Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 04.10.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-10-04
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18971004022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897100402
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897100402
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-10
- Tag1897-10-04
- Monat1897-10
- Jahr1897
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Vszu-r-Prett «L d« Vororten errichteten Lu»- llrn abgrholt: uterteljLhrlich^»«^ ».—. Dirrcre täglich« Kreuzbandseiiduog tu» LuSlalld: mouaütch 7.S0. DK Morgen-Ausgab« erscheint mn V«? llhr, dk Abeud-Allsgabe Wochentag» um b Uhr»/ Nr-actiou u«d Erve-Mo« > Iohanne-gasse 8. Dir Expedittou ist Wochentag» ununterbrochen »«»ffuel vo» früh 8 bi» Abend» 7 Uhr. Mialnr:' Dtt» Klemm'» korti». (Alfred Hahn), Uutversitätrstrahe S (Panliuum^ LoniS Lösche» Kuthariuenstr. 14, pari, mrd Köuig»plah 7. Wend-Ausgabe. MpMer. Ta-MM Anzeiger. Atttlsvlatt des Äömglichen Land- und Ämtsgenchles Leipzig, des Mathes «nd Molizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. AtszeigewPreßA die S-efpaw« PetttzeHe VN Pf-. (S gespalMn) 40/4. Dröhere Tchrtftt» laut unsere« ..Drei», mrjeichnih. r«bellarifch«e und Liss«ns«s Extra »Vetlage« (g«sal»t), »ar mit b« Morgen-LuSgabe, oha« Postbes-rderuat SL—, mit Vostbesörderung 70.—^ ÄnvMmeschluß fLr Anzeigen: Lbrud-Lnsgab«: vormittag- 10 Uhr. Morge»-Ln»gab«: Nachmittag» - Uhr. vei den Filialen «nd Annahmestelle« je eia» halb« Stund« früher. Anreisen find stet» an die Expedition za richte». Druck and Verlag von T. Polz in Leipzig 598. MSWSM-NMWWMSSSSSWSSSMSS» Montag den 4. October 1897. 91. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 4. October. Die Frage der ArbeilSloscnverficherung ist, seitdem in Bern vor fünf Zähren der erste Versuch ihrer Lösung gemacht wurde, nicht wieder zur Ruhe gelangt und wird wohl in den nächsten Jahren nicht von der Bildfläche ver schwinden. Die bisherigen praktischen Erfahrungen sind bekannt lich keine sehr günstigen gewesen, ja im Canto« St. Gallen ist die bereits eingesührte Versicherung im vorigen Jahre durch Volksabstimmung wiever aufgehoben worden. Unter den anderen Städten, di« sich an diesem Problem versucht haben, steht in Deutschland Köln obenan, indessen ist die Zahl der versichern i Personen hier bisher zu gering gewesen, um Schlüsse auf die praktische Durchführbarkeit eines Ver suchs im Großen zu gestatten. Neuerdings hat sich der Parteitag der deutschen Volkspartei in Ulm mit der Frage eingehender beschäftigt. Ein Antrag Sonne- mann wollte die Partei für Einführung der kommu nal en Arbeitslosenversicherung gewinnen. Wir wollen hier nicht untersuchen, inwieweit der Wunsch, den Socialdemokraten in der nächsten Reichstagswahl etwas Wind auS den Segeln zu nehmen, Vater Les Gedankens gewesen ist. Die Partei hat einen Ausschuß zur gründlichen Prüfung eingesetzt und dieser Ausschuß har jetzt feinen ersten Bericht mit revidirten Grundzügen eines Reichsgesetzes zur kommunalen Versicherung gegen Arbeitslosigkeit herauSgegeben. Der Gesetzentwurf unterscheidet Arbeiter, bei denen die Arbeitslosigkeit nicht zu gewissen Jahreszeiten wiederkehrt, und solche, bei denen dies der Fall ist; jede dieser Classen ist in drei Stufen je nach dem Einkommen getheilt. Der Beitritt soll obligatorisch sein; für vie Beiträge der Arbeiter und Arbeit geber sind wöchentliche Maxima angenommen, die in der höchsten Classe (Saisonarbeiter mit mehr als 24 Wochenlohn) für den Arbeiter 40 ^s, für den Arbeitgeber 20 betragen, während der Zuschuß der Ge meinde nicht 4^ jährlich für die ständigen und 6-E für die Saisonarbeiter übersteigen soll. Anspruch hat jedes Mitglied sechs Tage nach erwiesener schuldloser Arbeitslosigkeit und nachdem cs 26 Wochen lang Beiträge geleistet hat. Aus genommen sind Ausstände und die Fälle, in denen die Reichs versicherung eiugreift. Die Schuldlosigkeit wird vorausgesetzt, das Gegentheil ist zu beweisen. Der Mmdestbetrag der Leistung ist t der Höchstbetrag 2>/z -E täglich, verbeiratbete Arbeiter erhalten mehr. Die Verwaltung der Casse ersolgt durch die Gemeinde. Mit der Casse soll ein Arbeitsnachweis verbunden werden. Ob die Casse eingeführt werden soll, ist für die Gemeinde Sache freier Entschließung. Die „Köln. Ztg" macht gegen diesen Entwurf die folgenden Bedenken geltend: „Keine größere Gemeinde wird sich zu einer solchen Zwangs» Versicherung entschließen, ehe sie jahrelang statistische Beobachtungen ans diesem Gebiete gemacht hat. Die Reichsstatistik über die Arbeitslosen genügt nicht, denn sie erstreckte sich nur ans ein Jahr, bas man als ein für unsere Industrie recht günstiges bezeichnen darf, in dem also die beklagens, werlhe Erscheinung der Arbeitslosigkeit weniger hervortrat. So lange man nicht für Zeiten ungünstigerer Geschäftslage zuver» lässige Zahlen gesammelt hat, kann von einer genauen Einsicht in die thatsächlichen Verhältnisse des Arbeitsmarttes nicht die Rede jein, und die Einführung dec geplanten Veisicheruug wäre ein Sprung ins Dunkle. Der Hinweis aus die Unfall- und Krankenversiche rung ist verfehlt, denn dabei handelte eS sich um im Wesentlichen un veränderliche Factoren, während hier das Gegentheil der Fall ist. Den Hauptsactor, den Arbeitsmarkt, darf man als eine völlige Unbekannte bezeichnen, und bisher sind die verschiedenen Versuche, diesen näher zu bestimmen, gerade der Zankapfel der verschiedenen wirthschaftspolitischen Richtungen gewesen. Dazu kommt noch ein zweites unsicheres Moment. Der Entwurf schließt die durch Aus- lände verursachte Arbeitslosigkeit aus, während er auf der andern Seite die Schuldlosigkeit der Arbeitslosigkeit als wesentlich bezeichnet. Ist nun aber rin Arbeiter, der sich an einem Ausstand gezwungen betheiligt, oder der weiter arbeiten will, aber durch den Stillstand der Fabrik davon abgehalten wird, an seiner Arbeitslosigkeit Schuld? Bei Aussperrungen auf der andern Seite soll die Versicherung ein- treten. Ist eS nicht aber häufig schwer zu bestimmen, was AuS- stand und wa» Aussperrung ist?" Die hier aufgezählten Bedenken sind aber noch nicht ein mal die fckwersten. Jedenfalls würden durch eine Last, wie sie der Entwurf für die Gemeinden in Aussicht nimmt, am fchwersten die ohnehin zumeist schwer genug belasteten Com- munen der großen Jndustriecentren betroffen, deren Einnahmen zudem überaus ungleich sind. Jede von ihnen müßte sich sagen, daß ihr die freiwillige Uebernabme der neuen Last gerade in den schwersten Zeilen eine Bürde bringen würde, die nicht zu tragen wäre. So würde voraussichtlich kaum eine dieser Gemeinden freiwillig zur Errichtung einer solchen Casse sich entschließen und diese Cassen würden nur da entstehen, wo sie am wenigsten nötbig wären. Was aber wäre damit geholfen? Nichts, was den Schaden wieder gut machen könnte, der durch die Verstimmung rer in den großen Industrie städten angesammelten Arbeiter herbeigefübrt werden mutzte. Jedenfalls ist der Boven der Gemeinde nicht breit und nicht gleichmäßig genug, um ein so großes Gebäude tragen zu können. Der Entwurf Hal daher auch nicht die geringste Aussicht auf Erfolg, er kann nur dazu dienen, aä oeulos zu demonstriren, daß die Frage der Arbeitslosenversicherung noch nicht spruch reif ist. Daß eine von einer polnischen »nd noch dazu von einer radicalen Partei eingesetzte Commission in der Lage sei. Wesentliches zur Lösung auch nur der Vorfragen bei zutragen, ist überhaupt sehr zweifelhaft. Einer solchen Com mission öffnen sich nicht alle Tbüren, hinter denen die wich tigsten Auskünfte zu erhalten sind. Und die unreifen Vor schläge und Entwürfe einer solchen Commission können eher dazu sübren, den berufenen Factoren die Arbeit an der Sache zu verleiden, als diese Arbeiten zu fördern. Der „Gustav-Adolf-Verein", der sich ganz außer ordentliche Verdienste um das Teutschthum i» Vcn Lsimarkcn erworben, hat auch auf seiner letzten Generalversammlung sich mit dem Deutschthum in den Ostmarken beschäftigt und dadurch die „Köln. Vztg", das Organ des von seiner Agitations reise nach Bomst-Meseritz in rebus polouicis „sachverständig" gewordenen Abg. l)r. Ba ch e m, sehr verstimmt. Mehr verstimmt sogar, als der würdige Protest,den erfreulicherweise nun auch der Präsident des preußischen Oberkirchenrathes gegen den bekannten päpstlichen CanisiuSerlaß erhob. Hierbei Hal das klerikale Blatt eigentlich nur zu bemängeln, baß so viele Redner auf das päpstliche Rundschreiben eingegangen sind. Sehr beredt wird es hingegen wegen der Tätigkeit deS Vereins in den Ostprovinzen. Wir lasten, weil wir gerade in der Lage sind, die Fürsorge des KlerikaliSmus uni die Verhältnisse im Osten durch einen Beitrag aus dem polnischen Lager zu illustriren, die Hauptsätze folgen: „Besonders laut ertönen die Klagen aus den polnischen Landes- theilen. Hier weiß man so schön die protestantische Propaganda mit dem „Kamps für das Deutschthum" zu verquicken und zetert über römische Unduldsamkeit und polnischen Fanatismus, wiewohl man immer weiter in rein katholische Gegenden eindringt. Die „große Liebesgabe" erhielt diesmal das Dorf Jezewo, wo es schrecklich hergehen muß. Der polnische Fanatismus giebl sich hier durch unerträgliche Störungen des Gottesdienstes der Evan gelischen kund. Polnische Rüpel stimmen während des Hallelujah in der Liturgie draußen ein brüllendes Hurrah an! Die „unerträglichen Störungen" scheinen auf einen Fall zurück- gesührt werden zu müssen, in dem junge Leute draußen laut gewesen (!) find, während in der Kirche gesungen wurde .... Daß die Protestanten ihren Glaubensgenosten in der Diaspora eine geordnete Seelsorge zu verschaffen suchen, ist recht und billig. Aber ist denn gar kein Geld auszutreiben, ohne daß man Schauergeschichten über römische Unduldsamkeit, „An- iechtungen von Römischen", „unerhörten Fanatismus" u. s. w. erzählt? Uns Katholiken fällt es nicht ein, die Opferwillig keil für die Glaubensgenossen in der Diaspora damit anzuregen, daß wir von der protestantischen Intoleranz reden. Und doch weiß alle Well, daß es den Katholiken weitaus schlechter in der Diaspora geht, als Len Protestanten, und die wirkliche Unduldsamkeit auf protestantischer Seite ist. Wirwürden uns aber schämen, wenn bei uns nicht die einfache Thalsache, daß es sich um Glaubensgenossen handelt, die der Seelwrge ermangeln, hinrcichen würde, milde Hände zu öffnen. Muß man auf pro- testautiicher Seite denn immer wieder den Beweis liefern, Laß man nichts hat als den Gegensatz und Len Haß gegen Rom, um sich anzuregen?" Diesen Auslastungen bitten wir nun einmal einen Artikel des gut-katholisch en, aber polnischen „Postemp" über eine katholische Veranstaltung in Kirchlinke gegenüberzustellen, den wir in getreuer Uedersetzung einschließlich der Ausführungs zeichen hier folgen lassen: „Wer sich unter die Treber mischt, den fressen die Schweine." Die Wahrheit und der gesunde Sinn dieses Sprichwortes zeigte sich recht deutlich bei dem hiesigen „Verein des heiligen Marlin". Dieser Verein veranstaltete sein alljährliches Stiftungs fest, zu welchem er neben einigen - anderen Vereinen auch seine „deutschen Freunde" eingeladen hatte, wahrscheinlich deshalb, nm von den hiesigen Pfarrern, welche den Polen gegenüber feindlich gesinnt sind, bei dem Gottesdienst den Segen zu erhalten, um Lessen Willen man mit der Fahne nach der Kirche geeilt war, indessen mit langer Nase zurück- kehrte, da der Pfarrer den Segen versagte. Nachdem man in Len Saal zurückgekehrt war, begann nach Absingung eines Liedes das Fest, an dem außer einer ziemlich großen Anzahl Polen auch eine große Anzahl Deutscher theilnahmen. Wir wissen aus Erfahrung, daß in jeder Versammlung, wenn auch an ihr IM Polen theilnehmen und nur ein Deutscher, die ganze Lonversation deutsch geführt werden muß, denn der Deutsche ist dünkelhaft und dabei mißtrauisch und er glaubt, wenn Jemand in einer Sprache spricht, welche er nicht versteht, daß man von ihm Schlechtes redet, ganz natürlich wie jeder Mensch, der kein reine» Gewissen hat. Ebenso trug sich die Sache auch hier zu. Aus dem polnischen Vergnügen entwickelt sich bei dem großen Andrange von Deutschen ein rein deutsches Fest mit noch verschiedenen Beinamen für die gutwilligen Polen, wie dummer Pole rc. Das gefiel natürlich unseren Polen nicht und sie singen an, den Deutschen wegen ihres unangemessenen Betragens Vorwürfe zu machen, wobei es in Anbetracht der bereits angeheiterten Gemüther bald zu einem heftigen Wortstreit und schließ- lieh zu einer Schlägerei kam, bei welcher in dem Saal, wie man sagt, kein Stein auf dem anderen verblieb, denn sämmtliche Sessel und Stühle wurden zerbrochen und Gläser und Scheiben zertrümmert. Und das Ende war, daß die Polen die Oberhand behielten, aber was hatte dies für einen Zweck? Als die Sieger den verwüsteten Saal ver lassen hatten, kehrten in denselben die fortgelaufenen Deutschen zurück und hier zeigten sie ihren Muth an den übrigen, noch ganz gebliebenen Gcrälhschasten, wobei sie Alles vollständig demolirten. Und was ist der Epilog dieser schönen Feier? Beulen, blaue Stellen, Wunden und Krankenhaus für die Theilnehmer und ein reichliches Material für dir deutschen Blätter, um dir Polen zu verleumden." Daß es, hiernach zu urtheilen, deutschen Katholiken — denn um solche handelt es sich hier ausschließlich — in der Diaspora, sobald sie „sich unter die Treber mischen", noch „weil schlechter" geht, als unter Umständen den Pro testanten, ist danach allerdings nicht zu bezweifeln. Denn die letzieren haben wenigstens keine deutsche Partei im Rücken, die ihnen unter dem Vorwand, die gleichen religiösen Be dürfnisse zu verfechten, bei der Abwehr gegen die polnische Ueberhebung allezeit in den Rücken fällt. Der Präsident der französischen Republik, Faure, hat nunmehr den Pariser Polizeipräfecten LS pine zum General- Gouverneur von Algier ernannt. Die Weigerung des früheren Pariser Polizeipräsecten und gegenwärtigen franzö sischen Botschafters am österreichischen Hofe Lozä, den General-Gouverneurposten anzuurhmen,wird inzwischen von der gesammten französischen Presse um so lebhafter erörtert, als das „Journal osficiel" bereits die Ernennung amtlich publicirt hatte. Mit Fug wird nun darauf hingewiesen, daß Liese Veröffentlichung einen Verstoß gegen alle Regeln diplomatischer Courtoisie darstelle. Hätte doch der Botschafter zunächst von seinem Posten abberufen und dann für einen andern ernannt werden müssen. Die französische Regierung wußte überdies, daß Herr LozS durchaus abgeneigt wäre, die Nach folgerschaft ceS Herrn Cambon zu übernehmen, der sich in Algerien allem Anscheine nach unmöglich gemacht hat. Während nun in Frankreich mehrfach angenommen wird, daß der bisher noch nicht abberufene Botschafter in Wien für seine Weigerung durch seine unfreiwillige Entlassung bestraft werden würde, liegt in der letzten Nummer des „Figaro" rin Bericht vor, laut dessen Herr Loz6 selbst dafür hält, daß seine Situation keine Veränderung erfahren habe. „DaS „Journal officiel", äußerte er, „hat keine diplomatische Bewegung verzeichnet, ich war nickt in der Lage, mein Abberufungsschreiben zu über reichen; ich bleibe also Botschafter in Wien, was mir als ein zur Genüge beneidenSwerthes Loos erscheint." Jedenfalls zeugt diese Sprache von Zuversichtlichkeit. Da nun der Fall deS französischen Botschafters in London, des Barons de Courcel, beweist, daß die französische Regierung keineswegs eine große Auswahl von Diplomaten besitzt, könnte Herr Loz4 Recht behalten. Hat doch Baron de Courcel bereits vor einer Reibe von Monaten seine Entlassung eingereicht und sich sogar in den Verwaltungsrath einer großen Eisenbahn gesellschaft wählen lassen, ohne daß die Regierung bisher im Stande gewesen wäre, ihm einen Nachfolger zu geben. Was Herrn LozS betrifft, so wird allerdings von anderer Seite Götzendienst. 24j Roman in zwei Theilen von Woldemar Urban. Nachdruck verboten. Mitternacht war lange vorüber, als Leopold Hartwig sinnlos betrunken endlich wieder in seiner Wohnung an langte. Auf der Treppe stürzte er, unfähig sich wieder auf zurichten, zusammen und schlief, quer über die Stufen gelegt, bis ihn am Morgen die Flurnachbarn auffanden und vollends hinauftrugen. HI. Tage kamen, an denen auch der deutsche Frühling seine ganze Kraft und Schönheit entfaltete und seinen alten Ruf, der schönste in den europäischen Ländern zu sein, bewährte. Duftend und weithin leuchtend im neuen zartgrünen Kleide prangte Wald und Wiese und in den kleinen Obstgärtchen der Häuserchen von Heblingen standen die Bäume mit weißen und blaßrothen Blllthenschleiern überzogen. Die Sommervögel waren zurllckgekehrt und belebten Wald und Feld mit ihrem langvermißten Gezwitscher. Die ganze Natur lag wie in einem neuen Schöpfungstraume, dem sich auch der Mensch nicht zu entziehen vermochte. Bewußt oder unbewußt regten sich in den Gemllthern wieder die alten im Wsnterfrost erstarrten Träume von des Lebens Lust und Liebe, ahnend stiegen in der Seele die uralten ewigen Wunder herauf — Jahrtausende derselbe Vorgang und doch jede? Tag und jedes Gefühl im Frühling wie neugeschaffen! Das wäre nun Alles ganz schön gewesen, wenn nicht der endliich anbrechende warme Frühling auch neue Toiletten für die eüegante Welt oder Aenderung der alten für die minder elegante Welt erforderlich gemacht hätte. Alle Welt fühlta in dieser Beziehung Bedürfnisse, Moser und Comp. Hattert alle Hände voll zu thun und Fräulein Lieschen war das geplagteste Geschöpf in der ganzen Residenz. Sobald sie sich pur in den Geschäftsräumen sehen ließ, hatten auck alle Ampesenden schon Aufträge für sie — und manchma AufträgeVder verwickeltsten Art. Fräulein Lieschen hier und Fräulein zLieschen dort, oben und unten, hinten und vorn. Und das arme Kind trabte geduldig von früh bis spät und ieß gelassen alle die nörgelnden Capricen der verwöhnten Kundschaft über sich ergehen. Sie wurde sozusagen zum Puffer zwischen der Kundschaft und dem Personal des Ge- chäfts. Die unvermutetsten Grobheiten erhielt sie von leiden Seiten und — steckte sie ruhig ein, im Bewußtsein, nun einmal vom Schicksal dazu ausersehen zu sein, zu rennen und zu traben. Alles zu hören. Alles zu sehen, zu hantiren den ganzen Tag, um anderer Leute Neigungen, Liebhabereien und Capricen zu erfüllen. „Das ist eine ganz verwünschte Geschichte!" raisonnirte Herr Moser, aufgeregt, wie er es in dieser geschäftseifrigen Zeit immer war. „Wo ist Fräulein Lieschen? Und das ist ein ganz vertracktes Frauensbild, diese Spaniolin. Lieschen — he, Fräulein Lieschen — wo stecken Sie denn?" Fräulein Lieschen, die eben von einem Kundengang zurückgekehrt war, trat bei ihm ein. „Sie wünschen, Herr Moser?" „Ei, was ich wünsche, das ist verdammt gleichgiltig, Fräulein Lieschen; es handelt sich vielmehr darum, zu wissen, was Fräulein Donnerwetter, wie heißt sie doch gleich, Fräulein Lieschen? Sie wissen — die fremde Herr schaft, die da jetzt auf Schloß Heblingen wohnt". „De Melida, Herr Moser". „Richtig, de Melida. Der Henker mag alle die fremden Namen merken. Da schickt nun die junge Dame, Fräulein Felicia de Melida zum drittenmal die Mantille zurück und läßt dazu ganz niedlich und grob sagen, daß Moser und Comp. nicht verstünden, eine Mantille anzufertigen. Da hört denn doch Verschiedenes auf. Moser und Comp. keine Mantille machen! Noch dazu für eine solche verdrehte Spaniolin. Moser und Comp. haben schon ganz andere Mantillen gemacht und für aanz andere Leute, als solcher Hidalgo-Adel. Es handelt sich aber jetzt um die Geschäfts ehre von Moser und Comp., Fräulein Lieschen, verstehen Sie? Um unsere — um meine Ehre! Wir müssen wissen, was Fräulein Felicia de Melida eigentlich will". »Ja, Herr Moser!" „Also, nur rasch — packen Sie den ganzen Kram zu sammen und hinaus nach Schloß Heblingen! Sie sind ja „güt' Kind" bei der alten Gräfin Kreuz und wenn es irgend Jemand fertig bringen kann, die Mantille zur Zufriedenheit des jungen Fräuleins zu dessiniren, so sind Sie es, Fräulein Lieschen. Sie haben die erforderliche Geduld dazu und die alte Gräfin wird Ihnen schon helfen, so gut es geht. Vor wärts also, mein Kind, und thun Sie, was Sie können. Sie sollen auch eine Extraverglltung erhalten und auf Geld kommt es überhaupt nicht an. Aber das sage ich Ihnen, Fräulein Lieschen — wir wollen wissen, was die Spaniolin wünscht. Es geht um die Geschäftsehre — verstanden?" »Ja, Herr Moser". „Na, denn in Gottes Namen vorwärts, Adieu, Fräulein Lieschen". „Adieu, Herr Moser". „Und bleiben Sie nicht zu lange, es giebt heute viel zu thun". * „Nein, Herr Moser". Fräulein Lieschen packte den ganzen luftigen Plunder in eine von ihren großen Pappschachteln mit Lederriemen, die nun schon zu ihrem täglichen und stündlichen Gepäck gehörten wie etwa bei Anderen der Regenschirm oder der Spazierstock und machte sich flink und leichtfüßig, wie sie immer war, auf den Weg nach Heblingen. Sie dachte heute nicht im Entferntesten daran, sich einen Wagen zu nehmen, das Wetter war ja so herrlich; die jungen Saatfelder wogten im Winde, die zartgrünen Halme schimmerten in der Sonne, die Lerchen stiegen schmetternd in den Aether und Alles war eine ganze, einzige Frühlingswonne. Und sie mußte sich nun das Alles so wegstehlen, durfte es nicht so genießen, wie Andere, die reich und Herr ihres Willens und ihrer Ziele waren. Fräulein Lieschen ging etwas langsamer und ließ nachdenklich das hübsche Blondköpfchen hängen. Wie glücklich und wie dreimal selig waren doch die, die wie Fräulein Felicia Melida Alles in der Welt genießen konnten mit frischem Herzen und mit vollen Zügen. Thränen traten ihr in die Augen und wehmiithige Frühlingsträume rangen sich auch aus ihrer verschüchterten Seele los. Sie war ja noch so jung, so weltneu, ihr Herz noch so frisch und kräftig und ihre Seele wie ein unbeschriebenes Blatt. Warum also hätten ihre Frühlingsträume nicht in alle Weiten und Fernen gehen sollen? War sie nicht auch ein junges Mädchen, ein frisches, lebens- und liebe bedürftiges Gottesgeschöpf? Nein — eigentlich war sie das nicht und deshalb traten ihr auch die Thränen in die Augen. Daheim war das Elend zu Haus und sie durfte nicht hoffen, wo Andere hofften und die Erfüllung sahen. Ein schwarzer Schatten lag auf ihrem Lebensweg — das Laster des Vaters, der Verfall ihrer Familie — das Elend. Aus diesen Betrachtungen fuhr sie erst auf, als sie über den Schloßhof von Heblingen ging. Verwundert sah sie sich darin um. Was war denn in dem sonst so stillen Ahnen schloß der Grafen zu Kreuz vorgefallen? Eine Menge Leute mit braunen und gelblichen Gesichtern standen herum und schwatzten in Sprachen, von denen keine Seele in Heblingen ein Wort verstand. Fremde Leute, fremde Ge sichter und fremde Trachten; bunte, um den Leib geschlungene Schürzen und Hosen, die auf mexikanische Art aufgeschlitzt und mit bunten Seidenstoffen ausgeputzt waren. Der ganze linke Flügel des Schlosses, der sonst immer unbewohnt und mit seinen verschlossenen Läden wie träumend dastand, zeigte ein völlig verändertes Aussehen, die Laden und zum Theil auch die Fenster waren geöffnet, frische Vorhänge hatte man überall aufgesteckt und hier und da blickten fremde Gesichter neugierig heraus. Gaffend stand im Hofe die Heblinger Schuljugend umher und bestaunte mit naiver Bewunderung die seltsamen Menschen und die tausenderlei Geräthe, Möbel und fremdländischen Erzeugnisse, die die „fremde Herrschaft" mitgebracht, die seit wenig mehr als einer Woche auf dem Schlosse zu Gaste war. Und nicht nur für Heblingen, sondern auch für die nahe Residenz bildete eben diese „fremde Herrschaft" das allgemeine Gesprächsthema. Märchenhafte Geschichten waren im Schwünge und Fräulein Lieschen war immer geneigt, an phantastische Uebertreibungen zu glauben; aber nun bemerkte sie selbst, das Alle» wahr und selbst die kühnste Schilderung übertroffen sei. „Nun, Fräulein Lieschen", redete sie plötzlich Jemand an, „Sie sehen ja ganz verdutzt drein, Sie wollen gewiß zur Frau Gräfin?" Franz, der Kammerdiener war es, der sich in all dem Wirrwarr ihrer erbarmte, und es freute sie aufrichtig, denn sie bemerkte wohl, wie sehr sie die Aufmerksamkeit der fremden Leute erregt hatte. Man schien allgemein schlechte Witze oder doch mehr launige als schickliche Bemerkungen über daS hübsche Blondköpfchen zu machen und die Leute, die allerdings sammt und sonders schwarze» Kopf« und
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite