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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.07.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-07-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970729011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897072901
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897072901
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-07
- Tag1897-07-29
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Neclamen unter dem Nedaction-strick (4a» spalten) 50-^, vor den AamNiennachrtchbev (6 gespalten) 40 Größere Schriften laut unserem Preis« verzeichn iß. Tabellarischer und Zifferosatz »ach höherem Larij. Extra-Beilagen (gesalzt), nur «it dar Morgen-Ausgabe, ohne Poslbesörderung 60.—, mit Postbesörderuug 70.—. Ännahmeschluß fir Anzeigen: Lbend-AuSgabr: vormittag« 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. vei den Filialen und Annahmestellen je ein« halb« Stunde früher. Anreisen sind stets an die Expeditta« zu richten. Druck und Verlag von L. Pol» h» Leipzig. 381. Donnerstag den 29. Juli 1897. 91. Jahrgang. Ein neues Attentat auf die Freiheit der Wissenschaft. * Bei uns in Sachsen hat man eS vielfach auch in solchen Kreisen, die nicht jeder Forderung der Negierung unbesehen zustimmen zu müssen glauben, nicht recht verstehen können, warum in Preußen die Mehrheit deS Abgeordnetenhauses sich so hartnäckig geweigert hat, die Regierung zur wirksamen Bekämpfung der Socialdemokratie mit gesetzlichen Bollmachten auSzustatten, die denen wenigstens nicht unähnlich sind, die in manchen anderen Staaten den Regierungen ohne Anstand bewilligt worden sind. Wer bei uns die preußischen Blätter nicht genau verfolgt, ahnt eben nicht, wohin ein namhafter Theil von diesen, und zwar gerade der einflußreichste, mit sichtlicher Hoffnung auf Erfolg die Regierung zu treiben sucht und welche Anwendung ihrer Vollmachten er von ihr fordert. Welchem sächsischen Blatte würde es wohl in den Sinn kommen, von der Negierung zu fordern, sie möge Männer wie Binding, Sohm, Gregory von ihren akademischen Lehrstühlen entfernen, weil sie seiner Zeit gegen das neue sächsische Wahlgesetz sich erklärt, dadurch in Gegensatz zur Negierung sich gestellt und die Majoritäten unserer beiden Kammern beleidigt hätten? Man konnte in Sachsen einen hohen Preis für dasjenige Blatt aussetzen, daS eine solche Forderung zu stellen und zu Vertheidigen wagte, und keines würde ihn zu gewinnen suchen. Eine ganz ähnliche stellt aber in Preußen ganz »»gescheut sogar die freiconservative „Post", also ein Blatt, daS keineswegs zu den ultrareactionären gerechnet werden mag, daS sich selbst als gemäßigt bezeichnet und dessen Spiritus reetor der so hohen Einfluß auf die höchste,, Kreise aus übende Herr v. Stumm ist. Tas Blatt verlangt nämlich, daß in Preußen die gesammte Verwaltung einheitlich nach dem GesichlSpuncle der Bekämpfung der Socialdemokratie geführt werde, und macht dem Kultusminister vr. Bosse den Vor wurf, daß er von diesem Gesichtspunkte nicht auögehe. Das zeige sich aus der Langmuth, die er gegen den Privatdocenten und socialdcmakratischcn Agitator vr. Arons an de» Tag lege, noch viel mehr aber an der Berufung des vr. Rein hold in ein akademisches Lehramt in Berlin. Dann heißt eS weiter: „Ter Herr Cultusmiiiister beruft an die Universität Berlin einen Doccnten, weicher cs als seine vornehmste Aufgabe betrachtet, der studirendei, Jugend die gänzliche Ungefährlichkeit der Social- drinokratie zu Lemonslriren! Erscheint die Berufung des Herrn vr. Reinhold auch unter anderen Gesichtspunkten alS rin arger Mißgriff, so ist die Wahl eines Mannes, welcher dieses Programm für seine akademische Lehrthätigkeit proclamirt hat, in dem gegen wärtigen Momente geradezu verletzend für die Parteien, welche die Regierung in dem Kampfe um das Vereins gesetz unterstützt haben. Namentlich muß das Herrenhaus bei seiner auch bei dieser Gelegenheit energisch bekundeten Stellung zur Socialdemokratie diese Berufung geradezu al» «ine Br- leidig» ng empfinden." Wenn in einem Staate, in dem eS noch vor wenigen Jahren selbst in den Kreisen der Conservativen als Axiom galt, der Kaiser brauche kein Socialistengescy, um mit der Socialdemokratie fertig zu werden, daö Organ eines so einflußreichen ManncS wie Herr von Stumm jetzt fordern darf, von den akademischen Lehrstühlen seien alle Männer auSzuschließcn, die noch an jenes Axiom glauben und dadurch das Herrenhaus „beleidigen", so ist eS doch wohl Pflicht jedes besonnenen Mannes, in diesem Staate recht vorsichtig mit der Bewilligung von Vollmachten an die Ne gierung zu sein, in dir über kurz oder lang entweder Herr v. Stumm selbst oder einer seiner Gesinnungsgenossen «in- ziehen kann. Tenn wenn in diesem Staate, in dem der größte Theil der Verwaltung in de» Händen von Gesinnungsgenossen der „Posi" und jenes Parteiorgans liegt, daS kürzlich jede abfällige Beurtheilung eines Ministers alSMajestätSbeleivigung auzusehen und zu bestrafen empfahl, so ungescheut die Anwendung der Regierungsgewalt gegen einen der augen blicklichen politischen Richtung des Ministeriums wider strebenden akademischen Lehrer gefordert werden darf, so ist eS ganz selbstverständlich, daß die Anwendung derselben Gewalt auch gegen jede mehr oder minder oppositionelle Partei, gegen jeden nicht streng im derzeitigen Regierungs fahrwasser befindlichen Verein gefordert werden wird. Ueberzeugender konnte daher die „Post" allen Nicht preußen nicht darthun, daß die Vermehrung der Negierungs vollmachten in Preußen von allen Parteien abgelehnt werden mußte, die nicht die Aussicht haben, selbst diese Vollmachten in die Hand zu bekommen. Die „Post" zeigt aber ferner, daß sie die Regierung auch ohne Vermehrung ihrer Gewalt für befähigt erachtet, reinen Tisch zu machen und in erster Linie für homogene akademische Lehr körper zu sorgen, deren Mitglieder nichts Anderes lehren, als was zur Zeit als unfehlbare Staatsweisheit gilt. Und da Alles, was etwa in Preußen zur Einschränkung der aka demischen Lehrfreiheit geschieht, bedeutungS- und verhängniß- voll für die ganze deutsche Wissenschaft werden kann und muß, so halten wir eS für Pflicht, ebenso wie wir gegen die preußische Vereinsgesetznovelle Stellung genommen haben, auch energischen Einspruch gegen die Forderung der „Post", in Preußen die Besetzung der akademischen Lehrstühle von den Empfindungen deS Herrenhauses abhängig zu machen, zu erheben. Was den Fall AronS anlangt, so bedauern wir aller dings, daß Herr vr. Bosse noch nicht eifriger bemüht gewesen ist, die Stellung der Privatdocenten so zu regeln, daß ihnen eine agitatorische Thäligkeit zu Gunsten einer den gewalt samen Umsturz unserer ganzen staatlichen und gesellschaft lichen Ordnung erstrebenden Partei unmöglich gemacht werden kann. So lange eine solche Regelung aber nicht herbeigeführt ist, kann auch Herrn vr. Bosse ein Einschreiten gegen vr. AronS nicht angesonnen werden. Ganz anders liegt die Sache im Falle Neinhold. Zu nächst ist zu beachten, daß Herr vr. Bosse ebensowenig wie irgend ein anderer Mensch annehmen konnte, Herr vr. Nein hold werde sich zu Auffassungen bekennen, wir er sie in seiner überflüssigen und selbstverständlich gerade damals der Regierung sehr unbequemen Rebe kundgrthan hat. Nahm man doch an, daß er im Gegentheil ein Gegengewicht gegen die sogenannten Kathedersocialisten bilden sollte. Hat der Minister sich in dieser Annahme getäuscht, so ist das seine Schuld und nicht die deS Herrn Neinhold, der sich viel zu offenherzig ausgesprochen hat, als daß man annehmen dürfte, er habe dem Minister gegenüber bei einer früheren Anfrage aus seinem Herzen eine Mördergrube gemacht. An sich selbst und nicht an Herrn Neinhold hätte also der Minister seine Täuschung zu strafen. Aber auch wenn Herr vr. Bösst gewußt hätte, daß vr. Neinbold auf einem Standpuncke steht, der zu dem jetzigen politischen Regierungsprogramme nicht paßt, so würde dies kein ausreichender Grund gewesen sein, ihn nicht zu ernennen. Die Aeußerung der „Post", daß seine Wahl gerade gegenwärtig verletzend für die Parteien sei, welche die Negierung im Kampf« für daS Vereinsgesetz unterstützt haben, kann nicht scharf genug zurückgewiesen und gebrandmarkt werden. Nach dem selben Principe hätte vor vier Jahren, als der Kampf um die Handelsverträge tobte, kein conservativer Professor er nannt werben dürfen, weil sich dadurch die Befürworter jener Verträgt hätten verletzt fühlen können. Ja, nach diesem Principe dürfte man in Preußen akademisch« Lehrer nur noch auf Kündigung anstellen, da in diesem Staat« die Regierungen und die politischen Regierungs programme wechseln wie das Wetter im April. Was Herr vr. Reinhold in Wiesbaden gesagt hat, unterscheidet sich gar nicht wesentlich von dem, was kurz nach der Ent fernung deS Fürsten BiSmarck von sehr hohen Stellen aus gesagt wurde und in Preußen jahrelang leitender Grundsatz bei der Behandlung der Socialdemokratie war. Müßte nun vr. Neinhold au» seinem neuen Amte entfernt werden, weil er noch auf jenem „antiquirten" Standpunkte steht, wie viele seiner College» müßten dann entfernt werden, die damals aus Ueberzeugung den Negieruugsstandpunct ge- theilt haben und nicht waudlungSfähig genug sind, um den neuen NegierungSstanvpuncte sich anzubeqnemen! Wollte Herr vr. Bosse das von der „Post" aufgestellte Princip sich an eignen, so würde der einzige Maßstab, der für die An stellung von Universitätslehrern maßgebend sei» soll und muß, die wissenschaftliche Befähigung und Lehrtüchtigkeit, vollständig verloren sein. Die Politik der Regierung wird auch da, wo wechselnde Einflüsse und Stimmungen weniger bemerkbar werden, als in Preußen, naturgemäß bald eine mehr con- servative, bald eine mehr liberale sein; die Wissenschaft aber bleibt stabil, denn daS, was ihren Fortschritt auSmacht, hat mit der Politik nichts zu thun. Aus diesem Grunde wird auch der von der „Post" im Allgemeinen ausgestellte Grundsatz, daß die Cultusverwaltung sich in wissenschaftlicher Hinsicht in volle Uebereinstimmung mit den leitenden Grundsätzen der Regierungspolitik bringen müsse, auf das Entschiedenste bekämpft werden müssen. Von diesem Grundsätze auS würde Preußen gar bald zu den kläg lichen Verhältnissen der politisirenven Unterrichtsverwaltung kommen, Vie einen Krebsschaden für Frankreich bilden und mit Recht von unS verachtet werden. Dort wird die Wissen schaft bald in die klerikale, bald in die atheistisch, bald in die imperialistische, bald in die radicale Zwangsjacke gepreßt. Wie wenig eine derartige Schablonisirung der Wissenschaft uä wsjorow gloriam des jeweilig herrschenden Regimes der Stetigkeit der Regierung nützt und wie tief sie die Wissen schaft selbst schädigt, das lehren die französischen Zustände mit eindringlicherSprache. Trotz des Einflusses des Herrn v. Stumm und trotz des biöderigen Entgegenkommens der preußischen Regierung gegen die Wünsche dieses Herrn halten wir daher vorläufig an der Hoffnung fest, daß es nicht ge lingen werde, Herrn Vr. Bosse zu stürzen oder ihu.<ju ver anlassen, vor der Anstellung eines Universitätslehrers die Genrhmigui -g der verantwortlichen und unverantwortlichen Leiter der „Post" einzuholrn. ES ist eher alles Andere als konservativ, wenn man Umstürzen will, was seit ungezählt«», Jahren dazu brigetragen hat, Preußen und damit auch Deutschland groß zu machen: die Freiheit der Wissen schaft. Internationaler Longreß M Besprechung der Betriebsunfälle und der äocialverjicherung. ii. 8. L II. Brüssel, 27. Juli. Unter den deutschen Vertretern befindet sich auch Geh. Rath Zacher vom Reichsversichecungsamt. Der Cougreß begann nach der Eröffnung der heutigen zweiten Sitzung durch den Vorsitzenden Minister Beer narrt seine eigentlichen Berathungen. Den ersten Gegenstand derselben bildet: Die gegenwärtige Lage der Frage der Arbeitervrrstcherung in den verschiedenen Ländern, besonders hinsichtlich der fakultativen oder obligatorischen Organisation der Versicherung. Der erste Redner, Ingenieur Bellou (Paris) berichtete über den Stand der gesetzgeberischen Maßnahmen in den einzelnen Staaten sowohl aus dein Gebiete der Unfallverhütung, als auch der Ver sicherung gegen Betriebsunfälle. vr. Bödiker (Berlin) theilt mit, daß in Deutschland im Jahre 1896 an Arbeiter die Summe von 57 847 673 zur Aus zahlung gelangt sei, und zwar an 329 300 verwundete Arbeiter, an 32 707 Frauen getödteter Arbeiter, an 60190 Kinder getödteter Arbeiter und an 2173 Verwandte getödteter Arbeiter. Im Ganzen haben im Lauf» eines Jahre» 452 953 Personen Theil genommen an den Segnungen des UnfallversicherungsgesetzeS. Redner führte weiter au»: Die Frage, ob den Arbeitern, wie auch ihre Lage sich insolge der wirlhschaftlichen Entwickelung gestalten möge, in den Fällen des Unfalls gründlich geholfen werden soll, hat der Herr Minister gestern schon mit Ja beantwortet. ES fragt sich, wie die Hilfe geleistet werden soll. Daß ein Zwang zur Unfallverhütung absolut nothwendig ist, hat der Herr Minister auch zugegeben. Aber damit, daß wir den Unternehmer zwingen, dem Arbeiter zu helfen, ist noch nicht viel erreicht. Wenn wir den Unter nehmer nicht zwingen, sich zu versichern, so geben wir ihn dem größten Unglück Preis. Und Gesetze machen, die geeignet sind, den kleinen Unternehmer zu ruiniren, so daß dann auch noch sogar die verletzten Arbeiter der Unterstützung verlustig gehen, heißt nicht Staatsweisheit treiben. Sie müssen also unbedingt Deckung suchen. Die Versicherung bei Privatgesellschaften würde nicht nur viel theurer werden, sondern sie würde auch die Eontrole, ob überhaupt versichert sei, bedeutend erschweren. Dagegen empfiehlt sich eine Verbilligung der Versicherung durch eine Corporation, welche die Unternehmer unter sich bilden. Nach den in Deutschland gemachten Erfahrungen vertragen sich die Unternehmer in diesen Korporationen sehr gut, der Zwang ist kaum fühlbar. Ich wage sogar zu behaupten, daß die Berufsgcnossenschasten in Deutschland wesentlich zur Entwickelung der Industrie brigetragen haben. Die Unternehmer finden sich hier zur Besprechung gemeinsamer Angelegenheiten zusammen, Concurrenten tauschen mit einander ihre Erfahrungen aus. Die Unfallversicherung ist der Hauptsactor für die Interessenvertretung der Industrie und bemerkenswerth ist, daß trotz dec mannigfaltigen politischen Gegen sätze bisher sich nicht eine Strömung für die Auslösung der Berufs genossenschaften geltend gemacht hat. Unsere Gewerbenovelle be- deutet nicht ein Abweichen voin beschrittenen Wege, sondern eine Ausgestaltung deS System-. Unsere Berufsgenossenschastrn haben die größte Bewegungssretheit. Wir sind hergekommen, um »nit Ihnen unsere Erfahrungen auszutaufchen. Wir bitten Sie mit uns zu glauben, daß es ein Volk und einen Staat festigt und kräftigt, wenn sich nicht nur die oberen Stände, sondern auch die unteren in einer, so weit es möglich ist, erträglichen Lage befinden. (Lebhafter Beifall.) Der Engländer Drage wandte sich mit großer Schärfe gegen das deutsche Gesetz. Er verwies aus die Lrganijaton der Trades-Unions in England. Durch ihre Organisationen könnten die englischen Arbeiter eine Vermehrung des Arbeitslohnes erzielen, welcher dann die Rente einschließen würde. (Beifall.) Professor Ferrari (Padua) und vr. Mojer (Bern) traten für das deutsche Gesetz ein. Darcy (Saures) ist iin Wesentlichen auch für eine Versicherung nach deutschem Muster, giebl aber zu erwägen, ob sich nicht statt der Rente CapitalSzahjung empfehle. Stach einer längeren Mittagspause wurde dir Debatte fortgesetzt. Ritter vou Kink (Wien) sucht die Bedeuten deS englische» Ver treter- gegen die Zwang-Versicherung zu widerlegen. Die Arbeit geber in Oesterreich und Deutschland feien vollkommen einverstanden mit der ZwangSverstcherung, sie erblicken in derselben einen Fortschritt auf dem Gebiete der Humanität und der Verminderung der socialen Gefahr. Der Erfolg de- Mr. Drage, der mit einem Appell an die romanischen Nationen seine Rede geschloffen habe, die Freiheit hochzuhalten, sei wohl nur ein oratortscher gewesen. Diese Freiheit können wir nicht alS ein« Freiheit in unserem Sinne betrachten. Da» ist die Freiheit de- „ Berhungerns ". Diese Freiheit ist uns kein erftredeuSwerthe» Ziel. (Lebhafter Beisall.) Die Allgemeinheit hat zu sorgen, daß der arme Mann, der verunglückt und arbeitsunfähig ist, bis an seinen Lebens abend die Freiheit, zu leben hat, ohne daß er aus ein Almosen an- gewiesen ist. Die Gesetzgebung wolle auch keine Lasernirung und Beeinträchtigung der Freiheit der Privatverjicherung. Tie staat liche Versicherung bezwecke nur die Festsetzung eines Minimums. Daneben könnten Privatversicherungen und freiwillige Gesellschaften, Trades-UnionS rc. unbeeinträchtigt weiter wirken. Er schließe mit dem Appell, in dem Sinne der Solidarität aller Eulturnationen für die sociale Reform auf internationalem Wege einzu treten. Eine Stellungnahme in diesem Sinne werde der Haupt werth dieser Aussprache jein. (Stürmischer Beifall.) Poes Gyot, ehemaliger Minister (Pari-), kann sich für das deutsche Versicherungswesen nicht erwärmen, da dasselbe die indi viduelle Freiheit beeinträchtige. Er stehe auf demselben Standpunkt wie Lvon Sah, der ebenfalls die obligatorische Versicherung ver warf. Dagegen halte er ein Haftpsltchtgesetz für nothwendig, da dieses Las Leben deS Arbeiters gegen Unfälle schlitze. In Deutschland werd» man vor lauter Bersicherten sörmltch aufgesressen. Er könne eS verstehen, wie Vr. Bödiker aus feiner eigenartigen Stellung heraus dieses System vertbeidigr. Er aber könne nicht die Verantwortlichkeit Übernehmen, für ein Gesetz, LaS jo tief in die persönliche Freiheit cingreife, einzutreten. Commerzienrath Möller bedauert, Laß die großartigen Er folge, dir mau in Deutschland und auch in Oesterreich mit der ZwangSverstcherung gemacht habe; noch immer nicht allgemein die srüheren Gegner überzeugt habe. In Deutschland fei man von dem System des Gehenlasjens voltständig ab gewichen, «in Mann der noch auf diesem Stand- puuct stände, gehörte ins Lurioiitätrncabinet. (Heiterkeit.) Mit dem Hastpslichtgejetz haben wir in Deutschland schlechte Erfahrungen gemacht. DaS Princip ist nicht anzujechten. Die Poesie der Bergbahnen. Plauderei von Alfred B«etjch«n. AaLbruck v«kt»Irn. Vor zehn Jahren noch ist d«n Bergbahnen vi«l Ueble- nachgrredet wordrn. Heute, da man sich anschickt, di« gletschersunktlnd« „Jungfrau" in Eisenbanven zu legen und Hunderte vou Arbeitern in drr Alpenregion deS Berner Oberlandes damit beschäftigt sind, den tollkühnen Gedanken einer Jungsraubahn mit EiSpickel und Dynamit allgemach der Wirklichkeit naher zu bringen, hat man sich an da» Un vermeidliche gewöhnt; ja, ich glaube, di« aus aller Herr«« Lander in drr Schweiz zusanim«ntreffend«n rriselustigen Herr schaften würden ziemlich enttäuschte Ang«n macken, wenn eine» schönen Morgtnß di« Nachricht kam«, die Bergbahnen auf Murren und den Pilatus seien auS ästhetisch«» Gründen verboten worden. Gewiß, das durch Goethe unsterblich gewordene Maul thier, da- im Nebel seinen Weg sucht, hat auf den ersten Blick etwa- Poetischere- an fick al« eine pfauchend» Loko motive, die ihren Eisenfuß in- F«l«gestrin krallt. Ader wirk lich nur auf den ersten Blick, denn wer jemals im Sattel eine» so gemükhvollen Thieres gesessen, der weiß, was man an »«poetischen Momenten in den Kauf nehmen mutz, bi- man das Ziel seiner Wünscht erreicht und rrpeitscht bat. Di« Bahn macht kürzeren Procetz. Stetig verfolgt sie den ihr vorgeschriebene» Pfad und schlängelt sich in den spiralförmigsten Eurven durch Alpenrose»- und Genzianra- selber zur Gletscherfirn empor. So wenig ein alpines Landschaftsbild durch eine an einem Felsen herumkletternde Gemse gestört wird, so wenig kann ein Eisenbahnwagen mit vorgespannter Locomotive, der sich in so und so viel hundert Meter Höhe in verschwindender Größe einem Gipfel rntgegrnschiebt, durch sein« Gegenwart einer entzückenden Gegend Abbruch thun. Ein Lebewesen, und litte dasselbe unter den monströsen Formen eine- feuer speienden Drachen oder eine« vorsintfluthlichen Mamuth- kolosse«, wird der e- umgebenden Scenerie immer alS gut« Staffage willkommen sein. Nehmen wir an, unser« moderne plump gebaute, elephantrn- mäßige Locomotive würde von einem geschickten Künstler mit allem Raffinement zu einem phantastischen Fabelwesen auf geputzt, daß eS den Anschein bätle, der entströmend« Dampf und Rauch entquölle keinem Maschinenschlot, sondern dein langgestreckten, beschuppten Hals« eine- WolfschiuchtgethierS — wer wollte daran zweifeln, daß eine solchermaßen costüinirie Beförderung-Maschine eher dazu angethan wäre, die Poesie der Bergwelt zu verstärken, statt abzuschwächen? Wer freilichim Stande ist, aus dem Zischen der tacl- festen Bremse Melodien herauSzuhören, der wird mit Leichtig keit auch dem einförmigen Gchirnenstrang, der wasserfafsenden Maschine und den klirrend anschlagenden Lautrsignalen poetische Reize abgewinnrn können. Für die meisten Menschen ist daS entschieden viel verlangt, wenn auch nicht zu leugnen ist, daß schon am Körper drr ungeschlachten Locomotive, sobald man sie wie Zola in seiner „dßts dumaine- al- tebende» Wesen betrachtet, «ine Menge poetische Züge wahr zunehmen wäre. Ein Bliffzug, der zu nächtlicher Stunde mit rothglühen- den Augen in rasendem Tempo über eine kühn geschwungen« Brücke hindonnert, hat gewiß etwa- Gespenstisches, Dämo nische- — milhin nach Goethe etwa- Poetische-. Dem ein samen Wander-mann sträubt sich bei dem Gedanken an «in« jähr Entgleisung da- Haar, und schauderüberriefelt zieht er unten im Thal sein« Straße weiter. Entbehrt also die Eisen bahn schon im Tiefland gewisser poetischer Wirkungen nicht, wie viel mehr weiß sie solche in pittoresker HochgebirgS- scenrrie zur Geltung zu bringen. Durch Alpenrosen dampft Ler Zug, Und Genzianenhiigrl; Man fliegt den Schneegefilden z» Und freut sich seiner Flügel. Und — das ist die Hauptsache! — man merkt die Ge fahr nicht, in der man trotz aller Sicherheitsventile schwebt. Man verläßt sich auf die Nußknackerzähne des fünften mitt leren Rades am Wagen oder auf das vortrefflich functio- nirende Drahtseil, auf die Bremse und schließlich auch ein wenia auf den lieben Gott. Selbst bei offenkundigen gefäbrlichen Stellen, wo der Mensch der Natur mit eisernen Pfeilern und Stützen unter die Arme greifen mußte, gebt die Fahrt nicht ganz so prosaisch zu, wie viele annehmen. Wenn z. B. die schlank gegliederte Schnurtobelbrücke in allen Nerven zittert, wenn da« Rigibähnchen über da« vom Wildbach umbranste thurm hohe Effengestell zischt, um plötzlich.in einem Tunnel zu ver schwinden, so ist drr Anblick wie die Situation, in der man sich befindet, ohne Zweifel poetisch, während dagegen die an solchen Orten frech zum Wagenfenster hineingrinsenden Neciametafeln bekannter Jndustrieritter schon längst einer ästhetischen Polizei hätten zum Opfer fallen sollen. Nicht der Bahnzug al- solcher, sonder» Dasjenige, was daran und darum hängt, wie Buntdruck-Placate, grellfarbige Fahrtenpläne, Bahnwärterhäuschen, Telegraphenstangen, roth- bemützte Stationschefs und auslauernde HotelportierS rc. — da« alles ist in einer gewissen Höhr der Bergregion dazu aeeianetf einem feiner Fühlenden das ihn umgebende Lanv- schaftSbild zu entwerthen. Doch diese kleinen AlltagSmensch- lichkeiten, die so sehr an die Niederung erinnern, werden im Grunde tausendfach durch die Zauberspielt der Natur auf- aewogen, mit welcher man Schritt für Schritt intime Zwie- sprach hält und darüber da» pustende Dampfrößleia ganz vergißt. Daß dessen Rauchsäule den Thalwanderern ab und zu über dem Grüngewoge schwankender Wipfel zu Gesicht kommt, ist rin Umstand, mit dem dir Bergbahngegaer nicht viel an« sangen können. Im Gegentheil gilt bekanntlich eine auf steigende Rauchsäule von jeher bei den Malern als dankbares Motiv, weshalb sie auch auf keinem der vielen „Kain und Abel"-Gemälde vergessen wird. Ein Kastenaufzug nach Lift-Manier bedeutet unter freiem Himmel immer em Attentat auf den guten Geschmack und schreit geradezu nach einem sogenannten „Verschönerungs verein"; befördere unS nun ein solcher Schrank von Salz burg nach dem Mönchsberae oder von Luzern nach dem eben falls auSstckt-frohen „Gülsch". Eine Fülle von großartigen Wandelbildern bietet eine das Gruseln lehrende Fahrt auf den düster dreinblickenden Pilatus, während die „Schhnige-Platte"-Bahn bei Interlaken wiederum lieblichere Fernblicke gewährt und dazu gleichwohl die Rigitour an unmittelbar überwältigender HochaedirgS- seenerie übertrifft. Aber nicht jeder Berg ist ein PilatuS oder ein Rigi, »u dessen Steingewandfalten so ein Bahnzua mit höchstens zwei Wagen fast vollständig verschwindet. Daß aber heutzutage, vor Allem aber in der an aussichtsreichen Höbepuncten besonder« gesegneten Schweiz, auf jedem un schwer ersteigbaren Hügel mit hübschem Panorama eine Bahn führen muß, diese Errungenschaft gehört nun leider einmal zu den Mode- und Sportlhorheiten unsere« am Au-gang stehenden Jahrhunderts. Von diesem GesichlSpuncte au- besehen, sind die Berg bahnen allerding- keineswegs dazu anaelhan, den Sinn für Poesie zu mehren, sondern weit eher ihm zu wehren. Aber nicht nur für vi« Bäume — auch für die Bahnen ist gesorgt, daß sie nicht in den Himmel wachsen. Es brauchte sich nur ein schon oft dageweseneS Naturereigniß gelegentlich zu wiederholen, — und selbst das großartigste Projekt in dieser Art, die in Angriff genommene „Jungfrau"-Bahn, dürfte als verwegenste- Gebilde von Menschenhand la spv den tövtlichen Haß der Elemente in empfindlicher Weise zu spüren bekommen.
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