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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 07.10.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-10-07
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18971007016
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897100701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897100701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-10
- Tag1897-10-07
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Band Seite L08 f.) heißt eS: » „Die Bewegung, welche in so heftiger Weise einen großen Theil der unteren Schichten der Gesellschaft ergriffen bat, wird von den Einen al- „Arbeiterfrage" bezeichnet, von Andern al- ein Versuch zur Bildung „eines vierten Standes". Die der Sache gegebene Benennung ist nun aber insofern keineswegs gleichgiltig, als sie den Standpunkt bezeichnet, von welchem man die ganze Erscheinung ausfaßt, waS denn natürlich wieder von Folgen für die Würdigung der That- sachen und für die Wahl der zur Herbeiführung einer Ord nung bestimmten Maßregeln ist. Es erscheint daher zweck mäßig, vor Allem diesen Punkt inS Reine zu bringen. Die Bezeichnung einer neuen Gruppirung der Be völkerung als vierter Stand hat von vorne herein etwas Auffallendes. Die früher allerdings viel ge brauchte und auch ganz berechtigte Eintheilung in die drei Stände der Geistlichkeit, des Adels und des Bürgerstandes war seit Langem außer Gebrauch gekommen, und zwar aus ganz guten Gründen. Als politische Eintheilung, insofern diese drei Stände eine verschiedene rechtliche Stellung im Staate gehabt hatten, war sie seit der französischen Revo lution, in welcher der dritte Stand Gleichberechtigung mit den beiden ersten bisher bevorzugten erkämpfte, allmählich fast ganz verschwunden (einige Spielereien mit mittelalter lichen Formen kommen nicht in Betracht). Aber auch als gesellschaftliche Ordnung konnte man diese Dreitheilung nicht mehr anerkennen. Abgesehen davon, daß in protestantischen Ländern die Geistlichkeit wohl einen der gelehrten Berufe erfüllte, aber kein eigener Stand war, am wenigsten der erste, hatte sich überhaupt und überall mit dem Aus hören der politischen Stellung der Geistlichkeit und des Adels eine andere Schichtung der Gesellschaft nach der Bedeutung ihrer Bestandtheile vollzogen. Man unter schied jetzt höhere, mittlere und untere Stände. Von diesen sielen die ersteren (man sprach hier immer in der Mehrzahl) keineswegs ganz mit dem Abel zusammen, und noch weit weniger mit der Geistlichkeit, sondern sie begriffen überhaupt die durch Geburt, Rana und etwa durch großen Reichtbum Hervorragenden; der Mittelstand umfaßte, übrigens weder nach oben noch nach unten sehr scharf abgeschnitten, alle diejenigen, welche eine mehr oder weniger liberale Be schäftigung trieben, eine dieser entsprechende Bildung und im Zweifel auch Vermögen, wenn schon seltener Reichtbum be saßen. In die unteren Stände endlich warf man zusammen, waS Handarbeit trieb, sei es in städtischem, sei eS in land- wirtbscbaftlichem Geschäfte, und sich nicht über eine dieser Lebensstellung entsprechende Bildung erhob. Aller dings waren die äußeren Verhältnisse und der geistige Zustand in diesem numerisch weit größten Tbeile der Bevölkerung wieder sehr verschieden, und man theilte daher wohl noch einmal in untere und unterste Stände ab. Als die in staatlicher und in Bildungsbeziehung entschieden vorherrschende dieser Abtheiluugen galt seit zwer Menschen altern in den Culturländern des ContinenteS wenigstens der Mittelstand. Seine Anschauungen waren die herrschenden; die ihm zusagende Regierungsform fand allgemeine Ein führung; er vertrat die gcsammte höhere Bildung. — Un zweifelhaft ist nun die gegenwärtig vor sich gehende Bewegung unter den Arbeitern eine Aussonderung eines TheileS der unteren Stände aus der bisher unterschiedlosen Menge derselben. Man schaart sich um einen Gedanken und stellt gemeinsame Forderungen einer besseren Stellung in Staat und Gesellschaft. Ob diese Bestrebungen gelingen werden und sich in Folge dessen wirklich eine neue Gestaltung in der bürgerlichen Gesellschaft mit einem bleibenden Interesse als Mittelpunkt und daraus folgenden be sonderen Sitten und Beziehungen zu dem sonstigen Organismus ergeben wird, steht noch dahin. Aber auch angenommen, daß dem so sein werde, so ist doch die Bezeichnung des neuen in Aussicht stehenden Standes als deS vierten durchaus unzulässig und selbst wider sinnig. Dieselbe knüpft an an die staatsrechtliche Ein theilung in die drei Stände der Geistlichkeit, des Adels und deS dritten Standes, welcher letztere die gesammte nicht zu den beiden ersten bevorrechteten Ständen gehörige Be völkerung umfaßte, und muß also, wenn der Name und die Sache einen Sinn haben soll, eine Ausscheidung aus diesem drillen Stande und die Erringung irgend einer öffentlich rechtlichen abgesonderten Stellung für die sich AuSsondernden bedeuten. Nun aber besteht jene ganze Dreitheilung langst nicht mehr, wie bereits bemerkt; eS ist also absurd, etwas Neues darnach zu benennen und zu zählen. Wenn man ja von dem Bestehenden auSgehen wollte, so wäre eS richtiger gewesen, die neue Gestaltung als eine dritte zu bezeichnen, nämlich gegenüber von den Resten der oberen Stände und dem Mittelstände. Ueberdies ist es nicht entfernt die Absicht der Bewegung, eine neue staatsrechtliche, mit eigenthümlicker, gleichgiltig ob tieferer oder höherer, Stellung versehene Classe der Bevölke rung neben den bestehenden zu gründen, sondern sie will offenkundig, so weit sie überhaupt den Staat inS Auge faßt, eine unbedingte Gleichberechtigung Aller erstreben. Es sollen sämmtliche jetzt etwa noch vorhandene Unterschiede in den öffentlichen Rechten vollständig beseitigt werden. Ein gleiches allgemeines Stimmrecht soll alle Staatsangehörige zu einer unterschiedslosen Masse machen. Nicht also eine Ausscheidung eines neuen vierten von den früheren höheren Ständen und eine Stellung neben oder gegenüber denselben ist beabsichtigt, sondern im Gegentheil ihre vollständige Absorption. Endlich und hauptsächlich gebt die fragliche Bezeichnung gar nicht auf das Wesen der Bestrebungen. Dieses besteht in wirtbschaftlichen Forderungen, welche ein anderes Verhältniß der Belohnung der Arbeitenden zu den Beschästigern, der nur persönliche Kraft und Geschicklichkeit Besitzenden zu den Eigenthümern der materiellen und geistigen Arbeitsbedingungen bcrbeiführen sollen. Nur mit Berück sichtigung dieses Zweckes kann also eine verständige und ver- stündliche Bezeichnung der in Aussicht genommenen neuen Ordnung der Dinge gewählt werden. Aber, wird man wohl einwenden, gerade diese Bezeichnung als vierter Stand wird mit entschiedenster Wichtigkeit betont, seine Gründung als der Wendepunkt in der ganzen Bewegung bezeichnet, und legt namentlich Lassalle, dem man, mag man sonst von ihm halten was man will, doch keinen Falles klaren Verstand und bewußtes Handeln abstreiten kann, den entschiedensten Wertb auf diese Bezeichnung; es muß also doch dieselbe einen Sinn und eine Bedeutung haben. Allerdings. Dadurch, daß die Lohnarbeiter als ein vierter Stand bezeichnet werden, soll der angebliche tiefe Unterschied zwischen ihnen un d d en Cap it alb es itzern und Unter nehmern, welche mau gegen alle Geschichte und Statistik als den dritten Stand der „Bourgeois" darstellt, hervorgehoben werden. Es ist ein Kriegsname, eine gemeinsame Fahne; überdies eine Drohung. So wie der dritte Stand, mit Hilfe der damals noch nicht von ihm getrennten unteren Volksschichten, die beiden ersten Stände in der französischen Revolution vernichtet habe, so wird nun ihm die gleiche Beseitigung durch einen vierten Stand in Aussicht gestellt. Dabei kommt eS denn nicht darauf an, ob das Wort mehr oder weniger passend ist, wenn eS nur 'unterscheidet. Aber eben deswegen muß sich eine ruhige und gewissenhafte Untersuchung der Sache hüten vor der Annahme des Parteiwortes. Sie nähme damit von Anfang an eine falsche Stellung zu dem wirklichen Stande der Tinge. Es sind Arbeiter, wenn auch keineswegs alle Arbeiter, welche in Bewegung sind und Forderungen stellen; und eS ist also auch in ter Thai theoretisch richtig, das aufgestellte Problem als Arbeiterfrage nicht nur zu benennen, sondern auch auf- zufassen". Herr von Berlepsch hat in Brüssel angeblich gesagt, daß er sich nur noch mit der „socialen Frage" be schäftige; vielleicht denkt er noch einmal darüber nach, ob nicht eine ruhige und gewissenhafte Untersuchung der Sache vor Annahme des Parleiwortes, deS KriegSnamens „vierter Stand" hüten sollte, und ob nicht ein königlich preußischer StaatSminister außer Diensten dringendere Veranlassung hat, als viele Anderen, ruhig und besonnen zu untersuchen. Denn er w'-st wissen, daß wegen dieser seiner Eigenschaft sein Name leichter al» „Fahne" benutzt werden wird, und das Freuvengrschrei eines Hans Delbrück über „die politisch? That" sollte ihn bedenklich machen. Deutsches Reich. L Leipzig, 6. Oktober. Als Graf von Caprivi, der frühere Reichskanzler, in seiner national-politische» Sünden Maienblüthe stand, nahm die Bildung polnischer Regi menter ihren Anfang, weil verfügt wurde, daß die pol nischen Recruten PosenS und Westpreußens nicht mehr nach rein deutschen Provinzen verschickt, sondern in ein heimischen Garnisonen der militairischen Dienstpflicht FerriH-tsn. Was auS Monsieur Neymond's Traumen wurde. Humoristische Erzählung von Hedwig Hoepsner. NaSdruck verboten. Monsieur Reymond war sehr übler Laune. Ueber das Warum hätte er, wenn er danach gefragt worden wäre, selbst wohl kaum Auskunft geben können. Thatsache aber ist, daß ihn Alles, selbst die Fliege an der Wand, ärgerte. Sogar die alte Antoinette, die seit Madame Reymonds Tode die Wirtschaft führte, und der Mr. Reymond sonst lieber aus dem Wege ging, wurde von ihrem Gebieter heftig angefahren, weil seiner Meinung nach der Morgenkaffee nicht heiß genug war. Tief gekränkt über diese ungewohnte Behandlung, zog sie sich zurück, im Stillen Herrn Reymond Rache schwörend. Nachdem Mr. Reymond so seinem Zorne ein wenig Ab leitung verschafft hatte, ging er in den Garten, um dort, wie gewöhnlich, ein Stündchen zu arbeiten. Hm Garten saß sein Abgott, seine einzige neunzehn jährige Tochter Jeanne, die in das Lesen eines Buches ver lieft war. Aber auch sie blieb von dem Schicksale alles dessen, was ihrem Vater heute in den Weg kam, nicht ver schont. „Laß' das dumme Lesen und beschäftige Dich lieber nützlich!" knurrte er sie an. „Du kannst Himbeeren pflücken!" Gehorsam legte Jeanne das Buch bei Seite und eilte in's Haus, um sich ihren großen Gartenhut und eine Schüssel für die Beeren zu holen. Bald war sie eifrig mit dem Pflücken beschäftigt. Die alte Antoinette aber rang in der Küche die Hände über den Rabenvater, der das hübsche, weiße Gesichtchen seiner Tochter so gewissenlos den glühenden Sonnenstrahlen aussetzte. Mr. Reymond, der von all' den schmeichelhaften Be nennungen, die sie ihm in ihrem empörten Innern gab, natürlich nichts ahnte, jätete und harkte indessen mit Eifer darauf loS. Plötzlich schaute er auf, und die dunklen Wolken auf seiner Stirn wurden noch finsterer, obschon das, was er sah, keineswegs einen unangenehmen Anblick darbot. Aus der Thür des dem Garten gegenüberliegenden Hauses trat ein hübscher, junger Mann in hellgrauem SHmmeranzuge. Aber eben dieser junge Mann war es, der den, Barometer von Mr. Reymonds Stimmung auf den Gefrierpunkt gebracht batte. Es war nämlich ein Arzt auS Preußen, der sich vor einiger Zeit in dem elsässischen Städt chen' niedergelassen hatte. 'Dieser junge Doctor war Mr. Reymond ein Dorn im Augt^ Letzterer war nämlich ein glühender Feind der „Prulsiens* und Pflegte sich in wehmuthSvollen Reminis- cenzem zu ergehen über die schöne Zett, da noch „La belle Francs die Herrin des Elsaß war. SeHw Tochter hatte er natürlich in denselben Gefühlen erzogen.^ In seinem Hause durfte nur französisch gesprochen werden; ^blos die alte Antoinette ließ sich ihr Elsässer Dütsch nffcht nehmen. Selbstverständlich betrachtete es der Vater auch als aus gemacht, daß seine Jeanne nur einen Franzosen heirathen werde. Mit finsteren Blicken also sah Mr. Reymond dem jungen Arzte, Dr. Schmidt, entgegen. Er konnte ihm sein Hiersein nicht verzeihen, und was am meisten an ihm nagte, war daß er, Jean-Baptiste Reymond, der Mann mit dem fran zösischen Herzen, den deutschen Doctor schon gebraucht hatte Das war so gekommen. Mr. Reymond litt an Gallenstein. Vor einiger Zen hatte er plötzlich einen besonders heftigen Anfall, und dc. Dr. Picon, sein alter Hausarzt, gerade an Rheumatismus litt, holte Antoinette in der Angst Dr. Schmidt. Derselbe kam sofort, und Dank der von ihm angewandten Mittel trcu bald eine Besserung in dem Zustande des Kranken ein. Obgleich Mr. Reymond, wider seinen Willen zwar, im Stillen anerkennen mußte, daß Dr. Schmidt ihm schneller und besser geholfen habe, als sonst der alte Dr. Picon, sc änderte dies doch nichts in seinen Gefühlen gegen den jungen Arzt. Im Gegentheil, seine Antipathie gegen denselben war, wenn dies überhaupt möglich war, noch bedeutend gestiegen. Jeanne, das gute Kind, theilte seine Empfindungen, Mr. Reymond war dessen sicher. Das Erröthen, das ihr hübsches Gesichtchen bei dem Gruße des jetzt näher tretenden Dr. Schmidt überflog, war gewiß nur der Ausdruck ihres Aergers über die unliebsame Begegnung! Dr. Schmidt wußte indessen nichts, oder wollte auch vielleicht nichts wissen von Mr. Reymonds freundlichen Ge danken in Bezug auf seine Person. Unbefangen rief er seinem mürrischen Nachbar zu: „Schon so fleißig, Herr Reymond?" Am liebsten hätte Mr. Reymond natürlich nicht geant wortet. Dazu war er aber doch nicht unhöflich genug, und so erwiderte er kurz: „Ja, mein Herr!" „Wie schön Ihre Rosen blühen!" fuhr der Doctor un schuldig fort. „Ja, mein Herr!" brummte Mr. Reymond. Und so schleppte sich die recht einseitige Unterhaltung eine Weile mühselig fort, dann sagte Mr. Reymond: „Pardon, mein Herr, wenn ich mich Ihrer angenehmen Gegenwart entziehe; ich muß mir etwas aus dem Hause holen!" Damit grüßte er den Doctor ironisch, kehrte ihm den Rücken und ginff davon. Belustigt blickte ihm der junge Mann nach; dann ent fernte er sich auch, indem er seinen Hut vor Jeanne zog. Nur der dreiste Spatz, der unbekümmert auf der Hecke saß, die Mademoiselle Reymond von dem „deutschen Bären" trennte, hatte gehört, wie letzterer ein blos für des Mädchens Ohren bestimmtes „Auf Wiedersehen am Nachmittage!" murmelte. Mr. Reymond kam nun wieder hervor. „Gott sei Dank, daß ich ihn vertrieben habe!" lachte er ingrimmig. „Solch' eine Unverschämtheit, mich hier immer anzureden!" Jeanne hatte indessen ihre Schüssel mit Himbeeren ge füllt, und indem sie dieselbe nun zu Antoinette in die Küche trug, entzog sie sich dadurch der Nothwendigkeit, weitere väterliche Zornesausbrüche mit anhören zu müssen. Währenddessen kam der Briefträger die Straße herauf. „Facteur", rief ihm Mr. Reymond schon von Weitem entgegen, „haben Sie etwas für mich?" Der Stephansbote suchte in der Brieftasche nach und überreichte ihm einen Brief. Mr. Reymond beguckte denselben von allen Seiten, irllftedenPoststempel, welcher der einer benachbarten Fabrik- tadt war, und überlegte erst lange, ehe er den Brief öffnete, von wem er wohl sein könnte. Endlich machte er ihn auf. Der Inhalt lautete: Geehrter Herr Reymond! Vielleicht erinnern Sie sich beim Lesen meines Namens Ihres Pathenkindes Francois Leroc, des Sohnes Ihres alten Freundes Leroc. Mein Vater ist leider, wie Ihnen bekannt, schon lange todt, und aus dem kleinen Knaben, als den Sie mich im Gedächtniß haben werden, ist ein großer Mann geworden. Seit einigen Jahren bin ich Besitzer eines ziemlich bedeutenden Weißwaarengeschäftes in Paris. Augen blicklich bin ich in Geschäftsangelegenheiten im Elsaß und zwar ganz in Ihrer Nähe. Dabei will ich mir erlauben, Sie zu besuchen. Von einem in Paris wohnenden, mir bekannten El sässer erfuhr ich, daß Sie sich noch in Ihrem Heimathsorte befinden. Ich treffe dort morgen Mittag ein, um einige Stunden mit Ihnen zu verplaudern und die alte Freundschaft zu erneuern. Mit bester Empfehlung Ihr Francois Leroc. Mr. Reymond starrte ein paar Augenblicke nachdenklich auf das Papier in seiner Hand. Vor seinem Geiste erstand der kleine Francois Leroc, ein hübscher Schwarzkopf. Dessen Vater, ehemals der beste Freund Mr. Reymonds, war leider sehr früh gestorben, und die Wittwe mit dem Kinde war nach Frankreich gezogen. Mr. Reymond hatte die Beiden später ganz aus dem Auge verloren. Nun auf einmal erschien der junge Leroc auf der Bildsläche und zwar als Besitzer eines großen Weißwaaren geschäftes. Wie alt mochte er wohl sein? Mr. Reymond rechnete nach — 28 — 29 — 31 — 33 —, ja, 33 Jahre! Also im schönsten Mannesalter! Und plötzlich tauchte in Mr. Reymonds Kopfe eine neue, überraschende Idee auf, die immer festeren Boden gewann und des Gestrengen Laune so rosig machte, daß er laut vor sich hin lachte. Erschrocken blickte er sich um. Da aber Niemand in seiner Nähe war, so gab er sich beruhigt einem zweiten Heiterkeitsausbruche hin. Jeanne — Francois Leroc! Ah, daraus konnte etwas werden! Jeanne war 19 Jahre alt, also gerade im richtigen heirathsfähigen Alter, und Francois em augenscheinlich wohlsituirter Kaufmann, noch dazu aus Paris, und den Jahren nach vorzüglich zu Jeanne passend. Wahrscheinlich hatte ihm der Elsässer nicht blos von Mr. Reymond, sondern auch von dessen anmuthiger Tochter erzählt, und Francois Leroc suchte mit bestimmten Absichten seinen Pathen auf. Nun, wenn der Sohn, waS ja anzunehmen war, dem Vater innerlich und äußerlich glich, dann wollte Mr. Reh- mond schon zufrieden sein! Und so vertiefte sich der alte Herr dermaßen in di« an genehmsten Zukunftsbilder, daß ihm nach einiger Zeit der flüchtige Gedanke völlig zur Thatsache geworden war. Er theilte denn auch später der vor Erstaunen und Ent zücken ganz außer sich gerathenden Antoinette mit, daß sie morgen für ein exquisites Diner zu sorgen habe, da ein Freier für Mlle. Jeanne, ein Pariser Großkaufmann, kommen würde. Freilich verbot er Antoinette, Jeanne den Zweck des Besuches zu verrathen; er selbst aber konnte sich in der Freude seines Herzens seiner Tochter gegenüber doch nicht verschiedener deutlicher Anspielungen enthalten, als er ihr von dem Besuche des Herrn Leroc erzählte. Auch Antoinette ließ es nicht an verblümten Neckereien fehlen, und Jeanne wäre kein echtes Mädchen gewesen, wenn sie sich nicht aus all' dem emen Vers gemacht hätte. Die Andeutungen schienen sie indessen keineswegs mit freudiger Erwartung zu erfüllen, sie wurde im Gegentheil ganz blaß und still und that keine Frage bezüglich des Gastes. Dies störte indessen Mr. Reymonds gute Laune nicht. „Mädchenschüchternheit!" brummte er. Jeanne unternahm während dieser Zeit einen Spazier gang auf den hinter dem Hause liegenden Berg. Sie hatte sich das seit einiger Zeit zum Aerger Antoinettes angewöhnt. Als sie den lauschigen Bergwald erreicht hatte, bog sie in einen Seitenpfad ein und stand bald vor einer Bank, von der sich Dr. Schmidt erhob. Was für Augen würde Mr. Reymond gemacht haben, wenn er es hätte sehen können, wie Jeanne, seine Jeanne, seine so gut französisch erzogene Tochter, anstatt dem deutschen Doctor verächtlich den Rücken zu kehren, direct in dessen geöffnete Arme flog und sich von ihm in die Conju- gation des deutschen Zeitwortes „lieben" nach Herzenslust einweihen ließ. Uebrigens machte die ganze Scene keineswegs den Ein druck der Neuheit; es schien im Gegentheil, als ob die Beiden auf ihre angenehme Beschäftigung schon recht eingeübt wären. Nach und nach bemerkte jedoch der Doctor, daß seine Jeanne heute nicht ganz bei der Sache war. Er forschte nach dem Grunde, und sie erzählte ihm in ihrem drolligen Kauderwelsch, einem Gemisch von Deutsch und Französisch, von dem morgenden Besuche aus Frankreich und den An deutungen, die ihr Vater und Antoinette gemacht hatten. Der Doctor hörte schweigend zu. Leicht zu nehmen war die Angelegenheit bei Mr. Reymonds starrem Sinne nicht; das wußte er. Indessen tröstete er sich mit dem Bewußtsein von Jeannes Liebe, und sie versprach ihm hoch und heilig, allen Bestürmungen ihres Vaters gegenüber fest zu bleiben, da sie nie eines Anderen Frau werden würde. Allerdings zaote sie ein wenig vor des Vaters Zorn. Aber der Doctor küßte sie und redete ihr die Besorgniß so gut auS, daß sie ganz beruhigt den Heimweg antrat. Mr. Reymond nahm indessen Stock und Hut und machte einen Spaziergang durch da» Städtchen. Bald traf er hier, bald dort einen Bekannten, und Allen erzählte er unter ge- beimnißvollen Anspielungen von seinem zu erwartenden Gaste. Antoinette ihrerseits theilte unter dem Spiegel des Ver trauens den guten Freundinnen gleichfalls da« Nöthigste von dem bevorstehenden großen Ereignisse mit, und bald war es in der ganzen Stadt verbreitet, daß morgen Jeanne Rey mond» Verlobung mit einem Franzosen stattfinden werde.
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