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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 14.11.1897
- Erscheinungsdatum
- 1897-11-14
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189711141
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18971114
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18971114
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-11
- Tag1897-11-14
- Monat1897-11
- Jahr1897
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 14.11.1897
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Größere Schriften laut unserem PreiS- vcrzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen »Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbefördcrung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags lO Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bet den Filialen und Annahmestellen je eine halb« Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 582. Sormtag den 14. November 1897. St. Jahrgang. Aus -er Woche. Der Eröffnung unseres Landtages wird binnen zwei Wochen der Zusammentritt des Reichstages folgen, sodaß, da auch der bayerische Landtag versammelt ist, in den Hauptstädten der drei größten Bundesstaaten par lamentarische Arbeit zu bewältigen sein wird. Hoffentlich beeinträchtigt diese starke Belastung den Eifer, der bei den auf eine Wiederwahl rechnenden Reichsboten in den letzten Sessionen der Legislaturperioden sich ein- zustellen pflegt, nicht allzusebr. In der nächsten Tagung würde der schmachvolle Absentismus, wie er sich in diesem 1893er Reichstage eingebürgert hat, besonders hart empfunden werden. In der Militair-Strafproceßordnung und in der Marinevorlage werden dem Hause Entwürfe zugehen, bei denen der Aufklärung der Abgeordneten über Einzelheiten eine besondere Bedeutung zukommt. Hört der einzelne Volksvertreter, besonders in den jedem Mitglieds in der Regel zugänglichen Commissionen, einleuchtende Aus einandersetzungen, so haben die FractionSbelden, die von anderen als sachlichen Gesichtspunkten ausgeben, einen schweren Stand. Sind die meisten Abgeordneten während der Beratbungen abwesend, so machen jene Herren „die Sacke" bequem. Die Einwirkung der Presse ist bei der jetzigen Zusammensetzung des NeichsparlamentS nicht sehr hoch zu veranschlagen; viele Abgeordnete lesen nichts als ein von der Fraktion inspirirtes Blatt, das in einer großen Anzahl von Fällen sogar nur ein Blättchen ist. Bei der Militairstrafproceßordnung, die einen bis jetzt in weiteren Kreisen so gut wie gar nicht gekannten, je doch im Lande der eingewurzelten allgemeinen Dienstpflicht dem Vcrständniß unschwer zugänglich zu mackenden Stoff darstelll, wäre Studieneifer ganz besonders dringend zu wünschen. Die Parteien der Verneinung, für die das Zu standekommen der Reform einen schweren Verlust an Hetz material bedeutet, werden die Welt durch „intimste" Kcnnlniß des Heerwesens überraschen; wie leicht das ist, hat man ja jüngst in der bayerischen Kammer gesehen, wo die Herren oon der e/wlosis. militaus über alle möglichen militairischen Dinge urlheilten, als ob sie wirklich erfahrene Krieger im nicht übertragenen Sinne des Wortes wären. Eine Vorlage, die der vom Reichskanzler gegebenen Zusage entspricht, wird darum noch lange nicht ohne große Schwierigkeiten im Reichstage zu Stande gebracht werden können. Aus diesem Grunde ist es zu bedauern, daß Graf Kan itz gegen eine der Voraussetzungen des modernen Straf verfahrens, die Beseitigung des BestätigungsrechteS, schon jetzt den konservativen Kampf angesagt hat. Das Zusammen arbeiten der gemäßigten Parteien, die dem Heere lassen wollen, was dem Heere ist, wird dadurch nicht gerade gefördert. Numerisch allerdings kann die konservative Opposition in diesem Punkte nicht ins Gewicht fallen; die Conservativen werden völlig allein stehen wie zum Beispiel so manchesmal bei der Beschlußfassung über das Bürgerliche Gesetzbuch. Wir möchten übrigens bezweifeln, daß Graf Kanitz im Namen seiner ganzen Fraktion gesprochen babe und daß insbesondere der Abg. Lutz den Drang in sich verspüre, die Zerstörung der Grundlagen deS bayerischen Verfahrens vor seinen Wählern zu rechtfertigen. Der Marinevorlage gebührt selbstverständlich nickt weniger sachliches Gegenübertreten, als der anderen großen Angelegenheit der kommenden Tagung. Jedem, der den Parlamentarier nicht durchweg zum Handeln nach dem „Grundsatz" sie volo, sie zuboo befugt glaubt, kann die leiden schaftslose Beurtheilung jetzt wirklich nickt schwer fallen. In Cbina sind zwei deutsche Missionare schändlich ermordet, an einem anderen Orte dieses Reiches ist die deutsche Flagge be schimpft worden, der Präsident einer Negerrepublik hat, nachdem einem Deutschen geflissentlich schweres Unrecht zugefügt war, unfern Gesandten beleidigt, in Brasilien ist ein junger Landsmann auf bestialische Weise mißhandelt worden und die dortigen Gerichte zeigen sich in der Verfolgung der Un- that „saumselig". Deutschland aber ist kaum in der Lage, an mehr als einem dieser vier Punkte schleunige Genug- thuung zu verlangen. Die Forderung, daß dies an allen geschehen sollte, hat — das erkennt auch die Centrums presse an—mit „WeltmachtSpolitik-Gelüsten" nichts zu thun. Von Erwägungen, wie sie sich u. A. die Handels kammer von Oberbayern angeeignet hat, ganz zu schweigen. Das Vcrständniß, das die Vertretung der Handels- und Gcwerbeinteressen des am weitesten vom Meere abgelegenen deutschen Gebietes für die wirthschaftliche Seite der Marine frage zeigt, wird von der Demokratie überaus unliebsam empfunden und ist auch deshalb besonders wertbvoll, weil kürzlich eines der führenden Organe des bayerischen Centrums das große Wort ausgesprochen, in Bayern „habe man von der Marine nichts". Für den schließlichen AuSgang der Flotten angelegenbeit hängt Vieles, wenn nicht daS Meiste von der Regierung, „der R e i ch S r e g i e r u n g " ab. Sie scheint sich mit der Betreibung der Reform des Ge richtsverfahrens auf den rechten Weg begeben zu haben, aber die Erfüllung der zweiten Zusage des Reichskanzlers, der zugleich der preußische Ministerpräsident ist, stebt noch aus: dieAufhebung deS Verbotes der Verbindung poli tischer Vereine untereinander. Die Frage ist sehr bedeutend brennender geworden, seit die sächsische Re gierung rund und uett ohne „Compensation" einer Forderung nachgegeben hat, deren Erfüllung in Preußen von einer Minderung der Vereinssreibeit abhängig gemacht war, dir zu der zugestandenen Verbesserung, die bedingungs los verheißen war, in krassem Mißverhältnisse stand. Die Action des Herrn v. d. Necke erfährt durch die sächsische Regierungsvorlage eine Verurteilung, die „diesseits" ganz gewiß nicht beabsichtigt ist, dadurch aber nichts von ihrer Strenge verliert. Sachsen genießt, von Hamburg etwa abgesehen, den traurigen Vorzug, die meisten Socialdemokraten unter allen Bundesstaaten zu besitzen. Sie zeichnen sich ihrerseits bei unö wahrlich nicht durch ein Ver balten aus, das sie weniger gefährlich als anderwärts er scheinen ließe, und ihr schimpfliches Betragen bei der jüngsten Landtagseröffnung beweist aufs Neue, daß sie sich nicht ändern werden. Die sächsische Regierung kann, als sie ihre Zu stimmung zu der Zusage deS Reichskanzlers gab, sich nur von der Ueberzeugung haben leiten lassen, daß das Ver bindungsverbot der Socialdemokratie nicht nur nicht scyadet, sondern daß eS ihr nützt, weil es der Bekämpfung der socialrevolutionären Partei Fesseln anlegt, die für diese wegen ihrer Eigenart tbatsächlich nicht vorhanden sind. Man sagt zwar, das sächsische Vereinsgesetz gestatte die Aufhebung des Verbindungsverbotes, weil es besser sei, als daö preußische. Daß dieses aber den Behörden recht wirksame Mittel zur Ueberwachung und Unterdrückung gefährlicher Vereine und Versammlungen bietet, bat die jüngste Vergangenheit bewiesen. WaS Sachsen kann, kann Preußen also auch, wenn es nur den rechten Gebrauch von seinen Machtmitteln macht. Ja noch mehr: da Sacksen keinen Werth mehr auf das Verbot legt, so kann dieses, gemäß einem wiederholten Beschlüsse des Reichstags, für ganz Deutschland sofort durch den Bundesrath aufgehoben werden, wenn Preußen nicht wiverstrebt. Die deutsche Vormacht muß also künftighin nicht nur für die unnütze Chica- nirung der Parteien im eigenen Lande verantwortlich gemacht werden, sondern auch überall dort, wo der gleiche unleidliche Zustand noch besteht. Jetzt wird die Lage eigentlich noch widerwärtiger, als sie bisher war. Sächsische politische Vereine dürften künftig mit preußischen in Verbindung treten, wenn daS preußische Gesetz eS gestattete. Bliebe dieses aufrecht erhallen, so würde Preußen es sein, das dem Particularismus ein neues Denkmal setzt. Vor ihren Conservativen braucht sich die preußische Regierung wirklich nicht zu fürchten. Selbst die „Post" wagt kein Wort gegen die sächsische Vorlage. Wir harren des Bundesrathsbeschlusses, der reinen Tisch im ganzen Reiche macht, um der Sache, um der Aussichten der Marinevorlage und auch um der nächsten Wahlen willen. Für diese dürfen sick die nationalen Parteien aller dings nicht auf die Regierung allein verlassen, sie müssen selbst energisch an die Schaffung einer Grund lage für das Zusammenwirken gehen. Unsere Partei genossen in Sachsen haben den Anfang gemacht, aber in Sachsen liegen die Verhältnisse allerdings auch günstiger als irgendwo. Anderwärts erschweren die Conservativen die „Sammlung" außerordentlich. Sie sehen ruhig zu und sind wohl (und zwar gilt dies auch von den Freiconservaliven) selbst dabei, wenn die Oberleitung des Bundes der Landwirthe den National liberalen tbut,was die Antisemiten den Conservativen deS Osten? zufügen. Für die Thaten deS Herrn v. Ploetz, der Mitglied ihrer beiden Fraktionen ist, und die des Herrn Hahn, der ihnen als Hospitant angehört, tragen die Conservativen über dies eine gewisse, keineswegs eng bemessene Verantwortung. Statt, wir wollen nur sagen calmirend auf diese Herren zu wirken, hat Graf Kanitz in einer kürzlich gehaltenen, schon oben erwähnten programmatischen Rebe in ruhigem Tone dasselbe vorgetragen, was Jene in un ruhigem Tone zu sagen pflegen. Dieser konservative Führer wandte sich gegen die bestehenden Handelsverträge und gegen jeden künftigen insofern, als er auf den nach ibm benannten Antrag unter Umständen zurückzugreifen drohte. DaS ist eine eigenthümliche Vorbereitung zur Verbesserung der Reichstagsverhällnisse durch einen Zusammenschluß der positiven Parteien, den ja allerdings die „Kreuzzta." nnd viele ihrer Freunde grundsätzlich nicht wollen. Auf dem Dresdener Parteitage wird eS sich Wohl zeigen, ob die deutsch-konservative Partei eine rein ostelbischc mit etlichen „Exklaven", oder ob sie ist, was ihr Name besagt. Die „Nanonalztg." hat aus Anlaß der Wahl in der Wcstpriegnitz die zutreffende Be merkung gemacht, nicht ein „Zug nach links" drücke sich in dem Ergebniß aus, sondern nur ein wachsender Zug der Ver wirrung der politischen Verhältnisse; ein Reichstag, bei dessen Zusammensetzung die Wähler diesem „Zuge" folgten, werde wahrscheinlich Unheil stiften. „Aber", so fügt das Blatt hinzu, „vielleicht müssen wir durch diese Entwickelungsphase hindurch, ehe es besser wird." Vielleicht! Jedenfalls berechtigt der Ausblick auf die Möglichkeit und selbst Wahrscheinlichkeit des Eintritte- einer solchen EntwickelungS-Nothwendigkeit positive Parteien nicht zum Absteben von den größten Anstrengungen, um die Dinge diesen Gang nicht gehen zu lassen. Ein Fatalismus, der dazu beitrüge, daß wir nächstes Jahr einen Reichstag hekämen, noch schlechter als der jetzige, würde sich schwer rachen. Fünf Jahre ist eine lange Zeit, namentlich unter so ungewöhnlichen Regierungsverhältnissen, wie sie jetzt herrschen, und es steht viel auf dem Spiele. Feurlletsn. Ein Regierungswechsel in Preußen vor Ivtt Jahren. Von Robert Berndt. Nachdruck verboten. „Wie geht's dem König?" Das ist die große Frage, die seit Wochen alle Unterhaltungen in der königlich preußischen Haupt- und Residenzstadt beherrscht. Die Zeit der winterlichen Vergnügungen hat begonnen; im Na- tivnaltheater und in der Oper, bei den Ressourcen und Kränzchen tlifft man sich in der üblichen Weise. Aber die Ausgelassenheit, die frivole Ausgelassenheit, die das Berliner Leben sonst kenn zeichnet, kann nicht recht zu Athem kommen. Ein Druck liegt auf Allen, eine dumpfe Sorge. Was bedeutete nicht ein Regierungs wechsel vor 100 Jahren, als das Staatsleben noch patriarchalisch gestaltet war! In das ganze bürgerliche Leben griff er tief ein; wer heute stand, konnte morgen eine gefallene Größe sein; wen man heute diensteifrig suchte, mußte man anderen Tags vielleicht ängstlich meiden. Und man wußte, die große Umwälzung stand nahe bevor. Widersprechend klangen wohl die Nachrichten, die aus Potsdam herüber kamen; aber im Ganzen lautete die Ant wort auf die Tagesfrage: „Wie geht's dem König?" doch trüber und immer trüber. War es wirklich erst 11 Jahre her, daß der königliche Philo soph in der Einsamkeit von Sanssouci seine strengen Augen ge schloffen hatte? Damals war es wie eine Last von den Herzen gefallen. Die Persönlichkeit des Gewaltigen hatte sie Alle ge drückt; es ging so streng und scharf in Preußen her, daß gerade besonders die nach größerer Bewegungsfreiheit verlangenden besseren Stände täglich mißvergnügter wurden. Wie hatte man dem neuen Herrn zugejubelt, der so viel Liebenswürdigkeit, so viel natürliches Wohlwollen zeigte, der aus seinen schönen blauen Augen so freundlich blickte! Da hatte eine Zeit der Lebensfreude und Freiheit begonnen... Nun war ein Jahrzehnt ins Land gegangen; und wie war Alles verändert! Die Lebensfreude war in wilde Zügellosigkeit ausgeartet, Berlin war als Europas sitten loseste Stadt berüchtigt, GUnstlingswirthschaft (in dieser Form ganz unerhört in Preußen, und in jeder Form seit den Tagen Friedrich's I. unbetannt) umgab den Thron. Der Staat der Pflicht und Arbeit, wenn auch äußerlich durch große Gebietser weiterungen gehoben, Ivar innerlich im Verfall, Alles ging aus den Fugen, und die Ernsten und Guten standen zornig abseits von dem Taumel, in dem das Land dahinlebte. Auch durch das Hofleben ging dieser tiefe Riß. Drüben in Potsdam der König, umgeben und streng gehütet von seiner Gräfin Lichtenau, der ehemaligen Rietz, ihrer Sippe und ihrer Familie. Hier im Berliner Schlosse der junge Kronprinz mit seiner Gattin, dessen Sittenreinhcit die Stellung der einstigen Citronen- und Kienäpfelverkäuferin verabscheute und der, obwohl von Natur wahrhaft gütig, sie haßte, seitdem der König den Bitten der Lichtenau nachgegeben und das kronprinzliche Paar zur Befriedigung ihres Stolzes gezwungen hatte, auf einem ihrer Feste zu erscheinen. Das sind zwei getrennte und unversöhnliche Welten; wie werden sie Zusammenstößen?... Auch am kronprinzlichen Hofe beherrscht die Frage: „Wie geht's dem Könige?" jedes andere Interesse. Die Zimmer der guten alten Oberhofmeisterin Gräfin Voß werden den ganzen Tag von Fragern nicht leer, sehr zum Kummer der würdigen Dame, die die Regelmäßigkeit und die Ruhe liebt. Der Kron prinz, von jeher still, ja fast scheu, ist noch einsilbiger als ge wöhnlich. Er weiß, was bevorsteht. Seit er den König bei seinem Geburtstage (24. September) in Berlin gesehen hat, abge magert, gebückt, verfallen, seit er ihn wenige Tage darauf — es sollte sein letzter Besuch in der Hauptstadt sein — an der Festtafel zu Ehren der künftigen Königin von Schweden einschlafen sah, weiß er, daß sein Vater vom Engel des Todes gezeichnet ist. Eine Woche später besucht er ihn in Potsdam: welch ein Anblick! Der König kann nur noch so leise sprechen, daß man ihn kaum ver steht; die Athemnoth plagt ihn entsetzlich, immer muß er den Mund offen halten. So geht der König ins Theater; ein er schütternder Gegensatz: unten auf der Bühne die singenden bunt gekleideten Mimen, in der Loge der ringende keuchende Fürst! Ist der Kronprinz über diesen Zustand tief bekümmert, denn er ist ein guter Sohn und liebt seinen Vater zärtlich, so drückt ihn noch ganz besonders das unnatürliche Verhältniß, die Trennung von ihm, die die Lichtenau streng durchführt. Und dann — seinem bescheidenen Geiste erscheint die ihm bevorstehende Auf gabe erschreckend groß, erschreckend verantwortlich. Ab und zu entringt sich seiner Seele ein Geständniß. Seinem alten Lehrer Behnisch sagt er einmal niedergeschlagen: „Ich habe den besten Willen, gut zu regieren, aber ich fühle, daß ich noch nicht alle hierzu erforderlichen Kräfte und Erfahrungen besitze." So schleichen am Berliner Hofe die Tage trübe hin. Und dabei gehen die officiellen Diners und Festlichkeiten immer weiter; und indeß das arme Lebenslicht des Königs langsam erlischt, wird der volle Glanz der fürstlichen Repräsentation aufrecht er halten. „Das finde ich zu stark in diesem schrecklichen Augen blick", seufzt die Gräfin Voß. * * * Im Neuen Garten zu Potsdam sieht es traurig aus. Der Herbststurm hat die schönen alten Bäume entblättert und kahl strecken sie die Arme zum grauen Himmel empor. Das Mar morpalais, das sich im Sommersonnenstrahl so kokett und fröhlich in den blauen Fluthen des Heiligenseees spiegelt, scheint sich jetzt fröstelnd zusammenzukauern. Es ist feucht, kalt und unwirth- lich ums Marmorpalais, wenn der rauhe Novemberwind es um heult und pfeifend Uber das Wasser hinfährt. Und kalt und unwirthlich ist es auch um den Mann, der in seines Lebens Glanzzeit sich dies schmucke Haus erbaut hat. König Friedrich Wilhelm II. kennt sein Schicksal. Er ahnt es wenig stens; beim jüngsten Todesfall in der königlichen Familie hat er melancholisch geäußert: „Jetzt gilt es mir"; er fühlt, wie die kalte Todeshand höher und höher greift. Aber er spricht nicht gern von seiner Krankheit. Sind die schweren Anfälle von Athemnoth überstanden, dann spricht er von seinen Feldzügen am Rhein und von dem denkwürdigen Tage von Valmy, und was er in Polen für schlechtes Wasser habe trinken müssen; und dann sagt er wohl seufzend, die Feldzüge hätten seine Gesundheit untergraben. Er denkt nicht gern an den Tod, denn sein Herz — von Natur ein unendlich weiches, gütiges Herz — ist schwer. Die ihm dem Blute nach die Nächsten sind, werden von ihm fern gehalten. Er möchte den Sohn und die schöne Schwiegertochter und die beiden Enkelchen gern öfter sehen, aber die Gräfin erlaubt es nicht. Sie selbst ist unausgesetzt um ihn, pflegt, unterhält, tröstet ihn und führt ihm ihre gemeinsamen Kinder zu, die er zärtlich herzt und küßt. Aber all' dies kann die Schatten nicht verjagen, die ihm das bischen Leben verdüstern. Anfang Oktober war eine Besserung in seinem Befinden ein getreten. Da hatte der Professor Hermbstädt eine neue ganz moderneBehandlungsart in Anwendung gebracht: die Behandlung mit „Lebenslust", d. i. mit Sauerstoff, der im Zimmer verbreitet wurde. Der König hatte Erleichterung gefühlt, und menschen freundlich wie er war, gewünscht, daß auch bei anderen Kranken dies segensreiche Verfahren angewandt wurde. Aber die Besse rung hielt nicht lange an. Die Aerzte, die am 12. Oktober zum Consilium zusammenkamen, gestanden einander, daß alle Hoff nung geschwunden sei. Schwere Tage kamen, die Leiden des un glücklichen Fürsten wurden immer schrecklicher. Er beherrschte sich nach Kräften; nur wenn's gar zu schlimm wird, entfährt ihm ein Schmerzensschrei und er sagt zu dem treuen Generalchirurgen Görke: „Ich bin ein Mensch und muß wie ein anderer Mensch leiden; aber ich bitte Gott, daß er meine Leiden möge ertragen helfen." Am 15. Nov. kommen seine Gemahlin und sein Sohn zum Besuch. Es ist ein Abschiedsbesuch; es geht zu Ende. Wie sie gehen wollen, ergreift der Kranke ihre Hände und hält sie lange schweigend fest. Zieht in diesem Augenblicke die Vergangenheit an ihm trüben Antlitzes vorbei? Denkt er der Thränen und der Vereinsamung seiner zurückgesetzten Gattin, des Kummers seiner Kinder? Sieht er die, die seine Leidenschaft gefesselt, die schöne Gräfin Voß, die üppige Lichtenau? Nun liegt das Alles hinter ihm; eine strenge Richterin wird einst das Facit seines Lebens ziehen, aber Eines, das ist sein Trost, wird sie ihm immer gut schreiben: das Streben nach dem Guten. Als die Königin und ihr Sohn das Palais verlassen, macht ihnen der Generalchirurg kein Hehl daraus, daß der König den nächsten Tag nicht überleben wird. Auch die Lichtenau weiß es. Sie ist verschwunden, sie zeigt sich diesen letzten Tag nicht mehr. Ihr Spiel ist zu Ende, ein Höherer überwindet sie, die Jahre lang über so mächtige Feinde triumphirt hat und selbst jetzt mit trotzigem Selbstbewußtsein der unsicheren Zukunft entgegensieht. Der König bleibt allein — allein in seinen schwersten Stunden. Nur ein Diener ist in der Todesstunde bei ihm, ganz so, wie bei seinem großen Vorgänger und Ohm. In schrecklicher Todesangst beschwört der Sterbende den Kammerdiener, ihn nicht zu ver lassen ... Als der Novembermorgen grau in die hohen Fenster hinein schaut, am 16. November, morgens 8Z Uhr, haucht König Fried rich Wilhelm II. seinen letzten Athemzug aus. Der Minister Graf von Haugwitz versiegelt sofort die königlichen Zimmer; eine Wache von 30 Mann beseht den Neuen Garten. Auf der Chaussee nach Berlin jagt die Estafette zum Kronprinzen — zum neuen König. * -!- * Schon um 1 Uhr ist König Friedrich Wilhelm III. im Mar morpalais, wo er den Vater bereits in der Uniform des ersten Bataillons Garde aufgebahrt findet. Eine Zeit lang weilt er allein bei der Leiche. Dann erscheint er wieder und trifft seine ersten Maßregeln. Einer seiner ersten Befehle geht dahin, die Gräfin Lichtenau in ihrem Palais zu verhaften und unter Be wachung zu stellen. Die neue Zeit hat begonnen. Aber ihr Führer fühlt nun, nachdem das Erwartete eingetreten ist, die Größe und Schwere seiner Aufgabe mit verdoppelter Wucht. Be drängten Herzens schreibt er an seinen Freund, den General- Adjutanten Major von Köckeritz einen merkwürdigen Brief, in dem er ihn bei seiner Freundschaft verpflichtet, ihm mit Treue zur Seite zu stehen und freimüthig seine Meinung zu sagen. „Ich bin ein junger Mensch, der die Welt noch immer zu wenig kennt, um sich gänzlich auf sich selbst verlassen zu können." Inzwischen ist die Nachricht auch in Berlin eingetroffen. Die Gräfin Voß war noch im Pudermantel, als sie sie um 1 Uhr er hielt. Da wurde die gute Dame so erregt, daß sie selbst die sonst ihr so theure Etikette vergaß und, wie sie stand und ging, zu ihrer neuen Königin eilte. „Die Radziwill's waren bei ihr und wir weinten Alle vereint um ihn." Dann eilte Luise zur Königin- Wittwe, um sie zu trösten; und „alle Tröstungen der Religion und Philosophie", wie es im Stile der Zeit heißt, wandte sie der Be trübten zu. Aber ungleich größer, als bei Hofe, war die Erregung in der Stadt. Die Berliner sind wie im Fieber. Die Thore sind ge sperrt. Niemand darf hinaus. Was geschieht? Die Armee soll den Eid leisten, antworten die Eingeweihten. Aber noch hat sie nicht geschworen, da erscheinen vor dem Hause der Gräfin Lichtenau Unter den Linden zwei Unterofficiere und 16 Mann und besetzen es. Nun ist der Bann gelöst — man weiß, woran man ist. Mit Windeseile durchfliegt die Neuigkeit die Stadt; bald erfährt man auch, daß die Gräfin selbst im Cavalierhause zu Potsdam in strenger Haft gehalten wird. Ein allgemeiner Jubel empfängt diese Nachrichten; als sie in die beliebte „Theer- buschische Ressource" dringen, erhebt sich ein Freudenruf: „Es lebe Friedrich Wilhelm HI., der Gerechte!" Und diese frohe Stimmung hält an. Selbst das ernste Trauergepränge der Aufbahrung der Leiche im Schlosse und die Vorbereitungen zur Beisetzung vermögen sie nicht zu beeinträch tigen. Denn jede neue Nachricht erhöhte das Gefühl, daß eine neue Zeit der Würde und des Ernstes begonnen habe. Mit Begeisterung erzählte man sich, daß der König, als die Geschwister „Seiner Majestät" huldigen kamen, ihre Wünsche dankbar an nahm, im Ucbrigen aber „Bruder Fritz" zu bleiben erklärte, daß er, als gleich nach der Thronbesteigung zwei Schüsseln mehr auf dem Küchenzettel angesetzt wurden, den Küchenmeister gefragt habe, ob er glaube, daß er seit gestern einen größeren Magen bekommen habe. Man sah ihn nach wie vor täglich allein oder in Begleitung seiner holdseligen Gemahlin den ge wohnten Spaziergang unternehmen. Alles zeugte davon, daß nicht nur die Lichtenau, sondern auch ihr ganzer Geist gründlich beseitigt sei. Acht Tage nach dem Regierungsantritte erging seine be rühmte Cabinctsordre, die auf die Entfernung der untauglichen Subjekte drang, die sich in die Verwaltung eingeschlichen hätten. Nicht lange darauf folgte die Einführung einer strengen Controle im Finanzwesen, folgte Bischoffswerder's und Wöllner's Ent laffung. Als Friedrich Wilhelm II. am 11. Deccmber bcigeseht wurde, war seine Zeit schon zu Grabe getragen. Schon rauschte die Welle der Vergessenheit über ihn hin. In Berlin war bereits das Ehrsam - Bürgerliche in Mode gekommen, die Schwelger und Verschwender mieden die Oeffentlichkeit, und der Kämmerer Rieh lebte wieder, wo er hingehörte: im Dunkel. Der König und die Königin aber wurden auf ihrer Huldigungs fahrt mit einer fast unerhörten Begeisterung empfangen. Zum Rächer der Unschuld, Zum Schutz der Verlassenen, Zum Vergelter der Tugend, Zum Vater des Voltes Schuf ein Augenblick, Erhabner Jüngling, Dich, — rief bedeutungsreich rin zeitgenössischer Dichter dem jungen König zu.
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