02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.09.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-09-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970903026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897090302
- OAI-Identifier
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- LDP: Zeitungen
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- Seiten doppelt vorhanden
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-09
- Tag1897-09-03
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Die Kunde hiervon hatte zahlreiche Damen und Herren bier- hergeführt, die in ihrer Erwartung, bei dieser Gelegenheit den Fürsten Bismarck auS der nächsten Nähe zu sehen, ebenso wenig getäuscht wurden, wie das Heer von Photographen, welches das getreue Gefolge des siamesischen König« bildet und sich überhaupt überall da einstellt, wo es etwas für die Zeitgeschichte zu firiren gilt. Bei der Ankunft des Königs gingen die Wünsche der mit und ohne Momentapparat am Schloßthor harrenden Leute freilich noch nicht in vollem Maße in Erfüllung. Am Bahn gleise fand sich beim Herannahen des Hamburger Zuges allein Graf Rantzau ein, der den König und seine Be gleiter in Empfang nahm, um sie dem Fürsten zuzuführen. Dieser hatte sich kurz nach 2 Uhr auf die kleine Bank nieder gelassen, die links von der Hauptthür des Herrenhauses sich befindet. Hier fand der Fürst durch den etwas vorspringen den Flügel des Gebäudes Schutz vor dem stoßweise außer ordentlich heftig auftretenden Winde. Fürst Bismarck trug Civilkleidung, langschößigen schwarzen Rock, schwarze Hals binde und auf dem Haupte einen Cylinder von stattlichen Dimensionen und höchst ehrwürdiger Form. Um den Hals schlang sich über die schwarze Cravatte ein schmales Ordens band, an dem eine zierliche Dekoration hing: der Orden vom weißen Elepbanten, den der Fürst bereits von dem Baler des jetzigen Königs von Siam erhalten hat. Das Aussehen des Fürsten ließ nichts zu wünschen übrig. Man sieht es ihm nicht an, wie arg ihm an solchen windigen Tagen, wie der heutige einer war, die Gesichtsschmerzen zu setzen. Des kräftigen Stockes, dessen Griff er mit der Linken umfaßt hielt, schien er kaum zu bedürfen. Er stützte sich nur gelegentlich leicht darauf und trat den durch den Park auf das Haus zukommenden Herren mit einigen raschen Schritten entgegen, denen nichts von Altersmüdigkeit anzumerken war. Vor der Thür fand die erste Begrüßung und Vorstellung der einzelnen Herren statt. Außer dem Könige waren dessen beide Brüder, die Prinzen Swasti und Mahisara, sowie die Herren des Gefolges General-Adjutant Phya Tcjo, LegationS- rath Phra Ratnakosa und Kammerherr Mai Cha Aval erschienen. Der Fürst führte den Köniz und die beiden Prinzen in den vor dem Speisesaal liegenden Salon, dessen Fenster Ausblick nach dem Parke haben. Hier befanden sich außer den schon genannten Personen die Gräfin Rantzau und die Nichte des Fürsten Bismarck, Frau v. Kotze geborene v. Arnim. Die drei Herren vom Gefolge des Königs zogen sich bescheiden in das Nebenzimmer zurück, nach welchem die Flügelthüren geöffnet blieben, und waren nicht zum Ein treten in den Salon zu bewegen. Alsbald entspann sich zwischen dem Fürsten und seinem königlichen Gaste eine sehr lebhafte, englisch geführte Unterhaltung, an der bin und wieder auch die Gräfin Rantzau theilnahm. Es wurden Cigarren und Cigaretten, sowie Thee und Cognac gereicht. Der Fürst rauchte seine lange Pfeife, den Cylinderbut batte er neben seinen Sessel auf den Teppich gestellt und seinen Stock daneben über die Armlehne des Stuhles gehängt. Im Laufe der Unterhaltung erbat sich der König vom Fürsten dessen Portrait mit Unterschrift, worauf der Fürst sich Feder und Tinte bringen ließ und seinen Namen auf eine Photo graphie schrieb; aber diese stellt den Fürsten in Civilkleidung dar, und die Wünsche des Königs gingen dahin, eine Photo graphie des Fürsten in Uniform zu erhallen. Von den darauf berbeigeholten Bildern reichte Fürst Bismarck dem Könige eines, welches ihn „in lull ckress", wie er sagte, wiedergab, nämlich in Kürassierunisorm mit dem Stahlhelm, aber der König griff nach der andern, die den Fürsten in General-Jnlerimsuniforin und unbedeckten Hauptes zeigte. Diese sei „elearer", meinte der König. Einer der Begleiter des Königs notirte beständig sehr eifrig in ein Minialnrtaschenbuch, daS er an der Uörkeile trug, was er vom Nebenzimmer ans von den Aussprüchen des Fürsten Bismarck erhaschen konnte. Als die fahrplanmäßige Zeit zur Rückfahrt nach Hamburg gemeldet wurde, erhob sich die ganze Gesellschaft sofort und begab sich vor's Haus. Hier erregte eS das höchste Ergötzen des Königs, als er sich vier thalbereiten Photographen gegenübersah, und er veranlaßte den Fürsten, der ebenfalls lachend die zum Photographiren getroffenen Vorbereitungen musterte, eine Weile vor dem Haustbore stehen zu bleiben, damit die Herren mit ihren Apparaten einige gute Gruppenaufnahmen macken könnten. Die Photo graphen ließen sich diese herrliche Gelegenheit, den Fürsten Bismarck im Cylinderbut und daneben die schlanke Gestalt des Königs Tschulalongkorn aufzunebmen, nicht entgehen, und eS begann zur Belustigung aller Anwesenden jetzt ein Knipsen der Objectiv-Verschlüsse, wie es Friedricksruh trotz Allem, was man dort schon erlebt bat, in einem so kurzen Zeitraum noch nicht gesehen haben wird. Nach ungefährer Schätzung dürsten hier in wenigen Minuten Wohl etwa fünfzig Aufnahmen erzielt sein, die zum größten Theile gut gelungen sein dürsten. Nun schritt Fürst Bismarck Arm in Arm mit dem Könige, den er an Größe um mehr als Haupteslänge überragte, nach dem Bahngleise, wo eine zahlreiche Schaar von Damen, Herren und Kindern die Ankommenden mit fröhlichen Hurrab- rufen empfing. Aber kein Zug war zu sehen, und nach einiger Zeit des Wartens kam die Meldung, daß der Berliner Zug elf Minuten Verspätung habe. Sobald der König dies hörte, bat er den Fürsten dringend, sich nicht länger das ermüdende Stehen zuzumutben, sondern wieder in den Park zurückzugehen. Als der Fürst höflich abwehrte, legte König Tschulalongkorn schnell wieder seinen Arm in den des Fürsten und zog ihn mit sanfter Gewalt nach dem Portierhäuscken hi»; aus diesem wurden vier Stühle geholt, worauf sich der König, der Fürst, die Gräfin Rantzau und Fran v. Kotze hart hinter dem Gitter des Einganzsthores nicderlicßen. Das war wieder einmal eine herrliche Situation für die mit Momentapparaten bemaffnelen Herren und Damen! Als der Zug endlich ankam, begleitete Fürst Bismarck seine Gäste nochmals bis ans Gleis. Der König verab schiedete sich mit herzlichen Worten, bestieg mit außerordent licher Behendigkeit den Salonwagen und winkte dann vom Fenster aus Grüße, während der Zug davonfuhr. Als die Passagiere des vorbeirollenden Zuges den Fürsten dickt vor sich am Eisenbahngleis stehen sahen, mischten sich ihre Hurrahs in die Rufe des den Fürsten umgebenden Publicums, und flatternde Tücher aus allen Fenstern des Zuges winkten dem greisen Schlvßherrn von FriedrichSruh noch so lange Grüße zu, wie der Zug dem Auge der am Wege Stehenden sicktbar blieb. Um 51/4 Uhr machte der Fürst eine Ausfahrt, von welcher er erst nach sieben Uhr, als es bereits stark dämmerte, zurück kehrte. Politische Tagesschau. * Leipzig, 3. September. Von angeblich zuverlässiger Seite wird der „Berl. Börs.- Ztg." mitgetheilt, daß die jüngsten Roden des Kaisers keines wegs als Improvisationen zu betrachten seien, da ihre Grund züge seit geraumer Zeit im prcnstischcn Ltaatsministerium festgestellt würden. Wäre das richtig, so läge kein Grund vor, die Coblenzer Rede des Monarchen, in der er das Königthum von Gottes Gnaden als ein Kleinod pries, „das Königtbum mit seinen schweren Pflichten, seinen niemals endenden, stets andauernden Mühen uno Arbeiten, mit seiner furchtbaren Ver antwortung vor dem Scköpfer allein, von der kein Mensch, kein Minister, kein Abgeordnetenhaus, kein Volk den Fürsten entbinden kann", mit einigen Blättern als den Vorboten einer neuen Kanzlerkrisis uud nicht lediglich als die Betonung eines stark entwickelten monarchischen Pflichtbewusstseins, das mit der Respectirung eines gleichen ministeriellen Pflichtgefühls nicht unvereinbar zu sein braucht, anzusebcn. Die Annahme aber, daß wirklich die Grundzüge der kaiserlichen Reden seit langer Zeit mit dem preußischen Staatsministerium vereinbart zu werden pflegten, steht leider aus schwachen Füßen. Bekanntlich betonte der Kaiser in seiner vielbesprochenen Bielefelder Rede mit besonderem Nachdruck, daß es unerläßlich sei, die Arbeitsfrcihcit zu schützen und mit strengen Strafen Diejenigen zu treffen, die Andere zur Tbeilnahme an Streiks zu zwingen suchen. Servile Fevern erhoben unmittelbar nach dieser Rede schwere Vorwürfe gegen die Gerichte, weil sie nicht schleunigst die bestehenden Gesetze im Sinne der kaiserlichen „Willensmeinung" auslegten und anwendeten; von anderer Seite wurde die bestimmte Erwartung ausgesprochen, daß von preußischer Seile dem Bundesrathe baldigst ein Gesetzentwurf zugehen werde, der dem Terrorismus streikender Arbeiter gegen nichtstreikende ein Ende zu machen versuche. Aber zwei Monate sind seitdem verflossen; neue Terrorisirungen haben stattgcfunden, die gerichtlichen Urtbeile haben gezeigt, daß keine kaiserliche Willcnsmeinung eine in der Gesetz gebung bestehende Lücke ausfüllen kann, und doch verlautet noch keine Silbe von der Absicht, diese Lücke auszufüllen. Die „Schles. Ztg." dringt daher darauf, daß der kaiserlichen Anregung baldigst Folge gegeben werde, uud stellt die gegen wärtige rechtliche Sachlage folgendermaßen dar: „8 153 der Gewerbeordnung verbietet nur die Nöthigung zur Thettnahine an, bezw. die Verhinderung am Rücktritt von der „Verabredung" zur Niederlegung der Arbeit. Die meisten praktisch vorkommenden Fälle von Terrorismus bezwecken aber gar nicht, die Athener zu der ausdrücklichen Theilnahme an der Streik- „Berabrcdung" zu bewegen, sondern es wird nur verlangt, sei es, die Arbeit einzustellen, sei es, Arbeit an bestimmten Stellen während der Dauer des Streiks nicht anzunehmen. In allen diesen Fällen trifft 8 153 der Gewerbeordnung nicht zu, und die Arbeitäw lligen geniesten lediglich Len Schutz des allgemeinen Strafgesetz:s. Dieser Schutz sällt aber nur soweit ins Gewicht, als aust r et oa vorkommenden Körperverletzung auch die Nöthigung dura Gewalt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen oder Bei gehen unter Strafe gestellt ist. Weitaus am meisten wird die Terrorisirung indetz in ter Form der Ehrverletzung, der Verruss- erklaruug oder ganz unbestimmter Drohungen bewirkt, und es kann hier höchstens die Strafe wegen Beleidigung in Frage kommen. Da diese aber nur aus Antrag des Betroffenen eintretcn kann, so braucht über die vollständige Wirkungslosigkeit dieses Rechtsschutzes kein Wort weiter verloren zu werden. Es empfiehlt sich also, den 8 153 der Gewerbeordnung derart zu erweitern, daß von ihm alle Fälle der Terrorisirunq getroffen werden." Man wird vielleicht nicht auf den Umstand, daß Be strafung wegen Beleidigung nur auf Antrag erfolgen kann, das Hauptgewicht zu legen haben. Der große Uebelstand ist, daß in den meisten Fällen eine sittlich und wirthschaftlich unstatthafte Nöthigung vorliegt, ohne daß auch nur durch eine Beleidigungsklage eine Repression berbeigeführt werden könnte. Die Gerichte sehen bei der Beurtheilung des Gebrauchs starker Ausdrücke unter Personen die sich in der gleichen socialen Lage befinden, notbwendigerweise auf die in dem betreffenden Stande übliche Umgangssprache. Ein Wort, das in einem Kreise als schwere Beschimpfung empfunden wird, die der Beleidigte möglicherweise gar nicht ruhig binnehmen kann, ohne seine gesellschaftliche Stellung zu erschüttern, kann in einem anderen Kreise als harmlos gelten. Wenn nun ein Streikagitator ein solches Wort gegen einen Arbeitswilligen gebraucht, um diesem die Arbeit zu verleiden, so ist daS Gericht nicht in der Lage, den Fall anders zu be- urtheilen, als wenn es sich z. B. um die Tbeilnahme oder Nichttheilnahme an einem Vergnügen gehandelt hätte. Das Strafgesetzbuch weiß nichtSvon einemZweckeder Beleidigung. Wenn nun ein Berliner freisinniges Blatt zwar meint — wovon Act zu nehmen ist —, über eine Erweiterung des 8 153 ließe sich reden, aber es ginge entschieden zu weit, wenn in einer Beleidigung schon die Verhinderung an der Arbeit gesehen werden sollte, so trifft die Ein schränkung die Sache nicht. Nicht die Beleidigung soll als Nöthigung angesehen, sondern die Nöthigung soll als solche gerichtlich gefaßt werden können, mag sie nun zu fällig auch als Beleidigung betrachtet werden oder nicht. Die Formen der Verrusserklärung und der unbestimmten Drohung, die schon deshalb, weil sie auf die Angehörigen des Verfehmten oder Bedrohten starken Eindruck hervor- zubringen im Stande sind, viel wirksamer sind als die ter Beleidigung, bleiben ohnehin von jenem Einwande des ForlschrittSblattes vollkommen unberührt. Es ist daher zu erwarten, daß die Freisinnigen wirklich „mit sich reden lassen". In ihre Manchester-Theorie würde ein Widerstand gegen die ausreichende Sicherung Arbeitsbereiter gegen Störungen durch Dritte ganz und gar nicht hineinpassen. Denn nach jener Lehre ist es die einzige wirthschaflliche Aufgabe des Staates, die Freiheit der wirth- schafllichen Bewegung des Einzelnen zu schützen, und ein Arbeiter, der arbeiten möchte, aber aus Furcht vor der Zufügung socialer oder persönlicher Uebel es nicht wagen darf, ist in dem Ge brauche seiner wirthichaftlichen Freiheit beschränkt. Furcht vor einer parlamentarischen Niederlage kann es also kaum sein, was daS preußische Ministerium davon abhält, eine Lücke in der Gesetzgebung auszufüllen, auf deren Folgen hinzuweisen der Kaiser durch das Bewußtsein seiner „furchtbaren Verant wortung" sich angelrieben fühlte. Jedenfalls läßt diese Ver zögerung nicht darauf schließen, daß die Grundzüge der Bielefelder Rede zwischen dem Kaiser und dem preußischen Staatsminislerium vereinbart worden waren. AuS der Rede, die der ultramontane Abg. vr. Porsch in Landshut auf dem Parteitage des CentrumS unter dem stürmischen Beifall seiner Zuhörer über die „römische Frage" gebalten bat, gebt aufs Neue hervor, daß über diese „Frage" eine Verständigung mit dem Ultra- montanismus nicht möglich ist. Man weiß nicht einmal, ob man es für eine ungeheure Naivetät oder für Heuchelei halten soll, daß die Versammlung dem Redner bei der Behauptung zujubelte, die Hauptstadt des geeinigten italie nischen Königreichs könne auch ohne Waffengewalt wieder deca- pitalisirt und zur Papststadt gemacht werden. Für jeden Unbefangenen ist die sogenannte römische Frage keine Frage mehr; sie hat ihre Lösung gefunden, als durch die Bresche der Porta Pia die Soldaten Victor Emanuel'S ihren Einzug hielten. Wie andere faul gewordenen Staatengebilde ist auch die verrottete Herrschaft des Papstes an dem Tage zusammen gebrochen, an dem die sie stützenden Bajonnette der Franzosen nicht mehr vorhanden waren. Or. Porsch, der selbst zugab, daß der Papst der weltlichen Souveränität nicht be dürfe, um als gleichberechtigter Souverän angesehen zu werden, erklärte sie doch für notbwendig, um dem Papste volle Bewegungsfreiheit zu sichern. Aber wann haben diese die Päpste noch gehabt im letzten Jahr ¬ hundert ihrer weltlichen Herrschaft? Englands schützender Arm bat das Papstthum gehalten, als eS 1848 von den Wogen der Revolution hinweggerissen zu werden drohte, und dann sind die Truppen Napoleon's als Wächter der päpst lichen Freiheit aufgetreten. Herr Porsch meinte ferner, Die- Feuilleton» Vermißt. Lj Erzählung von Franz v. Lutter. Nachdruck verboten. An einem naßkalten Novembermorgen war er unterwegs von einer Mühle her, dessen schwer erkrankter Besitzer ihn in der Nacht hatte rufen lasten. Horward saß, dicht in seinen Mantel gehüllt, auf einem kleinen Jagdwagen. Der mit Scknee untermischte Regen schlug ihm ins Gesicht, und der Kutscher bemühte sich vergebens, den müden Gaul auf den aufgeweichlen Wegen in eine schnellere Gangart zu bringen. Der Arzt fröstelte. Finstere Gedanken durchschossen sein Hirn, und vor seiner Seele zogen die letzten Jahre seines Lebens vorüber. WaS war aus ihm geworden in der kurzen Zeit. Als froher lebenslustiger Mensch hatte er die Universität verlassen und war auf Veranlassung der Frau von Sintbcrg, einer nahen Verwandten seines verstorbenen Vaters, in dieser Gegend als praktischer Arzt gelandet. Dann lernte er Ilse kennen, die Braut Äernevs. Seine Gedanken wühlten in der Vergangenheit, er suchte die ersten Zeiten der Bekanntschaft mit seiner Cousine sich zu vergegenwärtigen. Freundlich, liebenswürdig war sie ihm entgegengekommen, und er hatte Gefallen gefunden an ihrem bescheidenen, klugen Wesen. Sie zu lieben, zu begehren, der Gedanke war ihm fern gewesen, sie verfügte ja nicht mehr über ihr Herz, war die Braut eines Anderen. Dann kam der verbängnißvolle Abend. Ilse war mit ihrem Vater verreist, Horward saß im Zimmer seiner Tante und hörte erstaunt ihrem Berichte zu. „Ilse liebt Werner nicht. Sie ist mit ibm zusammen aus gewachsen, da hat sich ein Verhältniß gebildet, wie zwischen Schwester und Brude^. Sie ist sich selbst noch nicht klar über ihre Empfindungen, aber über kurz oder lang wird sie zu der Einsicht kommen, daß ihre Liebe zu Werner nicht die große, allmächtige einer Braut zu ihrem Erkorenen, sondern nur eine verwandtschaftliche ist. Sie bat wenige Herren bisher kennen gelernt, deshalb ist sie auch noch befangen von ihrem Wahne. Es wäre ein Glück, eine Erlösung für sie, wenn man sie aufklärte. Aber das darf nicht geschehen durch Gründe und Worte, sondern sie muß dazu gebracht werden durch die Werbung eines Anderen. Dann wird sie ver gleichen und — wird einseben." Horward schloß die Augen. DaS waren ihre Worte gewesen, eindringlich, überzeugend, und ihm war der erwünschte Gedanke gekommen, ob denn er nicht „der Andere" sein könnte. Sein Wesen wurde ernster und nachdenklicher. Ilse aber zeigte sich liebenswürdiger denn je und bot den ganzen Zauber ihrer Anmutb auf, um ihn zu zerstreuen. Ein Wonneschauer durchbebte seine Glieder in der Er innerung an jene Stunden, die er im Parke, auf kleinen Partien oder am Clavier mit ihr hatte zubringen dürfen. Allmählich, dann aber immer stärker, immer unumstößlicher ward die Ueberzeugung in ihm: ich bin „der Andere". Und mit dieser Ueberzeugung wuchs seine Liebe. Weshalb hatte sich Ilse von ihm zurückgezogen, als seine Augen zu sprechen begannen? weshalb batte sie ihn gemieden, als Leidenschaft auS seinen Worten herausklang. „Pflicht gefühl, nichts als Pflichtgefühl", murmelte Horward, um seine Zweifel zu verscheuchen. „Sie liebt mich doch!" Tausendmal hatte die Tante ihm dasselbe gesagt, und eS war fast zur fixen Idee bei ihm geworden. Nur eins hatte sie ihm verschwiegen: daß sie danials Ilse beschworen hatte, Horward mit aller Liebenswürdigkeit zu behandeln, da eine in seiner Familie erbliche Sckwermuth bei ihm auSzubrechen drohe, die das Schlimmste befürchten lasse. Der Gaul halte sich bis zum nächsten Dorfe durch gearbeitet. Vor dem Posthause war eine große Menschen menge versammelt. Die Leute standen in leisem ernstem Gespräche nebeneinander, bisweilen durchzilterte ein klagender Seufzer die Luft. Horward ließ halten und erkundigte sich nach der Ursache der Ansammlung. „Vorgestern sind unsere Bayern bei Coulmier» geschlagen." „Die Verluste sollen nach Tausenden zählen", fügte rin magerer Schreiber wichtig hinzu. „Huber's Fritz ist auch dabei gewesen." „Und Radler's Peter auch." Geschwätzig berichtete die Menge, WaS der Posthalter aus der Zeitung vorgelesen batte, und was die lebhafte Phantasie des Einzelne» schnell hinzudichtete. Der Arzt befahl dem Kutscher, weiter zu fahren. Die Stimmen verhallten, in seinem Ohre klang nur nach: „Bei Coulmiers geschlagen. Große Verluste." Werner! Werner mußte dabei gewesen sein! Sein Heez pochte in wilden Schlägen, seine Wangen glühten. „Wenn er ". Fort mit dem scheußlichen Gedanken! Aber wenn cs nun der Himmel doch gefügt hätte, wenn Werner von einer feindlichen Kugel getroffen . Er mahnte den Kutscher zu größerer Eile. Eine fieberhafte Erregung batte ihn ergriffen, die er vergebens niederzukämpfen strebte. Hoff nung erfüllte feine ganze Seele, aber er wagte es sich nicht, einzugestehen. Denn wie ein Alp lastete ein unbestimmtes Angstgefühl auf ibm. Ter bessere Geist in ihm rief es her vor und trieb große Schweißperlen auS seiner Stirne. Hin zu der Tante, schnell, nur schnell I — Und wie er der Tante gedachte, wurde er ruhiger. Der Kampf der beiden Nature» in seinem Innern, an dem der Verstand nicht Tbeil hatte, ließ nach, sein guter Engel unterlag, denn er hatte den Teufel beschworen. Fran von Sintbcrg blickte erstaunt ihren eintretenden Neffen an. „WaS ist passirt?" Horward berichtete kurz, was er unterwegs erfahren hatte, und ließ sich erschöpft auf einem Stuhle nieder. Eine jähe Rötbe beschattete das Gesicht der Fran, der indessen schnell fahle Blässe folgte. Ihre Augen glübten unheimlich, krankhaft. Sie errieth die Gedanken ihres Neffen. „DaS wäre gegen meinen Wunsch", entschlüpfte eS ihr unwillkürlich. „Nein, nein, das darf, das kann nicht sein, das — —" sie unterbrach sich, der Ueberraschnng folgte die Ueberlegung. „Wer sagt Dir, daß Werner unter den Gefallenen sich befinde?" „Mir? Kein Mensch, ick babe ja nichts davon erwähnt." „Aber Du dachtest, Du wünschtest eS." „Und wenn ich es gewünscht hätte, wer hat denn diesen Wunsch in mir großgezogeu?" „Schweig!" Frau von Sintberg herrschte ihn barsch an, ihre Züge hatten einen eisigen Charakter angenommen, und drohend schaute sie auf ihren Neffen herab: „Werner lebt, ich will, daß er lebt! Du wirst Dich bemühen, diese Ueber zeugung auch Ilse beizubringen!" „Aber Tante, ich verstehe Dich nicht " „Das wirst Du nie. Jetzt aber gehorchst Du!" Sie verließ das Zimmer. Horward sah ihr verblüfft nach, er wußte nicht, was er von seiner Tante halten sollte, aber er wagte gegen ihre Befehle nichts zu unternehmen. Sein haltloser Charakter lag völlig in den Fesseln der energischen Frau. Ilse war unter der Wucht der schlimmen Botschaft zusammengebrochen. Horward hatte ihr zwar mit aller Vorsicht von dem Gefechte erzählt, er batte die Verluste geringer dargestellt, als sie in Wirklichkeit waren und be zweifelt, ob Werner überhaupt an dem Kampfe Theil genommen habe. Gleichwohl erschrak sie bis zum Tode. Seit längerer Zeit war von ihrem Verlobten kein Brief ein getroffen, sie fühlte, daß Horward sie schone, und eine ent setzliche Angst, die ibr die Sinne zu rauben drohte, hielt sie gefangen. Keine Klagen, keine Thränen erleichterten ihr Herz, in stummer Verzweiflung verbrachte sie die Tage und die schlaflosen Nächte auf ihrem Zimmer, kaum das Notb- wendigste zur Erhaltung deS Lebens genießend. Die Liste der Gefallenen, auf der auch Werner unter den Ver mißten aufgeführt war, rief kaum einen tieferen Ein druck bei ihr hervor. Sie batte ihre Hoffnung be graben, und eS war überflüssig, daß ihr Frau von Sintberg täglich die Ueberzeugung beizubringen suchte, sie dürfe sich nicht an das Wort „vermißt" klammern. Werner sei unzweifelhaft todt — es war überflüssig, daß Horward täglich die Versickerung wiederholte, ihr Bräutigam sei sicher lick nur in Gefangenschaft geratben und werde bei nächster Gelegenheit eingelöst werden. Ilse verhielt sich gegen Alle« völlig apathisch. Sie gab auch kein Zeichen irgend welcher Antheilnahme, als kurz darauf die Ueberführung ihre» Vater!
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