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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.08.1897
- Erscheinungsdatum
- 1897-08-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189708295
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18970829
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18970829
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-08
- Tag1897-08-29
- Monat1897-08
- Jahr1897
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.08.1897
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Krtra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: vormittag» 10 Uhr. , Margen-AuSgabe: Nachmittag» 4Uhr. ÄmtsöM des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Rathes und Nokizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von S. Polz in Leipzig. 91. Jahrgang. Sonntag den 29. August 1897. Aus der Woche. Endlich hat die „große Nation* da» lange ver geblich erbettelte Wörtchen au» Zarenmund. Die Seligkeit, die sie darob empfindet, wurzelt in allem Anderen eher als in nationalem Selbstgefühl. Aber auch in Deutschland würde sich da» Gegentheil von Delbstschätzung und zugleich von politischem Verstände verrathen, wenn hier die letzte Ansprache Kaiser Nicolaus' II. an den Präsidenten Faure Bewegung Hervorrufen könnte. Die Existenz eines Zweibundes ist schon viele Jahre bekannt und unzähligem«! erörtert worden. Daß er politisch nicht» zu bedeuten habe, hat auch bisber kein Mensch geglaubt. Der Zar hat nur gethan, was schließlich fast alle Welt getban: er hat das Kind beim rechten Namen ge nannt. Ganz ohne Wirkung wird sein Wort deshalb doch nicht bleiben. Gerade weil man die Franzosen so lange darauf warten ließ, dürfte cs, endlich ausgesprochen, ihre Revanche-Hoffnungen beleben. Dauernde Besriebigung wird es ihnen aber nicht gewähren. Die längst unter der Hand bekannt gegebene Verlobung ist proclamirt. Ein kurzer Freuden taumel, und die ängstliche Besorgniß wegen ves Inhalts der Ebepacten wird dieOberhandgewinnen.DasVerhältnißzuRuß- land hat ja in den Augen der meisten Franzosen nur geringen Werth, wenn es die Revanche und die Rückgabe von Elsaß- Lothringen nicht in seinem Schooße birgt. Einer Defensiv- Allianz gegen Deutschland, das weiß man jenseits der Vogesen Wohl, wenn man auch manchmal das Gegentheil zu befürchten sich den Anschein giebt, bedarf es für Frankreich nicht. Die sonstigen Vortheile, die ein Bünvniß mit Rußland nach sich ziehen kann, haben mit „dem, woran man immer denken muß", keinen Zusammenhang. Im Gegentheil: sie führen Deutschland unv Frankreich zusammen. Die letzten Jahre und namentlich das laufenve, haben mehr als einen Beweis dafür erbracht. Die bohrende Frage aber, ob das Bündniß mit Rußland die Möglichkeit der Zerreißung Les Frankfurter Friedens, wenn auch nur in nebelhafter Ferne, zeigt, wird man in Frankreich höchstens in den nächsten vier Wochen zu bejahen wagen. Die später unausbleibliche Verzagtheit könnte nur gemindert werden, wenn aus der deutschen Presse etwas Anderes als ein „äeÄmeressewekll" an dem Vorgang am Bord der „Pothuau" herausgelesen werden könnte. Die Collegenschaft wird sich aber hoffentlich nirgends bewogen finden, im Interesse der französischen GemüthSversassung in dem Trinkspruch des Zaren etwas anderes zu sehen als ein Zugeständniß an die Nervosität einer Nation, mit der ein Bünvniß besteht, deren gegenwärtiger gemäßigter Regierung einen innerpolitischen Vortheil vorzuenthallen man keinen Grund hatte und die auch auf dem Geldmarkt gut zu brauchen ist. . Als Herr Richter kürzlich begann, die Angriffe gegen die Marineforderungen zu forciren, bat uns diese Tactik des demokratischen Agitators mit einiger Zuversicht erfüllt. Er Hl aber alsbald von ihr abgekommen, in der Erkenntniß, daß es von Uebel sei, „sein Pulver zu früh zu verschießen", und er wendet sich jetzt nur mehr abwehrend gegen einen Theil der flotten freundlichen Publicistik, der jener Regel keine Nützlichkeit zuzuerkennen scheint und mit großem Eifer an der Propagi- rnng des Gedankens der Verstärkung der Scewebr arbeitet. Ob das Geschick überall dem Flciße die Waage halt, das ist eine Frage, die wohl nicht so unbedingt zu bejahen ist. Es sollte nicht vergessen werden, daß der Gegenstand der großen Masse viel weniger geläufig ist als die Frage ^er Vertheidigung zu Lande, und daß die auSgedckntercn Forderungen für die Marine, init denen man jetzt hervortrelcn mnß, in Anbetracht der Werthminderung des älteren und nicht rechtzeitig ersetzten Flottenmaterials zwar in Wahrheit nichts Neues sind, aber als etwas Neues erscheinen. Wir haben sckon die Ansicht geäußert, daß auf einen allmählichen Umschwung der Stim mung zu Gunsten der Seewebr gehofft werden kann, Hoch druck dürfte den Proceß aber kaum beschleunigen. Die Münchner „Allgemeine Zeitung" hat dieser Tage eine Berliner Zuschrift folgenden befremdenden Inhalts ver öffentlicht: „Anders als im Süden bleibt hier in der Rcichshauptstadt die Bevölkerung gegenüber den Vorgängen in Böhmen, den gröb lichen Insulten, mit denen die Tschechen den Deutschen begegnen, ziemlich kühl. Seitens der Regierungskreise versteht sich Las von selbst; ängstlicher wie hier kann man sich selbst vor dem leeren Scheine einer Einmischung in die innerpolitischen Verhältnisse Oesterreichs nirgends scheuen. Wer Werlh daraus legt, als Politiker zu gelten, behandelt deshalb die Vorgänge in Pilsen etwa mit demselben Interesse, wie eine kleine Keilerei, weit fern aus den Sundaiuseln. Es ist interessant, festzustellen, wie tief, wenn der Ausdruck erlaubt ist, in der correcten norddeutschen Bevölkerung die Ueber^eugung wurzelt, daß der Nationalitütenkampf in Oesterreich-Ungarn eine rein öste reichische Angelegenheit sei, in welche man sich nicht einznniischen hab. Von einigen Leitartikeln und Correspondenzen aus Böhmen ab gesehen; verlautet über das Donaureich hier nichts. Nur in solchen Eirkeln, welche der Politik fern stehen, und deshalb eine gewisse Frische des Empfindens sich bewahrt haben, begegnet man ernsthaften Sym pathien mit den Sprachverwandten jenseits der Grenze. Charakteristisch bleibt aber auch in diesen Fällen, daß überall eine Art lyrisches Mitgefühl den Grundton bildet. Tie slawische Brutalität empört die Gemüther; die innere Lage Oesterreichs ist viel zu wenig bekannt, als daß man einem zutreffenden, von vollem Verständlich der Situation zeugenden Urtheil begegnen sollte. Ob diese Sym pathiebezeigungen eine weitere Bedeutung annehmen werden, kann man jo lange bezweifel», bis selbst dieses Kunststück etwa einem geradezu unsinnigen Uebermuth der slawischen Völkerschaften gelingt. Politisch ist zur Zeit diese leise Regung hier noch nicht zu werihen." Wir in Sachsen stehen den böhmischen Vorgängen räum lich näher als die Berliner, wir müssen aber gestehen, daß die Haltung der Berliner Politiker nicht nur begreiflich, sondern geradezu geboten erscheint. Wie Lenkt fick denn der Eorrcspondent der „A. Z." die durch den österreichischen Natio- nalitätenkampf hervorgcrufenen „Regungen" beschaffen, die „zur Zeil" iu Berlin politisch zu wcrthcn wären? Die Berliner Presse bezeugt, mit Ausnahme der „Kreuzztg." unv der „Nordd. Allg. Ztg", die hierin in Bayern nickt vergeblich ihres Gleichen suchen müßte, dem Schicksal der Deutschen in Oesterreich eine Sympathie, die an Wärme des Ausdrucks nichts zu wünschen übrig läßt, von einer Parteinahme in anderen politischen Regionen ist es reckt fraglich, ob sie nicht gerade in München Anstoß erregen würde. Was soll der Tadel? Einige Beachtung und sogar etwas Aerger hat ein Auf satz des „Deutschen Adelsblattes" erregt, der auf Grund der Ausschlüsse des Berliner Adreßbuches die sociale Lage der in der N eicköhauptstabt wohnenden Adeligen erörtert. Das Adreßbuch giebt außer dem Namen nur den Stand an, der Verfasser war also darauf angewiesen, von der gesellschaftlichen Stellung auf die ökonomische Position zu schließen, was durchaus nicht in allen Fällen gerechtfertigt ist. Selbst dem Adel an gehörig, hat er recht lwchmiithige Bemerkungen einfließen lassen, die verletzend für das Bürgerthum und gewisse Bcamtenkategorien sind. Man braucht über sie nicht so zornig zu werden, wie eine Correspondenz für Centrums- blättcr, die als Erwiderung nichts Besseres bei der Hand hat, als den Spruch: „Reiten und rauben ist keine Schänd', cs tbun's die Edelsten im Land". Das ist doch Wohl eine allzu weit hergeholle Rcminisccnz. Aber es erscheint zweifellos als eine Beleidigung eines ehrenwerlhen Standes, wenn Adlige, die als Kaufleute und Fabrikanten ihren Unterhalt finden, als gescheiterte Existenzen bezeichnet werden. Notabene, wenn sie in „geringer*, d. h. Wohl be scheidener, Stellung ihr Dasein fristen. Große kaufmännische Betriebe findet der Verfasser „nicht unziemlich für den Adel". Dabei aber unterläuft ihm die Unverschämtheit, auszusprechen, der Kaufmannsstand könnte durch das Hinzutreten vornehmer, solider, nicht von Profilwuth getriebener Elemente auS dem Adelslande nur gewinnen, während andrerseits mancher unter nehmungskräftige Adelige durch das Ergreifen eines größeren kaufmännischen Berufes die sonst gefährdete sociale Position retten könnte. Es wird also den größeren und großen bürgerlichen Gewerbetreibenden prositwüthigeS, mithin sittlich verwerfliches GeschäftSgebahren unterstellt, von dem adeligen Gewerbetreibenden aber, selbst wenn er, um die Position, mit anderen Worten, um sich vor dem Bankerott zu retten, dem Handel und der Industrie sich zuwendet, wird vorausgesetzt, er werde den neugewonnenen Stand veredeln. Es ist ver ständlich, daß man diese Ueberhebung mit Hinweisen auf den Antrag Kanitz, das Project des Gelreideeinfuhrverbotes unv andere Beweise von geschäftlicher Genügsamkeit de» Adels erwidert hat. Was lehrt uns die englische Colonialpolitik? Die „Deutsche Colonialzeitung" schreibt: „TaS große Schauspiel, welches England aus Anlaß des sechzigjährigen Jubiläums der Königin uns bot, mußte jeden denkenden Eolonialpolitiker anregen, den letzten Gründen für die un geheure Weltmachtstellung des englischen Reiches nachzuspüren. Ör. PeterS hat darüber einige Gesichtspunkte in knapper, zum Theil aphoristischer Form unter obigem Titel erscheinen lassen, welche in ihren Grundzügen jedenfalls richtig, wenn auch nicht neu sind. Er findet, daß für die Bildung des englischen colonialen Reiches vor Allem psychologische und politische Momente in Betracht kamen, einerseits die durch aus geschlossene, kühl berechnende, zielbewußte, nüchterne, zähe Art des Volksstainmes, andererseits die demokratische Ver fassung mit ihrer „geordneten Freiheit". Nach seiner Ansicht ist das große Problem, individuelle Bewegungsfreiheit mit gesetzlicher Ordnung zu verbinden, noch niemals so voll kommen gelöst worden, als in Len englischen Ländern. Das Zauberwort, welches diese Lösung bewirkt habe, sei Self government und locale Autonomie. Wenn auch diese Verhältnisse sicher viel zu dem Aus- Fenrlleton. Das Helgoland der Ostsee. Eine Fahrt nach der Greifswalder Oie. Von Hermann Pilz. Nachdruck »erboten. Oft, Wenn ich am Strand des Ostseebades Zinnowitz in den bochanlaufenden, mit grotcSk geformten Kiefern reich be wachsenen Dünen lag, und seewärts auf das wogende Meer blickte, fiel das Auge im Horizonte auf ein phantastisches Nebelbild. In einen grauen Schleier gehüllt, tauchte da gespensterhafl ein Eiland auS den Fluthen. Ein Thurm, Häuser, Bäume hoben sich mehr oder weniger von dem grauen Hintergrund ab, und verschwanden plötzlich wieder wie eine Fata Morgana von der Bildfläche, als ob sie das ewig ruhe lose Meer verschlungen hätte. Und am Abend, da schimmerte goldenes Licht aus den Fenstern ves Thurmes, und auch in den Häusern flackerte eS hell auf und verfinsterte sich wieder, als ob ein Irrlicht va drüben weit über der See sein Wesen treibe. War jene Nebelstadt da drüben der Ueberrest des alten, reichen Vineta, daS um seiner Sünden willen im Meere unterging und nur wenige Spuren seiner einstigen Größe und Herrlichkeit hinterlassen haben soll, jenes stolze Vineta, von dem Wilhelm Müller gesungen: AuS de» MeereS tiefstem, tiefstem Grund« Klingen Abendglocken dumpf und matt, Un» zu geben wunderbare Kunde Bon der alten, schönen Wunderstadt!" Nein, geringer sind die Spuren, welche daS Babel an der nordwestlichen Küste der Insel Usedom zurückgelassen hat. Bei dem nahen Coserow, parallel laufend mit der Damerowküste, befindet sich ein Rifs von Granitsteinen, das etwa eine r/« Meile quer in daS Meer hinrinläuft. Dieses sogenannte Vineta-Riff soll Alles sein, was von dem mächtigen Konstantinopel deS Nordens geblieben ist. Wer freilich das Riff näher untersucht, findet, daß eS auch aus großen, un behauenen Grani steinen besteht, die zum Theil schon beim Ban der Swincmünder Molen Pute Dienste geleistet haben. WaS also taucht sonst da drüben aus der grünen Fluth? Die „Oie", sagten mir die Bewohner hierorts, und als ich im kundigen „Bäveker" nachschlug, da fand ich für da» kleine Eiland inmitten deS deutschen OstmeerS den schönen und völlig zutreffenden Namen: „DaS Helgoland der Ostsee". Ich hatte seitdem Sehnsucht, dieses zweite Helgoland kennen zu lernen, und diese Sehnsucht wuchs, als ich auf den Fahrten nach Rügen in seine Nähe gekommen war. Meine Sehnsucht ist gestillt. An einem sonnigen, seeklaren Nachmittag ging ich mit einem alten, ausgedienten Rad dampfer, dem „Wolliner Greif", in See. Naher und näber kam daS geheimnißvolle Eiland, und bald sah ich, daß der Thurm, dessen Licht ich immer von Ferne herüberblinken sah, ein Leuchtthurm ist, der den einsamen Segler auf der tosenden Fluth vor Klippen und Riffen warnt und ihm, weithin sichtbar, auch Kunde giebt, daß er hier auf dieem welt verlorenen Jnselreich willkommene Bergung, gastlichen Unter schlupf finden kann. Drei Farben hat Helgoland, die in dem Reimspruch: „Roth ist die Kant, grün ist da» Land, weiß ist der Sand, da» sind di« Farben von Helgoland I" enthalten sind. Drei Farben hat auch die Greifswalder Oie mit Helgoland gemein. Grün ist da» Land, gelb ist die Kant und roth ist der Strand! Wir booteten an der nack Rügen zu gelegenen Seite der Insel aus, wo zwei große, steinerne Molen mit mächtigen rothen Granitblöcken unv festen Holzpalissaven ins Meer hineingebaüt sind. Dann klommen wir an den Felsblöcken empor nach einer sehr primitiven Holzleiter, auf der wir die Oberfläche der Insel erreichten. Den bequemen Fabrstubl von Helgoland werden namentlich die Damen, welche der Oie einen Besuch abstatten, schmerzlich vermissen. Oben angekommen, überblickt man eine landwirthschaft- liche Idylle. Dem Agrarier mag das Herz hier oben lauter schlagen beim Anblick dieser goldgelben, üppigen Weizenfelder, dieser körnerreichen, schweren Gerste- und Haferäbren. In der Thal soll diese kleine, meerumschlnngcne Insel den besten Weizen der Welt producireu und ich habe hier Achren von erstaunlicher Größe und Körnerschwere vor mir liegen. Rechts nach dem kleinen Hafen zu erblicken wir dir be scheidenen, aber sauberen Wirtschaftsgebäude der GutS- pächtcrin, die das ruhige, friedsame Jnselreich bewirtschaftet. Sie soll eine streitbare Jnselfürstin sein, die jüngst in einem Processe dem Fiscus ein ansehnliches Sümmchen abgerungen bat und nötigen Falls auch ihre Wasfentüchtigkeit zur Geltung kommen läßt. Bunte Kühe und wollige, gut genährte Schafe weideten auf einem Stoppelfeld, um den saftigen Unterklee zu ver speisen, ein Paar schwarze, unheimliche Seeraben kreisen in den Lüften, ein Paar Dohlen ließen sich schwerfällig auf ein Erbsenfrld nieder, — sonst ließ sich kein lebendes Wesen er blicken, obwohl der Capitain vom Dampfer auS unsere An kunft mit den üblichen Signalen gemeldet hatte. WaS kümmert die Bewohner deS „Oie" der neugierige Fremdling, der ihre Einsamkeit aus Langeweile stört? Die wortkargen, ernsten Bauern und Schiffer der Insel mit ihren scharf markirten, wetlergebräunten Gesichtern haben Wohl ein Herz für den auf der empörten Fluth mit dem Element kämpfenden Fischer in seinem Segelboot, für den modisch auf geputzten Badegast, der von Swinemünde, Ahlbeck, Herings dorf oder Zinnowitz hierher dampft, bleiben sie „kühl bis ans Herz binan". So wanderten wir auf gut Glück nach einem Walde, dessen weitästige Bäume keine große Höhe erreicht haben. Der Weg ging durch Schotenfelder. Das Wälvchen, daS in der Mitte der Insel nach der Ostseite zu liegt, bot vieles Interessante. Wir fanden in der Hauptsache Rothdorn- bäume (Oratuegus vxz acumtim) von einem sonst nie vor handenen Stammumfang, Knödelbirnbäume, Elöbeerbäume, (?irus tormiuülis), Linden, deren eine von vier Erwachsenen kaum umspannt werden kann, Rüstern, Buchen, zu denen sich am Westufer nock kleine Gebölze der eigenartigen, saftig dunkelgrünen Stechpalme (Ilex aguikolium) gesellen. Unter holz, gemischt mit Hagebuttensträuchern, ist ebenfalls reichlich vorhanden. Die Bäume sind meist niedrig, verkrüppelt und mit ihren in Folge dessen in die Breite gehenden Krone in einander verwachsen, waS einen merkwürdigen Anblick bietet. Leider haben dieselben mit einem unerbittlichen Feinde zu kämpfen, dem sie nach und nach alle zum Opfer fallen werden, wenn nicht energisch gegen ihn eingeschritten wird. Die Bartflechte, die Parmelia oder Schildflechte und die rotbgelbe Schlüsselflechte überziehen die Bäume derartig, daß sie ganz ausgesogrn werden und ihre kahlen Zweige er barmungswürdig, hilfesuchend ausstreckcn. Hier müßte die Behörde, der die Oie unterstellt ist, eingreifen, wenn der schöne und interessante Baumschlag der Insel nicht dem Untergang aeweiht sein soll. Dem Botaniker bietet auch die Flora der Insel manches BemerkcnSwertbe, namentlich findet er Männertreu hier in ausgesucht schönen Exemplaren. Durch den Wald kamen wir wieder auf fruchtbare Ge treidefelder und einem Uferweg entlang nach dem Leuchtthurm, der an sich nichts Besonderes bietet, aber einen schönen Rund blick auf das Meer gewährt. Man siebt Rügen in seiner ganzen Ausdehnung von Altefähr bei Stralsund an bis biuauf zur Stubbenkammer, Greifswald, die Bäder der Insel Usedom von KarlSbagen an bis Swinemünde, dessen Leucht thurm collcgialisch in der Ferne grüßt. Beim Leuchtthurm ist die Insel etwa 600 m breit, während sie eine Länge von 1400 m in der Richtung von Nordost nach Süvwcst erreicht. Sie ragt nicht so hoch aus dem Meere wie Helgoland em por, aber die Kante, die sich aus FelSblöckcn und gelbem Moräneulehm zusamniensetzt, hat auch ihre eigenartigen Schön heiten und ist durch zahlreiche vor ihr gelagerte Felsblöcke, welche die Wogen brechen, vor einem weiteren Abbröckeln ziemlich geschützt. Dem Schiffe freilich, daS, des Ortes un kundig, in die Nähe dieser Blöcke kommen würde, drohte eine große Gefahr, denn eine Carambolage mit einem dieser Granitblöcke würde ein sofortiges Zerschellen des Fahrzeuges zur Folge haben. Dagegen bieten diese Blöcke den Meerthieren eine will kommene Ruhestätte in ihrem sonst ruhelosen Dasein. Die alte Ostsee hat zwar keinen Albatroß, keine FulmarS und fliegenden Fische aufzuweiscn, aber leichtbeschwingte, weiß und grau gefärbte Möven folgen ihren Schiffen und Haschen nach ven Leckerbissen, die ans der Schiffoküche in das un ersättliche Meer hinausgeworfen werden. Neben den Möven sah ich auch die schwarzen Seeraben, Kormvrane, mit ihren krummen Schnäbeln einherfliegen, deren gelehrte Verwandte man in China zum Fischfang verwendet. Ein Inselbewohner erzählte mir ferner, daß sich auch Robben, der Grankerl, (llalictioerus grz-pus) und ganze Sckwärme von Schwänen der Insel nähern und auf den Blöcken Siesta halten, doch habe ich mit diesen Tbiercn keine Bekanntschaft gemacht. Es soll der von den Dichtern gefeierte Singschwan ((,'yxnus musicus) sein, der sich hier auf den weißschäumenden Wellen schaukelt. Unfern Vogel-Proletarier, Freund Spatz, sucht man vergeblich auf der Insel. Vom Leuchttburm auS umgingen wir die Insel weiter an der Ostseite und gelangten nach dem Pachtgehöfte zurück. Bei demselben liegt daS „Seemannsheim", ein niedriges, mit Stroh gedecktes, aber geräumiges Gebäude. Man er hält hier einen Trunk Bier, einen Cognac, einen kleinen Imbiß für einen Preis, der bezeugt, daß diese Insel wohl stark vom Meere, aber weniger stark von der Cultur des Festlandes beleckt worden ist. In dem großen Saale des „SeemannSheimS" hängen religiöse Gemälde. Auf den Tischen lag die Bibel und ein evangelisches ErbaunngSbuch. Sonntags werden hier Andachten abgehalten. Ein Prediger kommt nicht nach der Oie und so sind denn die Einwohner oder zureisende Schiffer selbst die Priester, die aus der Bibel und den religiösen Schriften vorlcsen und Gebete sprechen. Es herrscht ein tief religiöser Sinn in den Bewohnern der Oie. Ihre Weltabqeschiedenheit, ihre Einsamkeit, ihre Ver trautheit mit der Natur, ihr beständiges Leben mit dem ge waltigen, rauschenden Meere hat ihnen eine Frömmigkeit bewahrt, um die sic zu beneiden sind. Ich sprach mit dem Leiter de« SeemannSheimS wegen ärztlicher Hilfe. Mit einem schlichten Ernst, der keinen Anflug von ekelhafter Frömmelei batte, erwiderte er mir: „Wir haben nur den einen Arzt, wenn der nicht Hilst, sind wir verloren I" Es leben zur Zeit etwa 30 Menschen auf der Oie, die fremden Schiffer, die hier Bergung im Hafen suchen, durch schnittlich mit eingerechnet. Dieselben gehören zu sechs Familien. Die Oie gehörte im Mittelalter zur Stadt Greifs wald, nach welcher sie noch heute als die „Greifswalder Oie" bezeichnet wird. Heute gehört sie dem preußischen Staat, der sie auf Interpellation des deutschen Fischereivereins hin erworben hat. Die Insel erschien für die Fischerei wichtig, weil daselbst gut ein Notbhafen für die kleineren Fahrzeuge angelegt werden konnte, die zwischen Rügen, Usedom und der Festlandsküste jahraus jahrein verkehren. Dieser Hafen ist denn auch angelegt worden. Er ist geräumig, und auch kleinere Dampfer können zur Notb in ihm landen. Großen Verkehr darf man natürlich nicht in ihm erwarten, und als wir ihn besichtigten, lagen nur zwei Fischerboote darin vor Anker. An den höchsten Stellen ragt die Oie bis zu 18 Metern auS dem Wasser empor, so daß sie, wie schon erwähnt, weithin sichtbar ist. Sie besitzt telegraphische Verbindung vom Leuchttburm aus, natürlich nur, um Signale im Noth- falle zu geben. Die Bewohner erhalten keine Depeschen über die politische Lage, und ich fand, daß die Glücklichen von den Ereignissen der Weltbübne so gut wie keine Nachricht haben. Sie wußten weder etwas von den Friedensverhandlungen im griechisch-türkischen Kriege, noch von der Kündigung deutscher Handelsverträge und fühlten sich trotzdem augen scheinlich recht wohl. Zur Orientirung in weltlichen Ange legenheiten fehlt es an der geeigneten Literatur. Ich fand ein paar kleine Winkelblättchen und die „Gartenlaube" vor, roilä tout! Voll Mitleid ließ ich den zeitunaSlosen Oie- Bewohnern ein paar Nummern deS „Leipziger Tageblattes" zu ihrer weltlichen Erbauung zurück, auS denen ich mich selbst zu vor an Bord des „Wolliner Greif" überzeugt hatte, daß auch ohne mich in meiner Vaterstadt noch Alles den alten, guten Gang gebt. Ich habe es nicht bereut, dem Helgoland der Ostsee einen Besuch abgestattet zu haben. Von allen Seiten vom Meer umgeben, überall dem kräftigen Seewind zugänglich, ist die Luft auf dem einsamen Eilaud eine echte, frische, würzige Seeluft, stärkend wie kaum auf einem anderen. Und dabei dieses idyllische Leben! Diese wohlthuende, paradiesische Ruhe, diese nervenstärkende Einsamkeit! Alle Wirkungen eines Seebades und doch nicht die unliebsamen Zugaben unserer modernen Seebäder mit ihrem geräuschvollen Strand leben. An Badegästen hat es übrigens auch der „Oie" nicht gefehlt. Zur Zeit ist zwar gerade Niemand als „Curgast" anwesend, aber es haben hier schon oft Familien im „SeemannSheim" fick einquartiert, um ohne Curtaxe und Curliste ein behagliches Seebadeleben zu führen. Aus Comsort dürfen sie freilich keinen Anspruch erheben und aus Badecabinen führt sie keine geschützte Treppe in das schäumende Gewässer. Aber sie zahlen für eine Familien wohnung auch nur 12—15 pro Woche. „Je nach den Ansprüchen", sagte der Leiter deS „SeemannSheimS" mit einem gewissen Stolz. Wer weiß, wie lange die Idylle der Oie noch währen wird. Ein Seebad entsteht nach dem anderen, und so gut wie Ueckeritz sich als solches auSgeben darf, darf es die Greifswalder Oie auch. Die Ser war stark bewegt, als wir die Rückfahrt an traten. Eine energische Brise wehte darüber, und der hohe Wellengang ließ das Dampfboot hinüber- und herüber- sckaukeln. Der „Wolliner Greif" tanzte förmlich auf den Wellen und die „Seekranken" verwünschten vie „Oie", aus der eS doch „rein gar nichts zu sehen gebe". Ich blieb see tüchtig, aber ich hätte auch andernfalls nicht in das Klage lied einzestimmt, denn wer auf der Oie nur Augen hat zu sehen, der siebt auch, und spendet dem Helgoland der Ostsee noch auf der Heimfahrt einen freundlichen AbschiedSgruß.
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