, wie er d rin steht, ist der Josef auch nicht!" Damit erhielt die Bibel am Boden einen letzten Fußtritt, daß sie weithin in s Gebüsch flog. „Ha ba ba!" lachte der Irre auf, stieß die Hand unter den Rock, riß etwas Blinkendes hervor und schwang es Nanny vor Augen. „Ein Revolver!" schrie sie, todtenbleich zurückwankend. „SechSschüssig", nickte er triumphirend. „Der thut's noch besser wie der Andere — nock viel besser, ba ba ha!" Immer schadenfrob vor sich binlachend, dreht« er die Waffe in der Hand herum. Nanny sah es und hielt sick kaum aufrecht vor Angst. Wenn nicht des Unglücklichen eigene Absicht, dann löste gleich der Zufall den Schuß und sie war verloren. Sekunden wieEwigkeiten verrannen. Da — ohne ein Wort — drehte der Irre sich um und ging. Als habe es ibn plötzlich an ein dringendes Geschäft gemahnt — mit so großen, bastigen Schritten strich er durch daS dürre Strauchwerk hin. Hinter der dicken Buche drüben versckwand er. Ein Knacken noch, ein ferne« Rascheln und Alles ward still. Nanny erwachte wie aus einer Betäubung. Sie strich sich mit der Hand über die Augen. In der Erinnerung überlief e« sie kalt — und nochmals eiskalt. Dann raffte sie sick zusammen. Sie mußte ja fort — rasch fort von hier, bevor er zurückkehrte. Ein paar hastige Schritte that sie, dann stand sie wieder still. Bevor er zurückkehrte? Er kehrte ja nicht zurück, war ja auf dem Wege nach dem alten Kloster. So große Eile hatte sie also gar nicht. Langsamer ging sie nun, aber mit unruhigen Augen um sich blickend. Als von einem nahen Baum ein dürrer Zweig zur Erde schlug, stieß sie einen Schreckenslaut aus und fuhr sich mit der Hand nach dem Herzen. In ihrer Phantasie hatte nämlich ein Sckuß gekracht. Er hatte ja den Revolver mitgenommen nach dem alten Kloster. Weshalb? Nun, er wollte, hinter irgend einem Pfeiler verborgen, Potiphar'S Weib „auf's Korn nehmen." Potiphar'S Weib — ba ha! — das schon so so und so viele Jahrtausende todt und begraben lag. Begraben? Jahrtausende? Freilich, aber für ihn war es wieder erstanden, in seinem kranken Gehirn spukte es herum als Anna von Hellbronn und wenn Anna von Hell bronn heute morgen wirklich nach dem alten Kloster ging, dann — Dann mochte sie selber sehen, wie sie sick ihre Feinde vom Halse hielt! Daß andere Leute — daß sie (Nanny) zum Beispiel auch nur den Fuß in ihrem Interesse rührte, Halle sie nicht um sie verdient — nein, wahrlich nickt! Jetzt lief Nanny mehr als sie ging, aber so rasch sie lief, der Stimme ihres Gewissens entlief sie nicht. „Wenn er sie tödtet — er, der nicht weiß, wa« er thut — dann bist Du die Mörderin", sagte sie und blieb dabei, blieb beharrlich dabei, bis es nicht länger zum Anbören war. „Es ist nickt wahr!" ries Nanny stehenbleibend. „Es ist ja nicht wahr!" wiederholte sie zornig, mit dem Fuße auf stampfend, aber — sie kehrte doch uni, wandte sich langsam, widerwillig der Richtung zu, in der Anton Hartmann ver schwunden war. „Als ob es etwas nützte", lackte sie spöttisch in sich hinein, während sie lässig Sckritt vor Schritt setzte. „Er ist doch vor mir da — ja, und wäre auck vor mir da gewesen, wenn ich mit ihm um die Wette gelaufen wäre!" Hier begann sie glcickwohl etwa« rascher zu gehen. „Uebrigcnö fragt sich'« noch sehr", meinte sie dann, „ob er sie dort finden wird. Warum sollte sie gerade heute nach dem alten Kloster gehen — jeder andere Morgen thut'S ja auch, wie eS scheint. Und gesetzt den Fall, der fände sie, so ist'« noch lange nicht gesagt, daß er sie trifft mit seiner unstäten Hand. DaS Bibelblatt zitterte ja wie Espenlaub, während er es umwandte. Ha ba ha! Er kann auch fehlschießen. Hat er nicht schon einmal feblge—" DaS spöttische Wort erstarb Nanny aus der Lippe. Ihre Augen öffneten sick weit und entsetzt in der Erinnerung an den letzten Fehlschuß, den der Irre gethan und der doch Jemand getroffen batte — Jemand, der Morgens in« alte Kloster ging, um zu malen! Einen Angstschrei stieß sie aus und dann ging sie nicht mehr, dann flog sie dahin. Jenseits dcS Sees und des Schlosse«, ziemlich hinten im Walde lag die Ruine, die im früheren Mittelalter das Jürgcnkloster gewesen war, sie aber hatte den See noch nicht einmal erreicht und wie sie ihn erreichte — Gott! welch' «in«
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