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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.10.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-10-16
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18971016025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897101602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897101602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-10
- Tag1897-10-16
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Die Morgen-AuSgabe erscheint um '/,7 Uhr. di» Abend-Ausgabe Wochentags um ö Uhr. Ne-action und Lrve-itiou: JohanneSgasse 8. Die Expedition ist Wochentag- ununterbrochen »«öffnet voa früh 8 bis Abend» 7 Uhr. , Filialen: vrto Aicmm's Sortini. (Alfred Hahn), UniversitiitSslraße 3 lPaulinum), Louis Lösche. Latharinenstr. 14, vart. und KSuigSptatz 7. GezuZS'PreiS tu der Hauptexpedition oder den im Stadt bezirk und den Vororten errichteten Aus- aabestellen ab geholt: vierteljährliche 4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung in- Hau- e 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich »i 6.—. Direcie tägliche streuzbandsenduug iu- Ausland: monatlich e 7.Ä). Abend-Ausgabe. MpMer TagMalt Anzeiger. Awtsölatt -es Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, -es Aathes un- Nslizei-Amtes -er Lta-t Leipzig. Anzetgen'PretA die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pf^ Neclamen unter dem RedactionSstrich (4 g» spalten) 50 vor den Familiennachrichte» (6 gespalten) 40-^. Größere Schriften laut unserem Preis- verzrichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit de» Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderun^ e SO.—, mit Postbesörderung e 70.—. Aunahmeschlnß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. -Sorg« u-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. V«i den Filialeo und Annahmestellen je eia« halbe Stunde früher. Anreise» sind stet» an die Srpedttta» zu richten. Druck und Verlag voa E. Potz la Leipzig. 329. Sonnabend den 16. October 1897. 91. Jahrgang: Wechselnde. Theorien und feststehende Wahrheiten inr Gebiete der Staats- und Socialwifsenschaften und die heutige deutsche Volkswirthschastslehre. L. VV. 0. Berlin, 15. October. Professor Sch in oller hat beute das Nectorat der Universität mit einer Rede über nommen, der er selbst die obige Ueberschrist gegeben. Der Gedankenganz der Rede ist folgender: Während wir alles als unbedingt feststehend Geltende mit dem Ehrentitel der „Wissenschaft" bezeichnen, hat der moderne Sprachgebrauch mit dem Begriff „Theorie" daS noch nicht vollständig Bewiesene belegt. Aber die Wissenschaft hat keine Beranlassnng, den Theorien gegenüber sich ablehnend zu verhalten, denn durch den Streit der Richtungen und Theorien hindurch führt der Weg zur Wahrheit. Sie bilden die bewegenden geistigen Kräfte, sie stellen den Werdegang der menschlichen Erkeuntniß dar, in ihnen vereinigt sich Irr- thum und Wahrheit. Aus diesem Grunde ist man auch ge neigt, diejenigen Zweige der Wissenschaft, in denen die meisten Theorien einander gcgenüberstehen, als die in Methode und Erkenntnis; am weitesten zurückgebliebenen zu betrachten. Aber dies ist sicherlich ein Irrthum. Diejenige Wissenschaft, der am meisten Gelegenheit zu einer Detailarbeit auf ihrem Ge biete geboten war, hatte auch am meisten Gelegenheit, zu unumstößlichen Resultaten zu kommen. Anders steht es mit den Wissenschaften, welche die großen zusammenfassenden Probleme der Bestimmung des Menschen, der Entwickelung von Staat, Recht, Sitte, Gesell schaft und Wirthschast sich zur Lösung gestellt haben. Zm Anschluß an die philosophischen Grundideen des 18. Jahrhunderts und eine Reihe nationalökonomischer Systeme sind „Theorien" entstanden, welche dem Bedürfnisse entsprangen, die wirtkschaftlichen Rechte des Einzelnen zu präcisiren und einen ModuS zu finden, der die Ungleichheiten auSgleicht und Allen günstige Lebensbedingungcn, ein glück liches Leben sichert. Aber sowohl die Richtung von Adam Smith bis zu Mill und Rau, wie auch die socialistische Theorie der Elaffenkämpfe, von William Thompson bis zu Karl Ma r x, glaubt aus einer abstrakten Menschennatur heraus ein vollendetes objectives System der heutigen Bolkswirtbschaft construiren zu können. Beide versuchen einen Sprung, ohne gehörige Detail forschung, ohne richtige psychologische Grundlage, ohne um fassende rechts- und wirthschaftögeschichtliche Borstudien. Sie versuchen mit einem Sprung vie letzte, endgiltige volkswirth- schaftliche Wahrheit zu erhaschen und nach ihr die Welt, die Menschen, die Staaten zu meistern. Sie erheben sich dadurch noch nicht zum Range einer wirklichen Wissenschaft und machen den Versuch, sich von der" Staats- und Verwaltungs lehre loSzureißen, büßen dabei aber die realistischen, boden ständigen Wurzeln ein, welche die theoretisch noch unent wickelten Mcrcantilisten und Cameralisten vor Fehlschlüssen nnd Thorhcit bewahrt haben. Die Hauptschwäche der indivi dualistischen wie der socialistischen Theorien war, daß sie eine von Staat und Recht losgelöste, abstrakte WirthschaftSgesellschafl sinzirten und mit ihr rechneten. Aber obgleich Smith jeden Staatsmann als ein hinterlistiges und verschlagenes Thier ansieht, das meist durch plumpe, ungeschickte Eingriffe in das harmonische Uhrwerk der Tauschgesellschaft dasselbe verderbe, so bedeutet doch die Theorie Adam Smith'S einen großen, ja den größten, bis gegen 1860—70 in unserer Wissenschaft vollzogenen Fortschritt.^. Die ganze socialistische Richtung hat kein Werk hervorgebracht, daS seinem Werke vom „Reichtbum der Nationen", an die Seite zu stellen wäre. DaS Buch von Karl Marx über das Capital wird von seinen Parteigängern auf dieselbe Stufe gestellt, aber nicht mit Recht. Die socialistischen Theorien haben alle eine mehr uto- pistischc Farbe, einen mehr pamphletartigen, agitato rischen Charakter. Sie haben aber daS Verdienst, auf eine große, von der individualistischen Theorie übersehene Seite unserer wirthschaftlichen Entwickelung, auf die Lage der unteren Classen, auf die Classengegensätze und -Kämpfe aufmerksam gemacht zu haben, zugleich auf die prak tische Wirksamkeit einer zielbewußten Organisation der ein zelnen Classen, auf die furchtbaren Mißstände und Mißbräuche innerhalb der modernen Volkswirthschaft. Die Socialisten haben im Anschluß an die Geschichtsphilosophie der Zeit den großen Gedanken der Entwickelung in die Socialwissenschaften eingesührt und haben damit begonnen, das historische Ver- ständniß der wirthschaftsgeschichtlichen Epochen und ihrer Unterschiede zu begründen, aber sie haben bei der Darstellung dieser Unterschiede der Phantasie und der Leidenschaft so die Zügel schießen lassen, daß ihre Schriften nach dieser Seite vielfach Len Boden der ernsten Wissenschaft verlassen. Den drei deutschen Socialisten, Lassalle, Rodbertus und Marx, haben ihre Anhänger im Gegensatz zu den englischen und französischen, welche idealistische ZukunftSpläne auS- malten, den Stempel der Wissenschaft aufgedrückt, weil sie aus solche Utopien verzichtet batten. Sie haben das aber nur im größeren Sinne des Wortes unterlassen, nicht über haupt verzichtet, die Propheten der Revolution und des nahen goldenen, communistischcn Zeitalters zu spielen. Das Capital wird phantastisch als der Vampyr hin gestellt, der den Arbeitern das Blut aussaugt. Es wird durchaus ein Versuch mit untauglichen, mit unwissen schaftlichen Mitteln gemacht; das berechtigte Ziel aller socialistischen Literatur ist der Kampf für eine gerechtere Ordnung der Volkswirthschaft, für eine Hebung und Förderung der arbeitenden Classen, der großen Masse des Volkes. DaS utopische Ideal, das auch Marx in ganz unklarer Weise vorschwebt, ist die Beseitigung aller Classen gegensätze und wirthschaftlichen Ungleichheit, aller Verschieden heiten in der Vermögens- und Einkommcnsverlheilung. Aber möge die ältere liberale und die socialistische Nationalökonomie noch so verschieden sein, der eine Grundzug bleibt ihnen beiden, baß sie fast mehr Resultate der praktischen Politik, Aeußerungen großer weltbewegender idealer und realer Inter essen, als wissenschaftliche Untersuchungen und abgeklärte Forschungen sind. Die große einschlägige Literatur von 1750 bis 1870 stellte mehr die Geburtswchcn der neuen Wissen schaft, die Keime und Ansätze zu ihr, als diese selbst dar. Mit den ungeheuren Veränderungen des Verfassungslebens, der Technik, bes Weltverkehrs, der socialen Schichtung, mit den riesenhaften neuen Aufgaben der Staats- und Gesellschafts ordnung erwiesen sich die alten Theorien des wirthschaftlichen Liberalismus wie des SocialismuS als überlebt, als gänzlich unfähig zur Leitung der Gesellschaft. In Deutschland war der Umschwung kräftiger als in England, Frankreich und Oesterreich eingetreten, weil sie durch den Zusammenhang mit den übrigen UniversitätS- diSciplinen von allen Seiten her gesunde Impulse erhalten hatte, endlich, weil in Deutschland der große nationale Auf schwung und die Dringlichkeit der politischen und wirthschaft lichen Neugestaltung, der socialen Reformen, die Geister mehr als anderwärts aufgerüttelt und zu einem Neubau befähigt hat. Die Signatur der heutigen VolkSwirthschaftS- lehre, besonders der deutschen, kennzeichnet sich dadurch, daß sie, zwar in engster Fühlung mit den großen Geschicken und den Aufgaben der Zeit bleibend, eS doch verstanden hat, voraussetzungslos, oder doch viel vorauSsctzungsloser als früher zu forschen, daß sie viel strengere Methoden anwendel und sich ganz überwiegend auf feststehende Thatsachen stützt. Allmählich hörte die Nationalökonomie auf, eine freie Kunst für Jedermann zu sein. Es brach sich die Erkeuntniß Bahn, daß langwierige Beobachtungsreihen, sorgfältig ausgesührte Materialsammlungen nöthig seien, daß man ru wissenschaft lichen Gesetzen und sicheren allgemeinen Urtheilen und Bewegungstendenzen nur kommen könne, wenn vorher eine große staatswissenschaftliche Beobachtungsliteratur hergestellt sei. Durch diese Detailarbeit hat die National ökonomie auf die Bewältigung der großen Fragen der Gegenwart nickt verzichtet, sie hat damit nur auf voreilige Verallgemeinerungen verzichtet. Die neue Lehre hat die Volkswirthschaft wieder in wichtigen Zusammenhang mit der ganzen übrigen Cultur verstehen und betrachten gelehrt, sic hat statt der Güter und Capitalwelt wieder den Menschen in den Mittelpunct der Wissenschaft gestellt. Aber das Object unserer Disciplin ist mit das Complicirteste, es hängt die Fortbildung in derselben fast an allen Puncten zugleich von den Forschungen in den Nachbar- und Grundwissenschaften ab, welche für sie Voraussetzungen enthalten. Und so sind wir naturgemäß auch heute an vielen Stellen wieder auf Hypothesen und Unwahrscheinlichkeiten angewiesen. Soweit eine Reihe von verschiedenen Standpuncten im Gebiete der Staatswissenschaft und in ähnlichen Disciplinen zu einer Zeit neben einander bestehen und um den Vorrang ringen, muß ihnen eine gleiche Gelegenheit zur Be- thätigung auch in den Hörsälen der Universitäten gegeben werden; aber es hieße sich dem Fortschritt und der Entwickelung entgegenstemmen, wenn man absterbende, überlebte Richtungen und Methoden den höher stehenden und ausgebildeten gleichstellte. Weder stricte Smithianer noch stricte Marxianer können heute Anspruch darauf machen, für vollwerthig zu gelten. Wer nicht auf dem Boden der heutigen Forschung, der heutigen geehrten Bildung und Methode steht, ist kein brauchbarer Lehrer, ebensowenig wie Derjenige, welcher anstatt das Ge- sammtinteresse Classeninterefsen vertritt. Politische Tagesschau. * Leipzig, 16. October. Ueber die Ergebnisse deS vorgestern in Berlin abgehaltenen KronrathS liegen zuverlässige Nachrichten noch nicht vor. Was die bekannten „Eingeweihten" mit größter Bestimmtheit als Resultat der Berathungen hinstellen, ist so widersprechend, daß man annehmen muß, eS sei aus dem Berathungszimmer auch nicht das Geringste hinausgedrungen und die findigen Reporter seien deshalb vollständig auf ihre Phantasie an gewiesen. Während nämlich der Eine versichert, cs sei zu einer vollständigen Einigung aller Betheiligten über die Militairstrafproceßordnung gekommen, genügt dem An dern ein solches Resultat noch gar nicht; er meldet deshalb, auch die Marinevorlage sei festgestellt worden, man habe jedoch beschlossen, sie vor der Hand nicht zu veröffentlichen. Ein Dritter erklärt dagegen, Militairstrafproceßordnung und Marinevorlage hätten gar nicht auf der Tagesordnung gestanden .und die Sitzung des KronrathS sei nur der Er ledigung „laufender Geschäfte" gewidmet gewesen. Wa der Herr unter „laufenden Geschäften" versteht, verschweigt er wohlweislich. Wir schließen, wie gesagt, aus diesem Wirr Warr von Meldungen, daß die Betheiligten zu schweigen wissen Daß aus dem Berathungszimmer gar nichts herauSgedrungen sein sollte, wenn eS zu einer „KrisiS" gekommen wäre, ist kann: anzunehmen, und so darf man wohl ferner schließen, daß die Berathungen ziemlich glatt verlaufen seien. Was aber zu Tage gekommen und ob überhaupt schon von Resultaten die Rede sein kann, kann erst die Zukunft lehren. Wir würden daher auch gar nicht auf eine „Information" der antisemi tischen „Staatsbürgerzeitung" eingehen, wenn sie nicht tele graphisch mit der Andeutung verbreitet würde, das Blatt schöpfe diesmal auS besonderer Quelle. Es behauptet näm lich, daß „sich gegenwärtig tatsächlich ein Kanzler wechsel in der Schwebe befinde, aber mit den im Vorder gründe stehenden politischen Fragen in keinem Zusammenhang stehe". In der Frage der Militairproceßreform und der Flottenvermehrung bestehe zwischen dem Kaiser und dem Kanzler keine Meinungsverschiedenheit, wohl aber verschließe man sich auf beiden Seiten der Wahrnehmung nicht, „daß bei der immer stärker werdenden demokratischen und par- ticularistischen Strömung ein Leiter der Reichsgeschäfte nothweudig ist, der gleich dem ersten Kanzler in der Lage ist, an seinem Platze im Reichstag den Kampf mit der unnationalen Mehrheit aufzunehmen, wie ein Fels im brandenden Meere die Regierungspolitik zu ver treten und dem Einheitsgedanken zum Siege zu verhelfen". Dieser Einsicht verschlößen sich weder der Kaiser noch sein Kanzler, und eS sei deshalb sehr warscheinlich, daß wir noch vor dem Zusammentritte deS Reichstags einen Kanzlerwechsel haben werden, der aber keine Krisis, sondern eine Stärkung der Regierung zur Folge haben werde. Leider nennt die „Staatsbürger Zlg." den starken Helden nicht, der nach ihrer Ansicht und ihrem Wunsche durchzusetzen vermag, was Fürst Hohenlohe durchzusetzen sich nicht getraut. Man kommt daher auch nicht recht dahinter, zu welchem Zwecke die Ausstreuung erfolgt. Daß sie nichts Anderes als eine solche ist, liegt auf der Hand. Ein Reichskanzler, der wie ein Fels im brandenden Meere die Negierungspolitik vertreten und dem Einheitsgedanken zum Siege verhelfen kann, muß ein eignes klares und festes Regierungsprogramm haben und nach eigner Einsicht handeln können, wie der erste Kanzler. Bleibt aber der Kaiser sein eigner Kanzler, so ist für einen Fels im brandenden Meere der Regierungspolitik kein Raum. Und daß der Kaiser, der mit dem Fürsten Bismarck brach, um sein eigner Kanzler sein zu können, sich nach einem zweiten Bismarck sehnte, glaubt wohl die „Staatsbürgerztg." selbst nicht. Kommt es zu einer Kanzlerkrisis, so geschieht es nicht aus Mangel an einem felsenfesten Kanzler, sondern weil Fürst Hohenlohe trotz seiner Weichheit doch noch etwas zu felsig ist. Die He r b st s e s si o n der französischen Kammern wird binnen Kuzem ihren Anfang nehmen, und nach der Sprache der Tagespresse zu urtheilen, darf man sich auf einen heftigen Sturmlauf derradicalen und socialdemokratischen Opposition gegen das Ministerium Meline gefaßt halten. Mi msterpräsident Meline hat bekanntlich vor Kurzem in Remiremont eine große Programmrede gehalten, welche den linksextremen Oppositionsparteien sehr wenig gefallen hat. Das ideale Ziel des leitenden französischen Staatsmannes besteht in der Schaf fung einer homogenen Regierungsmehrheit in der Deputaten kammer, wozu einstweilen nur schwache Ansätze vorhanden sind. Diese zu stärken, zu entwickeln und zu einem lebensfähigen Gc Frirttlatom Götzendienst. 3öj Roman in zwei Theilen von Woldemar Urban. Nachdruck verboten. Ein giftiger, unversöhnlicher Haß, eine unsägliche Ver achtung des dicken, unbeholfenen Fleischklumpens, der in seiner ganzen Ungeschlachtheit vor ihm stand, stieg aus seinem Innern empor, ein Gefühl von unberechenbarer Trag weite, das ihn wie ein wilder Dämon Stück für Stück er faßte, Schritt für Schritt auf dem dunklen Weg vorwärts drängte, den er seit einiger Zeit zögernd und vorsichtig ging. Er glaubte sich von Don Gracias verrathen und betrogen, weil seine falsche Ehrliebe nicht zugab, daß er sich selbst für den hohlen Speculanten, für den Götzendiener hielt, der er wirklich war. Er wollte sich an ihm rächen, wollte Was wollte er nicht Alles! Er verlor immer mehr und mehr an Besinnung, an sicherem Boden unter den Füßen. Herr de Melida mochte wohl etwas Aehnliches ahnen. Mit einer gewissen Behäbigkeit und Ueberlegenheit fuhr er fort: „Eigentlich nicht nur deshalb, Herr Graf. Es inter- essirte mich auch zu sehen, wie sich die Sache weiter entwickeln werde und besonders, ob meine Tochter aus sich heraus das Rechte finden würde, ohne mein Zuthun — wie man bei uns sagt — sehen lernen würde." „Und sie hat es gelernt?" fragte Graf Victor bissig. „Ich hoffe es wenigstens, wenn sie sich auch noch nicht erklärt hat!" „Und was nennen Sie in diesem Falle sehen lernen?" „Das ist ziemlich einfach. Da waren zwei Männer, die nach ihr schielten. Der Eine ein junger ernsthaft strebsamer Künstler, ein fleißiger Mensch, der Noth und Mühsal des Lebens an) eigenen Körper erprobt und kennen gelernt, und der vor lauter Liebe und Verehrung für sie ihr eine Grob heit nach Ner anderen sagte. Dann waren noch Sie da, Herr Graf.Ja, in was bestehen wohl eigentlich Ihre Vor züge? Ihr.Verdienst um die Welt besteht eigentlich doch nur darin, dc'iH Sie mit Anstand Ihre Handschuhe an- und ausziehen Können, einen Chaupeau claquc zusammen geklappt mit Eleganz in die Weste klemmen, oder sich Luft damit zufächeln, ein wenig durch die Nase reden können und was dergleichen Kunststückchen noch sind, ohne welche die Welt, meiner bescheidenen Ansicht nach, sehr gut aus kommt " „Genug, genug, Herr de Melida, Sie werden mir " „Ich denke wirklich, daß das genügt, um Sie aus Ihrer Unsicherheit in erwünschter Weise zu erlösen. Sie wollten ja Sicherheit haben, Herr Graf. Nun gut, da haben Sie sie. Auf Ihre sonstigen Vorzüge und Verdienste um die Welt und Leben will ich hier zu Ihrem eigenen Besten nicht eingehen. Sie mögen selbst nach Ihren Rechnungen sehen. Das geht mich nichts an. Nur wünschen möchte ich, daß Felicia auch so gut sehen lernt, wie Sie es mir beigebracht haben durch Ihre verschiedenen Machinationen. Verlassen Sie sich nur auf mich. Ich werde schon dafür sorgen, daß Felicia Sie so gut kennen lernt, wie ich Sie auch kenne. Nur braucht das Zeit. Ehe ein junges Mädchen im Leben sehen lernt, das dauert länger, wie bei den jungen Katzen, Herr Graf. Aber dafür bin ich da, ich, Herr Graf Victor zu Kreuz!" Dabei klopfte er ihm wieder mit der größten Gemüth- lichkeit und Bonhomie auf die Schulter, als ob er den ätzen den Spott, der in seinen Worten lag, gar nicht geahnt hätte. Graf Victor war bleich geworden, seine Lippen zuckten nervös. Eine solche Situation war ihm neu. So hatte noch Niemand gewagt, mit ihm zu reden. Er kam sich vor wie ein ausgescholtener Schulbube. Plötzlich setzte er seinen Hut auf, und da er das im Zimmer that, so glaubte er dadurch die größte Mißachtung auszusprechen, die überhaupt Möglich war. „Wir sprechen uns noch, Herr de Melida!" kam es giftig und gehässig zwischen seinen Lippen hervor. „Es wird mir ein großes Vergnügen sein", erwiderte Herr de Melida mit höflicher Gutmllthigkeit. Aber Graf Victor hörte es nicht mehr. Er hatte das Zimmer schon verlassen. Einige Minuten blieb Herr de Melida, nachdenklich vor sich auf den Boden sehend, stehen. Dann aber sah er auf die Uhr. Es war sieben Uhr, die Zeit des Diners. Er befand sich in einer eigenthllmlichen Situation. Er war Gast auf Schloß Heblingen. Nicht bei Graf Victor, sondern bei seiner Mutter, das wußte er wohl. Trotzdem war es ihm peinlich, unter solchen Umständen noch länger eine Gast freundschaft in Anspruch zu nehmen, die man ihm wohl aufgedrungen, die er aber doch schließlich acceptirt hatte. Endlich klingelte er, und dem eintretenden Diener befahl er: „Rufen Sie sofort Herrn Delorme hierher." Wenige Augenblicke später trat dieser in das Zimmer. „Herr Delorme, ich werde mit Salvatore und Felicia noch heute Schloß Heblingen verlassen —" „Excellenz —" „Und in irgendeinem Hotel der Stadt Wohnung nehmen. Sorgen Sie dafür, daß morgen früh Alles nachgeschafft wird, was zu unserer Equipage gehört. Verstanden?" „Zu Befehl, Excellenz." „Manuel und Jose sollen uns begleiten. Alle Uebrigen folgen morgen nach. Von Frau Gräfin Margarethe werde ich mich besonders verabschieden." Herr Delorme sah seinen Gebieter einen Augenblick fragend an. „Haben Eure Excellenz einen besonderen Grund, Schloß Heblingen — oder ich will sagen, die Umgebung des Grafen Victor zu Kreuz so auffallend zu meiden?" Herr de Melida antwortete nicht sogleich. Erst nach einer Pause sagte er: „Vielleicht, mein lieber Delorme, vielleicht haben wir hier mehr Ursache, auf unserer Hut zu sein, als in den Pampas unserer Heimath unter den halbwilden Gauchos. Wir sprechen noch darüber. Jetzt gehen Sie und besorgen Sie, was ich Ihnen aufgetragen." XI. Schon ehe man sich in dem alterthllmlichen Speisesaal des Schlosses zu Tisch setzte, hatte man mit Staunen ge hört, wie die Privatequipage des Herrn de Melida bestellt wurde, wie Salvatore und Felicia beordert worden, unver züglich einzusteigen und die Familie das Schloß verlassen, nur von zwei Dienern begleitet. Aber noch war man im Unklaren, was das zu bedeuten hatte und sehr geneigt zu glauben, es handle sich um einen eiligen Besuch, um eine Besorgung oder dergleichen. Frau Gräfin Margarethe, die schon mit ihrem Sohn, Frau Courcelles und ihrer Tochter im Speisesaal ver sammelt war, fragte Ersteren erstaunt: „Weißt Du, was das bedeutet?" Graf Victor war sehr bleich, Frau Courcelles sehr auf merksam und gespannt, ihre Tochter, wie in letzter Zeit immer, in thränenreicher, elegischer Stimmung. „Keine Ahnung!" antwortete Graf Victor lakonisch. In diesem Augenblick trat Herr Horace Delorme in das Zimmer. Er war noch gemessener, ernster und feierlicher als sonst. „Ah, Herr Delorme", rief Gräfin Margarethe, „Gott sei Dank, daß Sic uns erhalten sind. Sie werden uns Aufschluß geben können über das, was Herrn de Melida und seine Kinder uns so plötzlich entführt? Sie sind ja das alter ogo Seiner Excellenz." Herr Delorme sah zu nächst dem Grafen Victor mit einem langen Blick an. Dann erst, als dieser nichts sagte, begann er mit seiner eigenthüm- lichen breitspurigen Umständlichkeit und gemessenen Deut lichkeit: „Ich habe die Ehre, Eurer gräflichen Gnaden einen Brief seiner Excellenz Don Gracias de Melida zu über reichen." Damit übergab er der Gräfin Margarethe ein Schreiben und blieb ruhig, den Hut in der Hand vor ihr stehen, als ob er durchaus leinen Gedanken habe, als den, seinen Auf trag zu erfüllen. Frau Gräfin Margarethe öffnete das Schreiben und las es. Es war kurz und lautete: „Eurer gräflichen Gnaden habe ich die Ehre mitzutheilen, daß es mir nicht zukommt, noch länger die Gastfreundschaft auf Schloß Heblingen in Anspruch zu nehmen. Ich werde mir gestatten, Ihnen morgen im Laufe des Tages einen Besuch abzustatten, um Ihnen die näheren Gründe dieses Entschlusses darzulegen. Eurer gräflichen Gnaden gehorsamst ergebener Gracias de Melida." Nur die Unterschrift war von der Hand des Herrn de Melida geschrieben. Alles Uebrige war von einem Schreiber des Herrn Delorme, der immer mehrere derselben zu seiner Verfügung hatte, aufgesetzt. Frau Gräfin Mar garethe besah das Schreiben hinten und vorne, war sehr er staunt und reichte es endlich ihrem Sohne. „Verstehst Du das?" fragte sie.
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